Ihre Wimpern zucken, der Rücken schmerzt und die Beine sind taub; sie denkt an den gestrigen Tag und wie lange sie schon hier hockt.

„Setz dich da hin!", befahl der Polizist, als er sie am Abend auf den Eisenhocker stieß. „Und rühr dich nicht! Wenn du aufstehst, wird es schlimm für dich. Wir beobachten dich - lass also alles sein, was uns wütend machen kann."

Sie wollte ja warten; warten auf den, der ihr die Freiheit zurückgeben sollte. Aber niemand kam und die Qual wuchs, wurde beinahe unerträglich. Sie hat still gesessen in völliger Dunkelheit und angespannt gelauscht. Erst nach Stunden konnte sie sich aus dem Krampf lösen und in gute Gedanken versinken.

Dass es Tag wurde, das sah sie an dem fahlen Schimmer, der durchs Kellerfenster kroch und die Gitterstäbe schwarz werden ließ.

„Jetzt werden sie kommen. Sie mussten ja schlafen und essen. Bestimmt sind sie jetzt ausgeruht und zufrieden", dachte sie matt.

Aber sie kamen nicht. Ihr Durst wurde stärker, doch die Schmerzen im Rücken waren schlimmer, überdeckten alles. Das Fenster wurde sehr hell, der Durst noch heftiger; ihre Lippen sprangen auf und der Rücken brannte wie Feuer. Stunden später wurde das Fenster wieder grau.

Plötzlich war er da. Lautlos kam er in den Raum, stellte sich dicht hinter sie und sie konnte seinen Atem im Nacken fühlen.

 

„Shi Yingbay heiße ich", sagt eine weiche Stimme und sie fühlt eine Hand, die mit ihren langen Haaren spielt.

„Ich bin der Leiter der Gruppe, die sich die Aufgabe gestellt hat, die Wahrheit zu finden. Die ganze Wahrheit, verstehst du? Gemeinsam werden wir sie suchen - und wir werden sie finden, die unwiderlegbare Wahrheit", sagt er leise und setzt sich vor das Fenster.

„Ich lüge nicht", sagt sie. „Nie!"

„Schön. Das freut mich. Sie kostet ja auch nicht viel, die Wahrheit - aber die Lüge! Die Lüge ist teuer, sehr teuer", sagt er und lacht laut. Es ist ein falsches Lachen, wie bei den Männern, die im Reisfeld ihre Witze über die Jungfrauen machen.

„Dein Name?"

„Zhan Jinyan."

„Wie alt?"

„Neunzehn - fast zwanzig."

„Oha! So jung? Schön, sehr schön. Woher kommst du?"

Sie schweigt, blickt den Mann an, dessen Gesicht genau vor dem vergitterten Fenster schwebt. Die Frage kommt so leicht und unschuldig daher, aber sie weiß, dass sie darauf nicht antworten darf - das erwarten alle, die sie liebt. Ihre Antwort bedeutet Tod.

„Wo lebst du? Wo leben deine Eltern?"

Die Wände sind weiß, kein Bild, kein Regal, nichts unterbricht die Trostlosigkeit. Nur dieses Fenster, vor dem der Mann sitzt - und die Tür im Rücken, durch die man sie gebracht hat, sonst gibt es da nichts.

„Ob sie mich wirklich an den Beinen aufhängen?", denkt sie und kann sich keinen Schmerz ausmalen, der dazu gehört. „Keiner kann sich so etwas denken." Sie spürt eine Gänsehaut auf dem steifen Rücken.

 

Sie hat es nicht hören wollen, als die Frau davon sprach. Aber Liu Deyi, die verrückte Alte in der Zelle, hat es ihr ins Ohr geflüstert, hat gesagt, dass man, wenn man lange genug mit dem Kopf nach unten hängt, ganz komische Sachen hört.

„Du hörst Musik und sogar Stimmen. Quatschen durcheinander, alle gleichzeitig. Hi-hi. Fühlen kannst du nur noch den Schmerz, den schlimmsten der Welt. Der wächst und wächst, bis du meinst, du würdest sterben. Aber du stirbst nicht - nicht daran. Hi-hi."

