„Es ist saukalt! Mindestens zehn Grad unter Null. Zieh den dicken Wollmantel von Opa drüber, Martin."

„Du nervst, Mama. Wie seh ich aus, wenn ich mit dem Ding im Gymnasium erscheine? Die schmeißen sich weg vor Lachen."

„Und wenn schon. Wir haben kein Geld für teure Designer-Klamotten. Papa hat keinen Job und wir können froh sein, wenn wir so über die Runden kommen. Alles ist teuer geworden und wenn ich an die Heizungsrechnung denke! Sei froh, dass Opa uns so gute Sachen hinterlassen hat. Sollen deine Klassenkameraden ruhig lachen. Hauptsache, du liegst nicht mit einer Erkältung im Bett. Dann hab ich nämlich den Ärger und die Arbeit."

„Und ich brauch keine Mathe-Arbeit zu schreiben."

„Aha! Dafür würdest du sogar nackt zur Schule laufen, was? Jetzt erst Recht! Zieh ihn an!"

Er murrte und knurrte noch, als sich die Haustür schon mit einem Knall hinter ihm schloss. Der schwere Rucksack, voll gepackt mit Büchern und Heften, passte so gerade noch über den plusterig aufgeblähten Mantel, der fast bis zu den Hacken herunter hing.

Er schob sein Rad aus dem Keller und stapfte durch den Schnee, der sich an der Hauswand türmte und auf der Straße so hart gefroren war, dass es bei jedem Schritt laut knirschte. Als er das Rad um die Ecke schob, blieb ihm die Luft weg.

Der eisige Wind stieß in sein Gesicht, trieb ihm die Tränen in die Augen und die Gesichtshaut zog sich schmerzhaft zusammen.

„Scheiße! Mann, die Alte hat Recht. Was für eine Kälte", dachte er, senkte den Kopf, zog die Schultern zusammen und radelte los.

Der Wirtschaftsweg von der Siedlung zur Stadt war im tiefen Schnee kaum von den angrenzenden Feldern zu unterscheiden. Nur hier und da hatte der Wind den Schnee weggefegt. Es begann wieder zu schneien; kleine, hart gefrorene Kristalle peitschten in sein Gesicht.

„Verdammt, bin ich froh, dass ich das blöde Ding anhab. Wenigstens frier ich nicht am Körper."

An der Ecke bogen seine drei Freunde, Tim, Frank und Klaus auf den Weg ein und klingelten gleichzeitig wie verrückt.

„Hey! Klasse Wetter, was?", rief Martin, als er sie erreicht hatte. „Wie am Nordpol."

„Hey. Siehst cool aus, Mann. Haste den von deinem Opa?", fragte Tim, sein engster Freund.

„Du Poser! Klar ist der von dem. Ich frier wenigstens nicht. Aber du siehst aus wie einer, den sie bei den Eskimos eingekleidet haben."

Tim trug einen blauen, pummeligen Ski-Anorak, eine knallrote, dicke Pudelmütze und Handschuhe, die fast bis zum Ellenbogen reichten.

„Ha, ha! Selber Angeber! Jedenfalls ist alles neu, was du bei mir siehst. Diese Woche erst gekauft."

„Los! Wir müssen uns beeilen", rief Klaus. „Oder machen wir Modenschau?"

Sie fuhren nebeneinander, bremsten ab und zu scharf, um die Schneeglätte für waghalsige Manöver zu nutzen. Fast vergaßen sie die Eiseskälte bei der spaßigen Fahrerei.

Am Andreaskreuz, zwischen kahlen Sträuchern und Bäumen, war etwas, das da sonst nicht war - was da nie und nimmer hingehörte. Martin sah es zuerst. „He, guckt mal. Da sitzt einer. Eh, ist der bescheuert? Bei der Saukälte sitzt der da, als wenn's Badewetter wär."

„Vielleicht ist der tot?", fragte Klaus flüsternd.

Sie stoppten, stiegen vom Rad und betrachteten den Mann, der vor dem Kreuz auf dem Boden hockte, unter sich nur ein Stück Pappe. Der Mann war nicht tot; das sahen sie sofort. Er blinzelte sie aus kleinen Äuglein an, versuchte sogar zu grinsen. Aber das bärtige, verschrumpelte Gesicht ließ kein Lächeln erkennen.

„Habta noch nie nen armen Penner gesehn? Oder warum glotzt ihr so?"

„Frieren Sie nicht?", fragte Martin.

