Er kannte das Lächeln in ihren graublauen Augen so gut. Er vergaß nie mehr, wie sie ihn anschauten, als sie sich zum ersten Mal begegneten. Dieses Lächeln verfolgte ihn bis in die Träume hinein. Er träumte später oft von ihr und ihren Augen. Es waren quälende und albtraumartige Erlebnisse, die ihn im Halbschlaf überfielen - mehr als zwanzig Jahre quälten sie ihn, machten ihm sein Versagen deutlich.

 
Sicher, es war bei ihrer ersten Begegnung nicht nur dieses ruhige Lächeln, das ihr Gesicht prägte und das ihn so fesselte; ihre Augen betrachteten ihn forschend, fast taxierend. Es war auch ihre Gestik, diese Körpersprache, die in sich ruhende Art, das wache Selbstbewusstsein, das sie ausstrahlte. All das machte es aus. Aber über allem lag dieses Lächeln, das ihm signalisierte: „Ja, du interessierst mich. Wer bist du?"

Mehr war es wohl zuerst auch nicht gewesen. Aber mehr war auch nicht nötig, um in seinem Kopf einen Sturm zu entfachen, der ihn einfach mit riss, eine Welle der Erregung erzeugte, die ihn forttrug.

„Wie schön sie ist! Wie jung! Herrgott, was für ein Mädchen."

Er konnte sich nicht satt sehen, stakste gedankenverloren über die Dielen des Festzeltes. Verlor sie nie länger als ein paar Sekunden aus den Augen. Was hatte er nicht alles über solche Momente gelesen. „Schmetterlinge im Bauch", das war der inflationär genutzte Ausdruck, den man besonders bei sehr jungen, dramatisch verliebten Leuten hörte - bei Jungen wie bei Mädchen! So jung war er nicht mehr. Er hatte keine Schmetterlinge im Bauch. Eher war es das Gefühl, als ob ihn ein durchgehendes Pferd auf dem Rücken entführte, ihn mitnahm in Gefilde, die er nicht kannte, die er aber nur zu gerne kennen lernen wollte.

Er dachte nicht daran, dass ihm nur Sekunden zur Verfügung standen, so oder so zu reagieren. Er dachte nicht daran, dass sie einfach weggehen könnte. Er dachte nicht daran, dass sie sich gleich einem anderen mit dem gleichen Lächeln zuwenden könnte.

Er handelte! Er nutzte den Moment, der ihm zur Verfügung stand, sprach sie an, ließ ihr Lachen nicht mehr los, wollte mehr, wollte alles von ihr und über sie wissen. Und nicht nur das! Er wollte sie! Sofort! Sie, die da mitten im Festzelt stand, sogar etwas verloren, alleine, wie suchend.

„Als ob sie mich, nur mich, gesucht hätte", dachte er später oft, wenn er zurück blickte, sich an diesen Sekundenrausch erinnerte.

Er dachte in diesem Gefühlssturm nicht an die turmhohen Hindernisse, die seinem "vielleicht"-Wollen entgegenstanden. Nicht eine Sekunde lang. Nur dieses Rauschen im Kopf: „Das ist es! Das ist sie! Meine Güte!"

Für mehr war kein Platz. Nicht dafür, dass er gebunden war. Dass er Familie hatte.  Nicht für Gedanken an die Frau, die seine war, nicht für Reflexion, die Bilder seiner Kinder produziert hätten. Schuldgefühle? Gewissensbisse? Moralische Bedenken? Nichts! Nicht jetzt. Später würde das einsetzen, das ahnte er sogar. Nur noch SIE! Und irgendwie wusste er, dass es so sein musste und auch so kommen würde, was er sich brennend wünschte.

Gleichzeitig spürte er leise Zweifel, Angst fast. "Habe ich was missverstanden? Der Wunsch der Vater des Gedankens?" Sie war so viel jünger als er; das war unübersehbar. Das waren Jahre, die ihn geprägt hatten, Erlebnisse, die keinen einfach zu nehmenden, pflegeleichten Mann aus ihm gemacht hatten. Er kannte seine Kanten, seine Eigenarten. Wie konnte sie ...? Würde sie ...? Konnte er sie glücklich machen?