Liu Deyi muss es wissen, weil sie schon alles hinter sich hat. Alles. Sie ist nur noch Körper und Schmerz; ihre Seele haben sie gelöscht, hat sie gesagt und dabei wie irre gekichert.

„Deine Seele stirbt zuerst, mein Kind", hat sie geflüstert. „Oder hast du keine? - Hast du eine? Lass sie hier - bei mir - da ist sie gut aufgehoben. Gib sie ihnen nicht!"

 

„Also! Noch einmal: Woher kommst du? Ich finde es ja doch heraus - egal wie. Du wirst es mir sagen, ganz sicher. So sicher, wie die Tatsache, dass die Sonne an jedem Morgen im Osten aufgeht."

Sie schweigt und schaut in seine tiefschwarzen Augen. Er sieht so aus wie der Mann, von dem sie immer geträumt hat. Fast in jeder Nacht, wenn sie auf der Reismatte lag, dachte sie an ihn. So einen wie ihn, den gab es im Dorf nicht mehr; die jungen und kräftigen Männer waren längst weggezogen.

Der Mann ihrer Träume lächelt, und sein Lächeln kommt aus den Augen - aber die Augen dieses Mannes lächeln nicht.

„Du willst nicht reden? Das ist gut. Wirklich! Dann werde ich deinen Mund öffnen dürfen."

„Er hat gelächelt, als er kam?", denkt sie. „Ja, obschon ... Ach egal, ich habe Glück, er ist nicht böse. Liu Deyi und die anderen haben es schlechter getroffen."

Zhan reckt sich, versucht das Feuer im Rücken zu löschen. Der Mann steht auf, verdeckt das Fenster. Er geht langsam um den Tisch herum; dicht vor ihr bleibt er stehen. Sie blickt zu ihm hoch, spürt, wie sich ihre Nackenhaare aufstellen, als sie den Glanz in seinen Augen sieht.

Er lächelt verzerrt, seine Mundwinkel zucken, als er sich bückt, ihre Beine auseinander drückt, sich dazwischen zwängt und sie fast vom Eisenstuhl kippt.

„Nicht", denkt sie, „geh weg. Du bist zu nahe; niemand darf so nahe an ein fremdes Mädchen ..."

Sie sieht seine Hand nicht kommen; blitzschnell ist sie da und knallt auf ihr linkes Ohr. Ein stechender Schmerz schießt durch ihren Kopf und im Ohr tost ein Wasserfall; die Schläfe pocht und im Mund schmeckt sie Blut.

„Die Wahrheit, habe ich gesagt. Verschweigen ist Lüge. Woher kommst du?"

„Schweigen ist keine Lüge, hat Mutter gesagt, damals, 1968, als sie Großvater gesucht haben, während der Kulturrevolution - nur weil er Dorflehrer war", denkt sie.

Sie bleibt still. Er tritt zurück, dreht sich weg, geht zum Fenster und schaut hoch.

„Weißt du, was ein Arbeitslager ist? - Antworte!"

„Nein - doch. Arbeiten in einem Lager, wo man ... - also, wo man wohnt, denke ich oder ..."

„Du bist ein dummes Huhn! Ich werde dich ins Frauenarbeitslager Chongqing Jiangbei Maogiashan schicken - wenn ich hier mit dir fertig bin. Dort wirst du zu einer guten Chinesin umerzogen. Dann erst, wenn du's hinter dir hast, weißt du, was ein Arbeitslager ist."

„Was machen sie nur mit Laihe?", denkt sie. „Er ist doch noch ein Kind."

„Du glaubst an die Irrlehre des Gründers eurer Sekte, dieses Li Hongzhis?"

„Es ist keine Irrlehre. Wir wollen nur Gutes ..."

„Halt den Mund! Du würdest dein Leben hingeben, um Vervollkommnung zu erreichen? Wie heißt euer Wahlspruch?"

„Zhen - Shan - Ren", sagt sie klar und hell, trotz der Schwellung im Mund; sie ist froh, dass sie das aussprechen darf.

„Gut! Wahrhaftigkeit, Barmherzigkeit und Nachsicht willst du üben. Zhen also; die Wahrheit, die Wahrhaftigkeit. Wie steht es damit? Willst du mir alles sagen, die ganze Wahrheit?"

