Am Sonntag, dem 18. November fand auf dem Dormagener Ehrenfriedhof die Gedenkfeier zur Erinnerung an die Toten der beiden Weltkriege statt. Der Autor Eduard Breimann, der gebeten worden war, die Gedenkrede zu halten, beließ es nicht bei diesem Gedenken, sondern weitete das Thema deutlich aus.

Auf vielfachen Wunsch wird die Rede nunmehr vom Menüpunkt "Termine" unter Gedankensplitter weiter veröffentlicht. Ich freue mich, dass so viele Besucherinnen / Besucher meiner Seiten diesen Text gelesen haben. Das macht Mut. 

Hier nun der Text der Rede: 

 

Rede zum Volkstrauertag

 Zentralfeier am 18. November 2007, 12.00 Uhr

Ehrenmal Dormagen Mitte

Eduard Breimann

 

Sehr geehrter Herr Bürgermeister, sehr geehrte Damen und Herren!

 

Alljährlich gedenken wir am vorletzten Sonntag des Kirchenjahrs, am Volkstrauertag, der Opfer von Krieg und Gewalt, trauern um die Toten der beiden Weltkriege, um die Soldaten, die gefallen sind, um die Frauen, Männer und Kinder, die ihr Leben lassen mussten.

Wir gedenken und wir trauern!

 Ich heiße Sie zur diesjährigen zentralen Gedenkfeier der Stadt Dormagen willkommen und danke allen, die durch ihre Anwesenheit zur würdigen Gestaltung dieser Feier beitragen.

 Sehr geehrte Damen und Herren, wir begehen den „Volkstrauertag" und ich sagte gerade: Wir sind hier, um zu gedenken und zu trauern. - Hier halte ich inne. -  Trauern wir wirklich?  Es sagt sich so leicht. Wir trauern! Aber ist es wahr? Trauern wir? Volkstrauertag! Trauert heute unser ganzes Volk?

 Nein, natürlich nicht. Von Ausnahmen abgesehen, trauern doch überwiegend nur jene Frauen und Männer, die in ihrer Jugend den Krieg und die Nazidiktatur selbst miterlebten und damals nahe Verwandte verloren haben - Eltern, Geschwister, Onkel und Tanten oder sogar eigene Kinder.

Die anderen, wir anderen? Trauer ist so persönlich, so eng verbunden mit eigenem Verlust. Der Tod anderer? Der Verlust, den fremde Menschen erlitten haben? Wie ist es denn? Was nehmen wir wahr, wenn das Fernsehen uns mit Gewalt, Tod und Grauen füttert?

 „Mehr als 3.000 Tote! Wahnsinn! Diese Mörder! Unschuldige Menschen!"

Oder:

„Ach Gott! Schlimm, was sich da im Irak, in Afghanistan wieder ereignet hat. Hast du's in der Tagesschau gesehen? Hundertfünfzig Tote! Was sind das bloß für Fanatiker!"

Was fühlen wir dabei? Entsetzen? Ja. - Mitgefühl? Vielleicht. - Trauer? Eher nicht.

Trauer als inflationäres Gefühl, Trauer auf  Kommando? Das geht nicht. Dazu sind wir nicht fähig.

 „Die Unfähigkeit zu trauern" - so lautet der Titel eines Buches, das vor etwas mehr als 40 Jahren erschien und damals großes Aufsehen erregte. Verfasser waren die beiden Psychoanalytiker Alexander und Margarete Mitscherlich. „Die Unfähigkeit zu trauern" - wie passt dieses inzwischen geflügelte Wort zu einer Gedenkstunde am heutigen Volkstrauertag?

Es passt wohl leider zu gut. Für mich war die Wiederbegegnung mit dieser bekannten Formel ein Anlass, darüber nachzudenken, was uns der Volkstrauertag heute, gut 62 Jahre nach dem Ende des letzten Weltkrieges, noch zu sagen vermag.

Sind wir unfähig zur Trauer?