Dann war er da, der der Moment, in dem er sie ansprach. Zögernd, leise, voller Misstrauen seiner eigenen Haltung gegenüber. "Sollen wir uns einmal ...?" Weiter kam er nicht. Sie sagte ja! Einfach "Ja!". Sie zerstreute mit ihrem tiefen Lachen all seine Zweifel. Und alles, was in der Folge geschah: Ihr Einverständnis mit seinem Wollen, ihre unfassbare körperliche Zuneigung, das erste Mal mit ihr zu schlafen, die hundert Male danach, ihr Charme, ihre geistige Lebendigkeit, die unwahrscheinliche Lockerheit, ihr unkompliziertes „Ja!", zu allem, was er mit ihr unternahm, all das berauschte ihn, ließ ihn spüren, was Glück und Liebe bedeuten können. Er vergaß seine Ängste.

Und doch vergab er dann letztlich diese Chance, diese wunderbare Möglichkeit, die ihm das Schicksal - was auch immer das ist - schenkte. Er wollte sie behalten, diese herrliche Frau - für immer. Und er verstand, dass sie ihn auch wollte, aber anders als er. Sie wollte ihn ganz und alleine - nur für sich.

Trennen! Dieses Wort hing wie ein Damoklesschwert über allem, was sie sprachen und taten. Nie wurde es wirklich ausgesprochen. Und doch war es klar. "Ich kann es nicht", dachte er verzweifelt, deutete es verschlüsselt an, wartete auf ihre Reaktion, auf einen Lösungsvorschlag. Zukunft? Gemeinsame Zukunft? Dafür gab es nur einen Weg. Er musste sich trennen, wenn er sie behalten wollte. Trennen von Ehefrau und Kindern. Leid zufügen. Schmerzen bereiten. Wollte er diese Liebe bewahren, musste er das tun. Er hasste den Gedanken daran, hasste die Schuldgefühle, die da kommen würden, die ein neues Leben belasten würden.

Er tat diesen Schritt nicht, verträumte, verhaspelte sich in dem Gedankenwust, der ihm vorgaukelte, es könne irgendwie immer so weitergehen. "Warum kann es nicht so bleiben?", dachte er oft und sprach es nie aus. Sie aber wusste, dass es nicht ging. Mit ihren klaren Gedanken, die auf die Zukunft gerichtet waren, in denen eigene Kinder, ein Mann, der nur ihr gehörte, den Mittelpunkt bildeten, gab es keinen Raum für Parallelwelten mit einem Geliebtem und einem Ehemann. Einer musste handeln; einer musste den schmerzhaften Schritt unternehmen. Trennen! Sie vollzog den Schritt; und dann war er es, der leiden musste. Er verstand sogar, dass sie tun musste, weil er es nicht konnte. Und er litt unter seinem Versagen, verkroch sich in Arbeit und Selbstmitleid.

„Ich muss wissen, wohin mein Leben gehen soll. Ich brauche eine Perspektive; und du wirst dich nie trennen, das spüre ich", hatte sie beim Abschied gesagt.

Als er dann von ihrer Heirat erfuhr, viel später, mehr durch Zufall, da zerbrach etwas in ihm. Es gab, und das sagte er ihr nach zwanzig Jahren, einen einzigen Tag, genau den, an dem er erfuhr, dass sie künftig mit einem anderen Mann schlief, an dem er sich nach dem Sinn seines Lebens fragte. Er war zu feige, sich diese letzte Antwort zu geben. Sie hätte Konsequenzen gefordert und das wagte er nicht. Irgendwie, trotz allem, wollte er weiterleben. Warum? Er wusste keine Antwort darauf, nicht einmal darauf.

Er sah sie immer wieder, weil sie in erreichbarer Nähe arbeitete. Er kaufte bei ihr, sprach mit ihr und tat so, als freue er sich, sie zu sehen. Nein, er freute sich nicht. Er litt, weil ihm dabei nur ein Gedanke durch den Kopf ging: „Sie gehört einem anderen Mann; sie schläft mit ihm; sie liebt ihn."