„Ich lüge nie."

„Ha-ha; das sagt man euch nach. Aber stimmt es? Ihr zerstört alle, die den Glauben an euch verlieren; ihr akzeptiert keine andere Meinung."

„Ich weiß nichts davon. Das ist eine ..."

„Eine Lüge? Sie haben dich verführt, die Meister der Falun Gong. Hör zu! Ich habe nur noch wenig Zeit. Sehr wenig. - Du gefällst mir. Du bist schön. Ich möchte, dass du so bleibst. Tu etwas dafür! - Die Lüge ist furchtbar teuer. - Die Wahrheit gibt es umsonst."

„Ich lüge nicht."

Er dreht sich zu ihr um und drückt gleichzeitig eine Taste auf dem Schreibtisch. Sie schließt die Augen, als ein greller Lichtstrahl aufblitzt, genau in ihr Gesicht fällt.

„Nein? Nun denn: Willst du meine Fragen beantworten?"

„Ja. - Nein. - Nicht alle; nur die, die niemandem wehtun."

„Oh! Die deinen Freunden nicht wehtun? So sehr seid ihr verschworen?""

„Nicht verschworen. Nur - nur ... Ich will niemandem schaden."

„Tss! Dann musst du eben selber Schmerzen ertragen, sehr viel schlimmere Schmerzen. Weißt du überhaupt, was Schmerz ist? Ich meine, richtiger Schmerz."

Zhan schweigt und fühlt ihren Rücken. Sie sieht den Frager nicht, das Licht lässt alles in Schwärze versinken. Sie blickt verzweifelt zu Boden, sieht verschwommen ihre kleinen nackten Füße, deren Zehen sich wie im Krampf biegen. Sie hört, dass sich die Tür hinter ihr öffnet. Schritte hallen auf dem Betonboden. Zwei Männer.

„Hübsches Kind. Könnte mir gefallen. Lass mir was von ihr übrig", sagt einer und kichert.

„Steh auf!", befiehlt der Mann, der sich als Shi Yingbay vorgestellt hat.

Sie drückt sich hoch; endlich ist sie aus dem Licht heraus. Sie steht, schwankt, die Beine kribbeln von den Zehen bis an die Pobacken. Sie muss sich am Schreibtisch abstützen; Nebelspiralen verdecken die Sicht, drehen sich immer schneller.

Langsam nur lichtet sich der Dunst, sie spürt die Nähe der Männer, kann ihren Schweiß riechen. Der Lichtkegel schwankt, hebt sich, sucht erneut ihr Gesicht, erfasst es, und wieder steht sie in der Schwärze.

„Du sagst mir jetzt, wie dein Meister heißt. Wer führt dich?"

Sie presst die Lippen aufeinander, die trockene Haut bricht.

„Zieht sie aus. Langsam, immer nur ein Stück. Sehr langsam. Ihr wisst, wie ich es mag."

Sie spürt harte, klobige Hände, die sie betasten, die Knöpfe ihrer Bluse öffnen und ihre Haut streicheln.

„Wie heißt dein Meister? Schläfst du mit ihm?"

Sie zieht die Luft durch die Nase, fühlt den Schweiß, der im Nacken herunter läuft.

„Die Hose - schön langsam."

„Wie heißt der Mann, der dir die Befehle erteilt?"

Sie ziehen sie vollständig aus, harte Hände betasten sie. Sie zittert und die Scham lässt alle ihre Muskeln verkrampfen. Sie war noch nie nackt, wenn ein Mann im Zimmer war - noch nie durfte sie einer anfassen.

„Ihr könnt gehen. Haut ab!", schreit er und sein Atem geht stoßweise.

Sie hört ihre Schritte; ihr Kichern und Grunzen, bis sich die Tür hinter ihnen schließt. Sie zuckt zusammen, als er sie anfasst. Die Hand ist glühend heiß; sie liegt auf ihrer linken Brust; er spielt mit ihr, streichelt sie.

„Bist du noch Jungfrau?"

