Die Bedeutung einer Lesung als Quelle des Wissens, der „Worte aus erster Hand", mit verlässlichem Material über die Ansichten des Autors, jenseits von Fiktion, von oberflächlichen, oft nur gestreiften Ansichten, die ein Roman oder eine Erzählung wiedergeben, darf nicht unterschätzt werden.
Sie ist wichtig für den Leser, den Literaturinteressierten. Sie gibt ihm zum Buch - das er hoffentlich kauft - ein Bild und einen Eindruck von dem Menschen, der dieses Buch, seine Personen, seine Geschichte und seine Handlung erfunden, beschrieben und gestaltet hat. Er kann nachfragen, kann dabei seine Fachkenntnis zeigen und überhaupt belegen, dass er es bereits gelesen hat, dieses neueste Werk des bekannten Autors. Und er kann um ein Signum bitten. Er wird es garantiert tun.
Sie ist wichtig für den Autor. Bisher saß er einsam im stillen Büro - ausgenommen das Summen der PC-Elektronik - und war versunken in die Landschaft, die Figuren und Handlungen seiner Fiktion. Er sprach mit diesen fiktionalen Personen, lenkte und führte sie, ließ sie sterben, leiden oder glücklich sein. Ein Feedback, etwa eine Antwort auf die Frage „Ist das so gut?", oder gar eine Korrektur gab es dabei nie. Kein Lob und keine Kritik. Die kam erst, als er dem Verlag das Manuskript auf den Schreibtisch warf. Nun ja. Kritik! Ein einzelner Mensch! Oder zwei bis drei? Und dazu mit besonderen Interessen gesegnet. Wirtschaftlichkeit! Ist das Thema on Vogue? Was kostet es uns? Was wird es uns bringen? Wie vermarkten wir es am besten?
Und
nun sitzt der Autor in einem Sessel, warmes Licht strahlt von hinten
auf sein spärlich behaartes Haupt, beleuchtet das aufgeschlagene Buch.
„Hätte
ich doch lieber einen legeren Pullover angezogen? Eine Pfeife im
Mundwinkel würde Lässigkeit dokumentieren. Schade, dass ich
Nichtraucher bin!"
Vor ihm sitzen Menschen im Halbdunkel! Viele -
hoffentlich sehr viele! Sie flüstern miteinander, lachen. Sie starren
ihn an, reglos.
„Lachen sie über mich? Haben sie es schon gelesen?"
Einer
blättert tatsächlich in einem Buch, das garantiert das ist, aus dem er
gleich lesen wird. Der Mann hat gelbe Merkzettel ins Buch geklebt. Sein
Gesicht wirkt kalt, berechnend. Ein Feind? Etwa Undercoverpresse?
„Oh, mein Gott! Was will der von mir?"
Weiter
hinten hockt ein Mann sprungbereit auf der Stuhlkante. Notizzettel in
der Linken, Digitalkamera in der Rechten. Die Presse. Da! Noch einer!
„Was werden die schreiben? Werden sie schreiben?"
Endlich
die Einleitung durch den Gastgeber - wahrscheinlich ein Buchhändler
-, der als Moderator fungiert, mit warmen Worten, mit Hinweisen auf
weitere Lesungen, dann auf Veröffentlichungen, auch auf Bücher des hier
sitzenden und unglücklich lächelnden Autors, das Publikum anspricht.
„Mann, mach's kürzer! Ich bin die Hauptperson! Und nicht der Autor, der in vier Wochen hier liest."
„Dann wollen wir mal beginnen. Das Wort hat der Autor."
Das
hat er und er muss es zunächst finden, dann, nach einem Moment
verzweifelter Stille, durch einen lange geübten Einleitungssatz
dokumentieren, dass er es gefunden hat.
Endlich stürzt er sich in
sein Buch, schlägt die Seite auf, mit der er beginnen will - die auch
mit gelben Merkzetteln markiert ist. Er schaut ins Publikum.
Hochgereckte Gesichter, versammelte Aufmerksamkeit, unsägliche Stille.
„Was
erwarten sie von mir? Werde ich sie fesseln können? Sie enttäuschen?
Habe ich die richtigen Leseproben erwählt? Lese ich akzentuiert genug?
Laut genug? Wirke ich lässig oder gestresst?"
Er liest!
Weitere Kostproben,
erneute Blicke ins Publikum. Forschendes Pausieren. Sind sie
gelangweilt? Müde? Was macht der mit dem Merkzettelbuch?
Der letzte
Satz! Hörbares Aufatmen - im Publikum. Die Stühle sind hart und
unbequem. Die Lesezeit war zu lang. Das Licht flammt auf.
Der
Moderator steht neben dem Autor. Fragen? Hoffentlich gibt es Fragen.
Der Autor ist präpariert, hat bestimmt auf alles eine Antwort.
Ein lang gezogene Frage, die die Antwort bereits enthält. Dann noch
eine. Eine Gute! Der Autor ist glücklich. Das kam genau richtig.
Fertig!
Blitzlichter! Einhundert Fotos vom matt dasitzenden Autor.
„Das Buch etwas höher, bitte! In die Kamera schauen. Gut so!"
Small Talk im Nachgang. Ein Glas Wein gefällig? Kleine Gruppen bilden sich,
leise Gespräche. Sie verstummen, wenn der Autor erscheint.
„Nun? Hoffentlich haben Sie viel Erfolg."
„Wie lange haben sie daran gearbeitet?"
"Haben Sie das alles erfunden?"
„Haben Sie schon was Neues in Arbeit?"
„Ein guter Tropfen von der Ahr!"
„Hat es Ihnen gefallen?"
„Sagen Sie, gibt es das in Wirklichkeit?"
„Würden
Sie mir was ins Buch schreiben? Habe ich gerade gekauft. Ist für meine
Tochter. Die ist vierzehn! Sagen Sie! Darf die das schon lesen? Ich
meine nur ... Sie haben da was geschrieben ... ich meine das, wo er mit ihr
... Wenn Sie verstehen was ich meine."
„Nimmt Ihre Tochter die Pille?"
Im
Auto sitzt der Autor still, presst den Kopf an die Lehne. Es ist kalt
und die Laterne wirft weißes Licht auf seine Hände, die verkrampft auf
dem Lenkrad liegen.
„Was war das heute? War das mein Buch? Meine
Geschichte? Für wen habe ich sie geschrieben? Für eine besorgte Mutter?
Ein pubertierendes Mädchen?"