Trauern ist Therapie. Haben die Autoren Recht, wenn sie sagen: „Diese notwendige Therapie scheitert aber daran, dass es uns wirtschaftlich zu gut geht - sogar besser als früher. Es fehlt der Leidensdruck."

Das ist wohl nur einer der Gründe. Als im Jahr 1919 der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge vorschlug, einen Gedenktag für die gefallenen deutschen Soldaten des Ersten Weltkriegs einzuführen, da waren die Trauer um die Toten und das schmerzliche Gefühl des Verlustes noch nicht einmal ansatzweise bewältigt oder verarbeitet. Die seelischen Wunden lagen offen. Man konnte trauern, man musste trauern, um die Selbstheilung zu erreichen.

Nach dem 2. Weltkrieg war es ähnlich. Aber das ist lange her. Ist dieses offen gezeigte Gedenken noch zeitgemäß? Immer häufiger heißt es nun, wir müssten - im Interesse der Jugend - endlich einen Schlussstrich ziehen unter die Schrecken zweier Weltkriege und unter die ständigen Anläufe zur Vergangenheitsbewältigung:

 „Schluss mit dem Blick zurück!"

„Schluss mit der Trauer und der Besinnung!"

Brauchen wir also künftig noch ein gemeinsames Gedenken an Ereignisse, die zunehmend weniger Menschen aus dem persönlichen Erleben kennen? Dient es nur noch der Traditionspflege? Ist es ein hohles Ritual geworden, das eine Hand voll Männer und Frauen alljährlich vollziehen? Soll also Schluss sein damit?

Ich sage ein klares „Nein!"! zu einem solchen Schlussstrich. Es wäre ein Ausstieg aus der Geschichte, es bedeutete das Verdrängen des Grauens, das die deutsche und europäische Geschichte im 20. Jahrhundert geprägt hat - vielleicht wäre es sogar der erste Schritt zu neuem Hass.

 Wir brauchen den Blick zurück, um unsere Verantwortung für das Geschehene zu erkennen und daraus Konsequenzen für unser Handeln abzuleiten. Wenn persönliche Erfahrung und Betroffenheit mit den Kriegsgenerationen und der Erinnerungsgeneration verschwinden, brauchen wir umso mehr gemeinsame Gedenktage wie den Volkstrauertag.

Allerdings! Wir müssen neue Wege für zeitgemäße Formen der Erinnerung finden, um der Würde der Opfer willen, und um die Schlussfolgerungen lebendig zu halten.

Wir erinnern daher mit Blick auf die Gegenwart und die Zukunft an diesem Tag bewusst an alle Opfer der beiden Weltkriege und der gegenwärtigen Kriege weltweit - an die Opfer des politischen Terrors und der Katastrophen unserer Tage.

Wir ziehen also keinen Schlussstrich, vielmehr sind wir gefordert, die Kultur des gemeinschaftlichen Trauerns, des aktiven Erinnerns und Gedenkens weiter zu entwickeln, damit sie nicht in leeren Ritualen erstarren.

Erinnern ist so wichtig wie nie zuvor! Von Gedenktagen wie dem Volkstrauertag können nur so Signale für eine friedlichere Zukunft ausgehen. Wirkliche Trauer darf nicht passiv bleiben. Wir müssen sie vielmehr auch begreifen als Anregung zum eigenen Handeln, als motivierende Kraft zum Einsatz für den Frieden. Die Trauer erfüllt erst dann ihren umfassenden Sinn, wenn wir sie als Aufforderung zum Handeln verstehen - Handeln gerade im Sinne derer, um die wir heute trauern.

 Opfer des Krieges waren und sind Kriegsbegeisterte ebenso wie Kriegsgegner - und vor allem auch Gegner der Gewalttaten des menschenverachtenden nationalsozialistischen Rassenwahns.

Den Gegnern und den Ohnmächtigen standen und stehen hasserfüllte Mörder und Schreibtischtäter, Verblendete und Verführte gegenüber; aber auch jene, die aus Gleichgültigkeit oder Angst die Augen verschlossen hielten vor dem, was auf den Schlachtfeldern, in den Lagern der Zwangsarbeiter und in den Konzentrationslagern geschah.