Sie schweigt, versinkt in Gedanken und Bilder. Blaue Hügelketten säumen die Felder; warmer Wind treibt im Sommer manchmal Blüten vor sich her, legt sie auf die Straßen und Plätze. Sie tanzt auf dem staubigen Weg, sieht sich lächeln, als eine blaue Blüte sich auf ihren nackten Fuß legt.

Der Schlag wirft sie zurück, der Hocker ist im Boden verankert und sie fällt rückwärts über ihn, schlägt mit dem Kopf auf den Boden

 

Als sie wach wird, liegt sie lang ausgestreckt auf dem Beton; es ist kalt und dunkel. In ihrem Kopf hämmert es und ihr ist, als ob sie sich immer schneller um die eigene Achse dreht; scharfe Säure steigt ihr in den Hals. Sie bewegt den Kopf sehr vorsichtig und trotzdem schießt der Schmerz vom Hals bis in die Haare.

„Du bist wach?", sagt die weiche Stimme und das Licht flammt auf. „Dann können wir weitermachen. Die Wahrheit; du erinnerst dich? Steh auf!"

Ihre Beine knicken bei der Belastung ein; sie mag die Schmerzen nicht zeigen, steht schwankend vor ihm. Sie weiß, dass sie nackt ist.

„Du kannst stehen? Na also! Das ist gut. - Du bist schön. Sehr, sehr schön. Kannst du dir vorstellen, was ich denke? Was ich möchte?"

Sie verschließt ihre Gedanken, schweigt und blickt in die Lichtflut. Sie weiß, dass er sie immer noch betrachtet, und fühlt trotzdem keine Scham mehr.

„Du bist hier in einer anderen Welt. In meiner Welt; hier befehle nur ich. Ich bestimme! Ich kann mit dir machen, was immer mir gefällt. Du kannst nicht weg von hier- bis ich mit dir fertig bin. Hast du das schon begriffen?", fragt er sehr leise.

„Ja", denkt sie. „Ich habe es verstanden. Ich bin nicht mehr Zhan Jinyan. Ich bin nur noch ein Körper für ihn. Mir bleibt nur ein Weg: Ich muss fliehen - in meine Gedanken, in glückliche Erinnerungen. Das nimmt mir keiner."

„Ihr könnt in eure Gedanken fliehen - sagt man. Täusche dich nicht. Ich kenne die Mittel, die dich da raus holen."

„Er kann meine Gedanken lesen!", denkt sie entsetzt und spürt Todesangst - zum ersten Mal, seitdem sie in diesem Untersuchungsgefängnis Chaoyang in Peking ist.

 

Sie hat nie in diese große Stadt gehen wollen. Laihe, ihr kleiner Bruder, hat sie überredet. Sie sollte ihm helfen Zettel zu verteilen; er hat sich danach gedrängt, ist ein fanatischer Anhänger der verbotenen Lehre - sie eher nicht. Dabei hat sie ihn dazu gebracht. Als er noch nicht lesen konnte, hat sie ihm die Regeln vorgelesen, die Li Hongzhi in seinem Buch festgelegt hat. Sie hat gesehen, wie er vor Eifer glühte.

Obschon sie nie so eine Leidenschaft verspürt hat, lebt auch sie nach diesen Regeln, ist glücklich und zufrieden, liebt die Tage und Nächte in ihrem Dorf.

„Wir müssen es tun. Die Sache ist es wert", hat Laihe gedrängt. „Was können sie schon machen? Sie nehmen uns die Blätter weg - na und? Wir drucken neues Material und gehen wieder in die Stadt."

Sie hat sich trotzdem gefürchtet. Alles war so unwirklich in den Häuserschluchten und auf dem großen Platz des Friedens. Es war anders als in ihrem Dorf; da lachte man, wenn man sich begegnete und grüßte sich freundlich.

Die Menschen in der quirligen Stadt rannten um sie herum, hasteten, hatten keine Augen für sie und ihre Blätter. Starre Mienen ängstigten sie - kaum ein Passant lachte und keiner grüßte; manche sahen sie an, als ob sie Mitleid mit ihr hätten, schüttelten den Kopf und gingen schnell weiter. Nur einer hat sie angesprochen, ein krummer, weißhaariger Alter, dessen Augen kaum aus den Falten schauen konnten.