Und trotzdem musste er sie ansehen, musste ihr Gesicht abtasten; er suchte Regungen, Verlangen, Zuneigung. Danach war er jedes Mal fertig, zerfahren und unglücklich. Es war wie ein Zwang. „Ich muss sie wieder sehen!" Er spürte bei jedem dieser Treffen eine Qual, die er nicht beschreiben konnte. Und ein Verlangen, das ihn verrückt und gleichzeitig wütend machte.

Sie bekam Kinder und mit jedem Tag - so dachte er anfangs - würde die Qual geringer, die Sehnsucht nach ihr weniger werden. Er wollte sie endgültig vergessen - und damit auch die Erinnerung daran, dass er es war, der nicht bereit gewesen war. Aber er irrte! Er konnte sie nicht vergessen. Zu tief saß alles. Ihr Körper, die sanften Hügel ihrer Brüste, die er so oft geküsst und gestreichelt hatte, erschienen ihm vor den geschlossenen Augen, wenn er wach im Bett lag. In seinen Wachträumen stellte er sich vor, wie er sie küsste, ihren Körper erforschte.

Und er nahm sich vor, sie bei der nächsten Begegnung an ihrem Arbeitsplatz zu fragen, ob sie nicht doch ...
Er wagte es nicht. Aber der Druck wuchs, je häufiger er sie sah. „Ich frage sie!", dachte er, wenn ihm etwas einfiel, was er bei ihr kaufen konnte. Dann probte er Formulierungen wie: „Sollen wir mal zusammen Kaffee trinken?" oder auch „Ich würde mich gerne mit dir unterhalten."

Aber er fragte sie nicht. Das schien ihm zu banal. Er wollte keinen Kaffee mit ihr trinken; er wollte sich nicht unterhalten. Er wollte sie, wollte mit ihr schlafen, wollte sie wieder im Arm halten können wie damals. Sie sollte ihn lieben, wie er sie liebte. Und wenn sie zehn Mal verheiratet war; sie war immer noch die Frau, die er liebte.

„Oder? Liebe ich sie? Wirklich? Ist das, was ich spüre, Liebe?" Er wusste die Antwort. „Ja, ich liebe sie!"

Und da wurde ihm plötzlich bewusst, dass er nie, nicht einen Tag in den mehr als zwanzig Jahren, die nun dazwischen lagen, aufgegeben hatte, sie zu lieben. Er würde sie fragen müssen, um endlich zur Ruhe zu kommen.

„Habe ich noch eine zweite Chance?" Das war die quälende, die zwangsläufige Folge in seinen Überlegungen.

Er sehnte sie herbei, die zweite Chance. Immer wieder sah er dieses Lächeln, wenn er ihr gegenüber stand und nach einem Artikel fragte, den sie ihm verkaufen sollte. Es war immer noch dieses Lächeln, das ihm damals gesagt hatte: „Du interessierst mich."

Er fragte sie tatsächlich. Er musste es einfach tun. „Können wir uns treffen?" Ja, sie sollte sich mit ihm treffen, alles sollte neu anfangen. Aber sie zögerte, ließ ihn spüren, dass es Vorbehalte gab. Sie ließ ihn vergeblich am verabredeten Platz warten, hatte Ausflüchte. Sie war nicht bereit. Er verstand es, verstand sie genau; und verstand sie doch nicht. Er suchte Gründe. Ja, sie musste an ihre Familie denken. Jetzt hatte sie seine Rolle übernommen. Er wusste, was sie fürchtete. Aber akzeptieren wollte er es nicht.

„Ich liebe sie seit mehr als zwanzig Jahren!", dachte er oft verzweifelt. „Ich! Ich Idiot habe die Chance vertan."

Die zweite Chance kam. Gerade, als er sie nicht mehr erwartete, als er bereit war aufzugeben. Als er ihre sms las: "Sollen wir uns treffen?", da war er fassungslos, wollte es glauben, konnte es nicht glauben, hatte Angst und gleichzeitig hätte er vor Freude an die Decke springen können.

Als sie auf seine Antwort, seinen Vorschlag, mit „Ja, gerne!" antwortete, befielen ihn mächtige Zweifel. Er konnte es sich nicht mehr vorstellen. Zu lange hatte er nur ihr Bild in seinem Kopf gehegt und gepflegt, hatte dieses Erinnerungsbild geliebt. Der Übergang zur wahren, zur richtigen Frau erschien ihm fast unmöglich.