Jeder getötete Soldat, jeder verhungerte und erfrorene Flüchtling, jeder zu Tode gequälte Zwangsarbeiter - in ebensolcher Weise aber auch jeder Mann, jede Frau, jedes Kind, die wegen ihrer Herkunft, ihrer Rasse, ihres Geschlechts, ihrer Religion oder ihrer politischen Ansichten ermordet wurden, verlangen von uns, Gewaltherrschaft abzuwehren, Zivilcourage und Toleranz zu üben; jegliche Gewalt und den Krieg als Mittel der Politik zu ächten.

Millionenfach wurde die Würde des Menschen mit Füßen getreten, missachtet und lächerlich gemacht.

„Die Würde des Menschen ist unantastbar", sagt unser Grundgesetz.

Wir müssen uns bei jeder Gelegenheit, auch bei dieser Gedenkfeier, diesen Satzes aus dem Grundgesetz bewusst machen und uns an ihn erinnern, wenn Fremde gejagt, geschlagen, getreten, lächerlich gemacht und als Untermenschen tituliert werden. Auch sie sind vollwertige Menschen - auch sie haben Anspruch auf die Unverletzlichkeit ihrer Würde.

Umfassende Friedensarbeit - das ist der ethische Auftrag der Ermordeten und Getöteten, der ihrer Würde beraubten Menschen. Diesen Auftrag immer wieder zu erneuern, ist Sinn des Volkstrauertages.

Ich zitiere den früheren Bundespräsidenten Gustav Heinemann:

„Der Krieg ist kein Naturgesetz, sondern Ergebnis menschlichen Handelns. Auch der Frieden ist kein Naturgesetz - auch das haben wir erlebt. Ist er eine Illusion?"

Er ist es nicht! Nach zwei Weltkriegen und 60 Millionen Toten, haben uns die vergangenen Jahre gerade in Europa hoffnungsvolle Perspektiven eröffnet. So wächst heute Europa wieder zusammen, lässt Kriege unwahrscheinlich werden.

Zugleich machen uns jedoch neue Konflikte bewusst - in Europa wie darüber hinaus - dass durch politische und militärische Allmachtsphantasien und Gewaltbereitschaft die systematischen Menschenrechtsverletzungen, die religiöse Verfolgung, der Rassenwahn und der Völkerhass keineswegs verschwunden sind.

Gewaltszenen aus anderen Ländern erschüttern uns - aber sie müssen auch Mahnung sein, alles zu tun, es erst gar nicht so weit kommen zu lassen. Wir müssen uns bemühen, durch frühzeitige Erziehung zum friedlichen Zusammenleben, durch vielfältige Integrationsprojekte, durch kraftvolle und gute Jugendarbeit - wie sie vom BSV betrieben wird - der Aus- und Abgrenzung den Boden zu entziehen.

Das ist eine große Herausforderung, der wir uns stellen müssen, und eine ebenso große Chance für das friedliche Zusammenleben von Menschen aus vielen Ländern dieser Erde, die als Fremde, die wir heute Migranten nennen, unter uns leben. Möge sich bei jedem Wort des Hasses, der Abneigung, des Ablehnens, ein Schild vor unser Gesicht erheben, auf dem steht:

„Die Würde des Menschen ist unantastbar!" - Und auf dem nicht steht: „Die Würde der Deutschen ist unantastbar!"

Tun wir es nicht, fangen wir hier nicht damit an, dann züchten und unterstützen wir den Hass gegen andere, gegen fremde Menschen - und dann wird alles wieder möglich.

In ihrem Gedicht "Hass" warnt die polnische Literaturnobelpreisträgerin Wisława Szymborska eindringlich davor, sich in falscher Sicherheit zu wiegen. Dort heißt es:

Seht her, wie gut er sich hält

 in unserem Jahrhundert,

der Hass.

Die Ursachen, die ihn am Leben halten,

gebiert er selbst.