„Geh, Kind. Geh nach Hause, bevor sie kommen. Das ist es nicht wert", hat er gemurmelt, so leise, dass sie ihn kaum verstand.

Sie hat sich nach ihrem Dorf Hebei gesehnt, nach dem Vater, der immer so still ist und nach der Mutter, die sie nicht um Erlaubnis gefragt hat.

„Noch eine halbe Stunde", hat Laihe gebettelt, „dann fahren wir zurück."

Es ging schnell, fast wie ein Spuk lief es ab. Die Männer kamen mit einem Mannschaftswagen. Sie sprangen während der Fahrt aus dem Auto, rissen ihnen die Papiere aus der Hand, prügelten sie mit Knüppeln und Fäusten in das vergitterte Fahrzeug. Im Gefängnishof wurde sie von ihrem Bruder getrennt.

Man brachte sie in den Keller, zog ihr den Gürtel aus der Hose, riss ihr die Schuhe und Socken von den Füßen.

Wortlos stieß man sie die steile Treppe hinunter, die in den feuchten Keller führte. Verdreckte Deckenlampen beleuchteten den unendlich langen Gang. In der Zelle hockten viele Frauen, lehnten an den Wänden und sahen sie wortlos an. Nur mühsam fand sie einen freien Platz.

„Darf ich?", fragte sie mit unsicherer Stimme.

Die Alte, neben der sie sich an der Wand herunter gleiten ließ, blickte nicht hoch. Kurz bevor die Wächter kamen, spürte sie plötzlich einen heftigen Stoß in der Seite.

„Schlaf nicht. Hier musst du immer wach sein. Hi-hi. Ich bin Liu Deyi. Hi-hi. Ich bin schon so lange hier, dass ich nicht mehr weiß, ob wir Sommer oder Winter haben. Ist jetzt Sommer?"

„Was? - Ja - es ist warm."

„Ah! Die warme Sonne! Ich träume immer vom Sonnenaufgang - manchmal sehe ich die rote, die sterbende. Erzähl mir von ihr. Als ich ein Mädchen war ..."

„Warte! Wer sind diese Frauen hier? - Was haben sie - was hast du getan?"

„Ich? Weiß nicht mehr. Sie haben alles raus geholt und es aufgeschrieben. Die anderen? Keine Ahnung. Hi-hi. Werden schon was verbrochen haben. Jede ist allein hier. Sie haben uns alle in eine Einzelzelle gesteckt."

„Wieso? Die vielen Frauen hier ..."

„Du bist trotzdem allein; alle sind hier allein. Fühlst du die Gitter? Hier, um dich herum? Fühl mal", sagte die Alte und zerrte ihre Hand hoch. „Die da hinten, die sprechen nur noch mit sich", flüsterte sie und zeigte auf die anderen Frauen.

„Was machen die mit mir? Foltern die oder ..."?

„Aber ja! Sie werden dich gleich holen. Hi-hi. Es geschieht immer auf die gleiche Art. Sie können nicht anders. Es gehört dazu. Hi-hi."

Sie richtete sich auf, als sei sie aus tiefem Schlaf erwacht; sie flüsterte, erzählte, was man draußen nicht zu berichten wagte.

„Keiner von denen hat Mitleid mit dir - fast keiner. Aber sie sind nicht alle gleich; manche machen es nur, weil sie müssen. Vielleicht haben sie Schwestern? - Manche haben nicht mal eine Mutter; glaub´s mir. Hi-hi."

„Hör auf. Ich will das alles nicht hören."

Aber die Alte wollte sprechen. Zhan dachte an die Eltern, die sich bestimmt sorgten, an Laihe und an ihr kleines Haus. Sie schloss die Augen und begab sich in tiefe Gedanken. Sie waren zu Dritt, rissen sie wortlos hoch und stießen sie aus der Zelle in den langen Flur.

 

„Nenne mir nur deinen Meister. Wer führt euch?", sagt er ganz dicht vor ihrem Gesicht und sie riecht seinen Atem.

Noch einmal, sehr leise. „Seinen Namen, mehr nicht."

Sie denkt an die Reisfelder, die vom Wind spielerisch bewegt werden, schmeckt die Luft, die morgens von den Bergen fällt und durchs Dorf treibt.