Aber das erste Treffen, dieses kopflose Hineinstürzen in die alten Gefühle, das Erfassen, Liebkosen, Genießen und Annehmen ihrer Körper, das alles belehrte ihn eines Besseren. Ja, sie war noch so wie damals, als ihn das durchgegangene Pferd mit riss. Ihre bedingungslose, die plötzlich entdeckte - nein, wiedererwachte - Liebe zu ihm, ihre Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft - trotz der turmhohen Hindernisse -, nahmen ihn mit, trugen ihn und ließen ihn alles vergessen, was die Vergangenheit belastet hatte.

"Ich habe dich immer geliebt. Alles andere hatte nichts mit Liebe zu tun", sagte sie leise und er glaugte ihr, wollte es glauben, damit alles wahr sein konnte. 

Sie liebten sich, wo es nur ging. Und das war selten genug. Sie litt unter den langen Tagen ohne ihn. Er litt, weil er wusste, wer statt seiner in ihrem Bett lag. Alles musste heimlich geschehen. Jedes Treffen wurde mit einer strategischen Planung vorbereitet. Im Sommer saßen oder lagen sie auf Wiesen oder in den Wäldern der Umgebung, lasen, schmusten, schmiedeten Pläne und liebten sich fanatisch.

Im Winter schliefen sie in Hotels und im Auto miteinander. Sie küssten und streichelten sich voller Hingabe in Restaurants und auf den Straßen. Ihre Liebe wurde so stark, dass sie alles, alles wagen wollten - und er liebte sie täglich mehr. Ihr sprühender Geist, ihr tiefes Lachen, wenn er mit ihr scherzte, ihre Unternehmungslust, diese hemmungslose Bereitschaft, mit ihm alles zu wagen, alle Möglichkeiten der körperlichen Liebe auszukosten, rissen ihn mit.

„Und diese Chance werde ich nutzen! Ich will sie nie mehr verlieren."

So dachte er, stündlich, täglich, wenn er sie sah, fühlte und hörte - und sogar, wenn sie ihm nur eine ihrer wunderbaren sms schickte: „Ich liebe dich!".

„Dies ist meine zweite Chance."

Nein, diesmal würde er sie nutzen, die Chance, die ihm geschenkt wurde.

Es kam der Tag, an dem er sich entscheiden musste. „Du und ich!", sagte er. „Wir, nur wir, waren von Anfang an füreinander bestimmt. Willst du mich noch? Ganz? Ich bin für dich bereit."

Er sah ihr Zögern, das Flackern in ihren Augen. Die Unsicherheit, die Angst, die Zweifel, formten ihr Gesicht. Und  er wusste, dass der Traum, den er geträumt hatte, zu zerplatzen drohte wie eine Seifenblase. "Nicht! Bitte nicht!", dachte er.

"Nicht jetzt! Bitte! Die Kinder! ich liebe sie und ich weiß, dass sie nicht verstehen werden. Nicht jetzt, bitte!"

"Was dann? Alles zu Ende? Unsere zweite Chance?"

"Nein, nein. Bloß ... Lass uns warten. Zwei Jahre vielleicht." 

Er ahnte, dass es an ihm, an seine Antwort lag. Und er wusste, fühlte, was in ihr vorging. Jetzt war sie es, die die Ängste, die Zweifel hatte. So, genau so, wie er damals. Und er machte alles, alles, was kommen würde, von der Antwort abhängig, die sie ihm auf seine einzige Frage geben würde.

"Liebst du mich? Wirst du mich auch in zwei Jahren noch lieben? Haben wir eine gemeinsame Zukunft?" 

Und die Sekunden, die verstrichen, bis er ihre Antwort hörte, waren die längsten, die angstvollsten, die erwartungsvollsten Sekunden seines Lebens.

"Ich liebe dich. Nur dich. Und ich werde dich immer lieben. Du bist meine Zukunft", sagte sie und ihre Augen schauten ihn an, wie damals, als sie ihn fragten "Wer bist du?"

Und da war es klar. Er würde warten. Mit all der Unsicherheit, der Angst, den Sorgen. Sie war schließlich das, was er für den Rest seines Lebens haben wollte. Sie, und nichts und niemanden anders.