Schläft er ein, dann nie für ewig.

Schläft er ein, dann nie für ewig.

Zu neuer Mission ist er allzeit bereit.

Wenn er warten muss, wartet er.

Blind sei er, sagt man. Blind?

Er hat ein Scharfschützenauge

 und zielt verwegen in die Zukunft -

er allein."

Hunger, Terror und Kriege unserer Tage zeigen uns immer wieder, dass der Hass lebendig ist. So lange Menschen immer noch glauben, politische, wirtschaftliche, ethnische oder religiöse Konflikte mit Waffengewalt lösen zu können, so lange muss die Arbeit für den Frieden weitergehen. Dieser Friedensarbeit ist auch der Volkstrauertag gewidmet; wir haben die Pflicht, ihn beizubehalten.

Diese Aufgabe werden wir auch in den kommenden Jahren mit aller Kraft fortführen müssen. Mit echten Gefühlen, ohne ins Abwickeln einer Routineveranstaltung zu verfallen. Mit echtem Verlangen, dem Hass und der Gewalt ein Zeichen entgegen zu halten. Mit wirklicher Trauer über das, was möglich war und was geschehen ist.

Die Trauer erfüllt erst dann ihren umfassenden Sinn, wenn wir sie als Aufforderung zum Handeln verstehen - im Sinn derer, um die wir heute trauern. Es sind die Erinnerungen an die einzelnen Opfer des nationalsozialistischen Kriegs- und Rassenwahns, die an diesem Tag besonders weh tun - der Verlust von Vater, Mutter, Bruder, Schwester, Sohn, Tochter, von Freunden und Nachbarn, von Familie, der Verlust der Heimat.

Umfassende Friedensarbeit - das ist der ethische Auftrag der Ermordeten und Getöteten. Diesen Auftrag zu erneuern, das ist der wahre Sinn des Volkstrauertages.

Der Volkstrauertag ist ein Tag der Mahnung, ein Tag "gegen das Vergessen", aber vor allem ein Tag für eine Zukunft in Frieden - ein Tag der Hoffnung.

Lassen Sie uns in diesem Sinne der Toten gedenken und die Opfer ehren. Deshalb gedenken und trauern wir: damit wir ihnen allen die Würde zurückgeben, die sie verloren haben.

 

Wir gedenken

der Soldaten, die in den Weltkriegen starben, der Menschen, die durch Kriegshandlungen oder danach in Gefangenschaft, als Vertriebene und Flüchtlinge ihr Leben verloren.


Wir gedenken derer,

die verfolgt und getötet wurden, weil sie einem anderen Volk angehörten, einer anderen Rasse zugerechnet wurden oder deren Leben wegen einer Krankheit oder Behinderung als lebensunwert bezeichnet wurde.


Wir gedenken derer,

die ums Leben kamen, weil sie Widerstand gegen Gewaltherrschaft leisteten, und derer, die den Tod fanden, weil sie an ihrer Überzeugung oder ihrem Glauben festhielten, weil sie als Zwangsarbeiter billig ersetzbar waren.


Wir trauern

um die Opfer der Kriege und Bürgerkriege unserer Tage, um die Opfer von Terrorismus und politischer Verfolgung, um die Opfer sinnloser Gewalt, die bei uns Schutz suchen.


Wir trauern

mit all denen, die Leid ertrugen und ertragen.

 Doch unser Leben steht im Zeichen der Hoffnung; auf Versöhnung unter den Menschen und Völkern. Und unsere Verantwortung gilt dem Frieden unter allen Menschen.

Lassen Sie mich mit einem Satz von Martin Luther King schließen:

"Wir haben gelernt, wie die Vögel zu fliegen,
wie die Fische zu schwimmen,

doch wir haben die einfache Kunst verlernt,
wie Brüder zu leben."

 

Ich danke Ihnen für die Bereitschaft zum Zuhören und hoffe, etwas in Ihrem Innern angesprochen zu haben, was sie mit Mut und Kraft nach Außen zeigen und vertreten werden.

 

© Eduard Breimann