„Sag schon!", schreit er und sie zuckt zurück.

Der Schlag kommt aus der Dunkelheit, trifft sie in die Seite. Die Luft bleibt ihr weg, ein stechender Schmerz rast durch den Körper und sie taumelt gegen die Schreibtischkante.

„Du vergisst nicht, was ich dir gesagt habe? Du bist ohne Ausweg; du kannst nicht in deine Gedanken versinken, nichts wird dir helfen."

„Ich -", sagt sie und stockt.

„Ja? Du willst reden?"

„Ich - ich, bitte! Ich - habe nichts verbrochen - nichts."

„So? Du gehörst nicht zu diesen Umstürzlern, die unseren Staat nicht anerkennen?"

„Nein, bestimmt nicht. Ich will nur meinen Frieden und meine Freiheit. Und - bitte - lasst meinen kleinen Bruder frei. Er ist nur mitgelaufen. Er weiß nichts."

„Dein Bruder? Oh ja! Richtig! Ich hab ihn schon gesehen und er mich auch; er hat mich schon kennen gelernt. Was der alles erzählt ..."

„Oh! Nein, nicht, ich ...", sagt sie und dreht sich zu der Stelle, an der sie seine Stimme gehört hat. „Er ist so klein und schwach. Er tut niemandem etwas. Ich habe ihn angestiftet - zum Verteilen von Zetteln. Er tut nichts Böses."

„Das stimmt. Nicht mehr; jetzt nicht mehr", sagt er und lacht.

Sie ist starr und gefühllos; sie weiß, dass sie nichts mehr verbergen wird. Sie wird ihm alles sagen.

„Bitte! Ich sage alles, lasst ihn frei. Dann ... Lebt er ...?"

„Ich habe jetzt zu tun", unterbricht er sie. „Es gibt noch andere, die mich kennen lernen müssen. Später, wenn ich fertig bin, hole ich dich. Nur wir zwei! Wir werden sehen. - Du bist also noch Jungfrau? Wir werden sehen. Zieh dich an."

„Ich wollte doch alles sagen", denkt sie und ist verzweifelt. „Warum will er es nicht mehr hören? - Weil er mich ... Oh nein!"

Der blendende Lichtstrahl verlöscht, lässt alles schwarz werden. Es dauert, bis sich ihre Augen gewöhnt haben. Es ist nicht dunkel; ein gelbes Licht, warm und freundlich, fällt von der Schreibtischlampe auf den Boden; am Rand des Lichtkegels sieht sie den Haufen ihrer Kleider.

Die beiden Männer von vorhin kommen herein; sie erkennt sie an ihrem Gekicher. Langsam bückt sie sich, zieht die Kleider hoch und bedeckt ihre Blöße.

 

Sie sitzt mit dem Rücken an der Wand, spürt den Arm eines Menschen an der Seite. Der Boden ist feucht und kalt; sie zieht die Hosenbeine über die nackten Fersen.

„Ich bin Tai Jurong", flüstert eine Stimme dicht an ihrem Ohr. „Wie heißt du?"

„Zhan Jinyan", flüstert sie. „Ich komme aus Hebei."

„Warst du bei Shi Yingbay?"

„Ja. Er - er will mich wieder holen. Gleich, wenn er fertig ist, hat er gesagt."

„Ja. Er wird dich holen lassen. Heute will er dich, morgen eine andere. Du bist jung. Er liebt junge, sehr junge Mädchen. - Shi Yingbay ist nicht sein richtiger Name."

„Warum? - Was tut er mit mir?", flüstert sie.

„Er macht alles, was ein Mädchen fürchten muss. Er ist ein Teufel."

„Er sieht so gut aus - nur seine Augen ..."

„Der Teufel kommt nie als hässliches Wesen. Aber er hat die Augen des Teufels. Ja, er ist der Böse - der Urböse. Aber du bist nicht alleine. Wenn du aus der Hölle kommst, nachher, wenn du bei ihm warst, wirst du uns hier finden; wir sind bei dir. Hörst du? Denk immer daran, du bist nicht allein! Egal, was er dir antut, dieser Satan."