„Wat sachste? Frieren? Wat soll dat sein? Mensch, Junge, ick schwitz wie ‘n Affe. Siehste dat nich?"

„Komm, wir hauen ab", riet Tim und Klaus rief: „Wenn der schwitzt, kann der ja seine Jacke ausziehen. Lasst uns fahren."

Martin betrachtete den Mann, der am ganzen Körper zitterte. Eine dünne Jeansjacke, ein am Hals offenes Hemd - „Da müsste mal einer Knöpfe dran nähen", dachte er -, eine mehrfach eingerissene Jeanshose und verbogene Lederschuhe, aus denen nackte, dünne Beine schauten, konnten den Mann kaum zum Schwitzen bringen.

„Können wir Ihnen helfen?", fragte er leise und überhörte die drängenden Rufe seiner Freunde.

„Mir helfen? Junger Mann! Mir kann keener helfen, auch du nich. Wat willste denn machen? Willste mich auf'n Gepäckträger nehmen?"

„Ja, vielleicht. - Ich meine ... Bestimmt tun Ihnen die Füße weh bei der Kälte."

„Watte nich sachs. Abba ma im Ernst: Wo willste mich denn hinbringen? Inne Schule? War ick schon ma, vor tausend Jahre. Nu bin ick zu alt dafür. Ansonsten jibt et keenen, der uf mir warten tät un icke selber wüsste och nich wo ick hin machen sollt."

„Aber kalt ist Ihnen doch. Das mit dem Schwitzen war Quatsch, oder?"

„Martin, komm. Wir müssen!"

„Ja, ja. Einen Moment noch."

Er blickte in die kleinen Augen des Penners und plötzlich war ihm, als sähe er zwei schwankende, leuchtende Punkte in ihnen. Und in seinem Kopf spielte eine Melodie. Ein Lied lief plötzlich los, das er erst am Vorabend, als er mit seiner kleinen Schwester den Martinsumzug der Grundschule begleitet hatte, gehört und sogar mitgesungen hatte: „Im Schnee da saß ein armer Mann, hat Kleider nicht, hat Lumpen an..."

Martin schluckte, schaute in das Gesicht, das blass und faltig, kraftlos und schwach aussah. Und wie von ganz alleine formte sich die Melodie erneut: „... St. Martin mit dem Schwerte teilt, den warmen Mantel unverweilt."

„He, Klaus, mach mal meinen Rucksack auf und hole die Bastelschere raus."

„Was? Spinnst du?"

„Nein. Tu's einfach", sagte Martin und drehte Klaus den Rücken zu.

Als der ihm die Schere in die Hand gedrückt hatte, gab er ihm das Rad zum Halten, raffte den bodenlangen Mantel, griff ihn etwa in Taillenhöhe und ohne eine Sekunde zu zögern, schnitt er rundum den Mantel ab.

Als das große Stoffstück zu Boden fiel, packte Martin es, ging zum Penner hin, sah ihn lange an und legte ihm den dicken, windundurchlässigen Mantelstoff um die Schulter. Der Stoff bedeckte den ganzen Oberkörper und als Martin ihn vorne übereinander schlug, sah es aus wie eine riesige Stola.

„He, dat is ...", sagte der Mann und Martin glaubte einen feuchten Glanz in den rotumrandeten Augen zu sehen.

„Bitte", sagte er nur, drehte weg und schwang sich aufs Rad.

„He! Ich denk ich bin im Theater", rief Tim und lachte schallend. „Weißt du, wie du aussiehst? Mann, du bist echt bescheuert, Martin. Gibst so einem versoffenen Penner deinen halben Mantel."

„Ich weiß nicht", sagte Frank, der bisher geschwiegen hatte. „Ich versteh Martin schon. Ich hätte ihm am liebsten meine Pausenbrote gegeben."

„Und warum haste nicht?", fragte Klaus. „Fahr zurück."

„Nein, wir kommen zu spät zur Schule. Gibt bloß Stress", sagte Frank. „Aber ich hätte den Mut nicht gehabt, den Mantel von meinem Opa zu zerschnibbeln. Obschon ... Echt Klasse war das. Kriegste jetzt Stress, Martin?"

„Ich denk schon. Aber Opa hätte nichts dagegen gehabt. Das weiß ich genau. Und außerdem sieht mein Kurzmantel jetzt doch ziemlich modern aus, was?"

Die Freunde lachten und in der ersten Pause gab es hundert Jungen und Mädchen, die den eigentümlichen Kurzmantel von Martin bewunderten.