„Liu Deyi hat gesagt, dass niemand hilft, dass ihr alle allein seid."

„Liu Deyi? Ach die! Hör nicht drauf. Die ist nicht mehr bei sich."

„Gibt es keinen Ausweg, nichts ...? Kann man nichts tun?", fragt sie und ihre Stimme zittert.

„Oh nein! Hat er dir nicht gesagt, dass es aus dieser Hölle keinen Ausweg gibt? - Du hast ihm nichts verraten, stimmt´s?"

„Nein. Nichts. Er hat geschlagen und sie haben mich ausgezogen. Drei waren es. Er und zwei Männer - und ich war ganz alleine."

„Mein armes Kind", seufzt die Frau und sie spürt eine Hand auf dem Arm. „Ja, das liebt er. Er hätte einen Wutanfall bekommen, wenn du gesprochen hättest. Er will dich langsam zerbrechen und zerstören. Wen er hat, den vernichtet er. Er braucht das", sagt sie und Zhan spürt, wie die Hand ihren Arm fest drückt.

Sie rutscht tiefer an der Wand herunter, will den Kopf auf den kalten Boden legen, will klare Gedanken haben. Die Frau schweigt; leise rascheln Kleider, wenn sich Körper im Schlaf bewegen. Lange liegt sie still und die Schmerzen im Rücken lassen nach. Sie dreht den Kopf, sieht hoch zur Decke, die schmutzig grau über ihr hängt.

„Ich kann die Decke sehen!", staunt sie und bewegt den Kopf noch weiter.

Ein Fenster! Hoch oben, fast an der Decke! Es ist Nacht, eine Nacht mit einem Mond, der kaltes Licht in den Hinterhof und an das Kellerfenster wirft. Sie sieht die Gitterstäbe und trübes, fleckiges Glas.

Sie schließt die Augen, begibt sich auf die Reise. Sie läuft durch ein Reisfeld, sieht ihren Bruder Laihe, der übermütig einen Strohhut nach ihr wirft. Sie rennt hinter ihm her, will ihn fangen und zu Boden werfen. Er ist so schmal, zwei Jahre jünger als sie, aber schnell, viel schneller als sie. Er klettert die Leiter hoch, verschwindet im Schober. Sie rennt, stolpert, klettert ihm hastig nach, hätte ihn fast am Fuß erwischt.

„Jetzt bist du gefangen!", ruft sie ihm nach.

Es gibt nur diese eine Leiter. Laihe steht am Ende des Dachbodens, lacht, sieht sie triumphierend an, zieht blitzschnell das knielange Gewand über den Kopf, schlingt den Ärmel um einen Dachsparren, fasst das Hemd, schwingt sich vom Bretterboden, gleitet am Stoff herunter, springt das letzte Stück und verschwindet lachend. Er hat nur seine kurze Hose an und sein Rücken ist nass vom Schweiß.

„Doch", denkt sie matt. „Doch! Es gibt einen Ausweg. Du wirst böse sein, Shi Yingbay. Sehr böse. Ich kann doch entkommen - ich weiß den Weg."

Die Frau neben ihr schnarcht und röchelt leise. Zhan steht auf und streckt sich; alle Glieder sind steif. Sie ist klein, aber wenn sie auf den Zehenspitzen steht, kann sie das Gitter anfassen. Langsam knöpft sie die Bluse auf, zieht sie aus.

Ihre Fingerspitzen berühren gerade noch das unterste Ende eines Eisenstabes. Trotzdem kann sie den Ärmel am Gitter verknoten. Sie zieht und der Knoten hält. Sie steht still, wartet, sucht in dem Nebel, der ihren Kopf füllt. Da ist nichts mehr, gar nichts; dumpf und leer ist es.

„Ich gehe", flüstert sie und knotet sich den Ärmel um den Hals.

Ihre Hände zittern. Sie weint und schämt sich. Sie denkt an Laihe; sein Gesicht schiebt sich vor ihre Augen. Er lacht! Er spricht zu ihr!

„Laihe! Mein Bruder. Wo bist du? Was ...?", schreit sie flüsternd, will nach ihm greifen, ihn rufen, aber es ist zu spät. Sie lässt sich fallen und versinkt.