„Macht euch doch keine unnötigen Sorgen! Ihr seid so ängstlich geworden; so kenn’ ich euch gar nicht.“
„Wir sind nicht ängstlich, nur besorgt – und das ist ja wohl ein Unterschied, mein lieber Sohn. Wenn es Schwierigkeiten gibt, was dann?“, sagte sie und lauschte auf des Brummen im Hörer; Peter telefonierte im Auto, war wohl auf dem Heimweg.
„Hör zu, Mama“, seufzte Peter vernehmlich und sie sah vor ihrem inneren Auge sein ungeduldiges Gesicht, das er immer aufsetzte, wenn er was nicht rüber bringen konnte, „Elke und ich sind ganz sicher. Die Kleinen lieben euch, sind vernünftig und haben noch nie gefremdelt.“
„Aber wenn sie Heimweh bekommen? Wenn sie ihr Stallhäschen und das Meerschweinchen vermissen?“
„Kein Problem. Die beiden sind so vernünftig.“
„Ha!“, rief Konrad, der über die Freisprechanlage zuhörte, „Wie oft waren sie denn schon von zu Hause weg? Zwei ganze Wochen lang? Ohne Eltern? So weit weg? Noch nie!“
„Ach was! Die freuen sich irre auf euch und auf den Urlaub; sie kommen sich so groß vor. Und im nächsten Jahr, wenn sie in der Schule sind, wollen sie bestimmt ihre Ferien bei euch verbringen – wartet mal ab“, rief Peter.
„Wir freuen uns ja auch auf unsere Mäuse; wir möchten nur nicht, dass sie hier unglücklich sind“, sagte Karin. „Wir meinen ja nur … Konrad überlegt sich schon, was er alles mit ihnen unternehmen kann.“
„Na also! Wir sind froh, wenn wir bei dem Umzug die Kleinen nicht zwischen den Beinen haben. Passt auf! Elke kommt am Montag mit der LH 911 um 10:05 Uhr in Köln an. Sie hat ungefähr eine halbe Stunde Aufenthalt und fliegt mit der nächsten Maschine zurück. In der Zeit könnt ihr ja alles mit ihr besprechen, was ihr noch wissen müsst.“
„Wir freuen uns auf Montag“, sagte Karin und war sich nicht ganz sicher, ob das auch ihr wahres Gefühl war.
„Ich bin mal gespannt“, murmelte Konrad – und das sagte er immer, wenn er nicht wusste, wie etwas ausgehen würde.

Der Betrieb war beachtlich. In der Ankunftshalle des Kölner Flughafens knubbelten sich die Menschen; standen in Gruppen oder alleine da, lasen die Anzeigentafel, beobachteten die Ankommenden, die aus den Gates tröpfelten.
Geschäftsleute zogen ihre Trollys – winkten lässig den wartenden Partnern zu; Frauen machten lange Hälse, um ihre Lieben zu entdecken; mehrere Kinder mit Rucksäcken auf den schmalen Schultern wieselten zwischen den Erwachsenen hin und her und rannten plötzlich zu den bodentiefen Fenstern, als ein Kind rief: „Sie startet! Gleich geht sie hoch.“
Auf der Anzeigentafel wechselten die Ankündigungen lautlos. „LH 911 ist gelandet“, las Konrad halblaut. „Jetzt dauert´s nicht mehr lange. Bin gespannt, ob sie uns entdecken und erkennen.“
„Quatschkopf! Erkennen! Wir waren doch erst vor sechs Monaten bei ihnen in München. Meinst du, die hätten uns vergessen?“
„Ich weiß nicht. Die sind doch erst fünf. In dem Alter …“
„In dem Alter behalten die mehr, als dir manchmal lieb ist. Die haben uns nicht vergessen! Denk bloß mal, wie sie sich gestern am Telefon gefreut haben. ‚Nur noch einmal schlafen’, hat Silija gesagt.“
„Ja, ja. Am Telefon; da schwätzt man schon mal was dahin. Die haben sich auf den Flug gefreut, nicht auf uns. Irgendwie ist mir komisch. Vierzehn Tage! Ich bin gespannt …“
„Nicht schon wieder!“, sagte Karin. „Da! Da hinten! Ich seh sie schon. Hinter der Scheibe – da! Jetzt nehmen sie die Koffer vom Band. Meine Güte, was sind die groß geworden. Schau dir nur die langen, krausen Haare an. So weiße Haare hatte ich auch, als ich klein war. – Wo guckst du denn hin? Da! Nicht da – die in den roten Anoraks.“
„Ah! Ich seh sie. Oh mein Gott! Wer ist wer? Die sind ja auch noch völlig gleich angezogen! Na, das wird was geben“, stöhnte Konrad.
„Jetzt kommen sie! Elke! Hier! Hu-hu! – Komm, Konrad! Los! Sie haben uns noch nicht gesehen.“
Sie schoben sich durch die Menschenmenge, die sich zum Ausgang des Gates drängte. Karin hob ihre Rechte und winkte aufgeregt, während Konrad hinter ihr her trottete.

„Die laufen uns schon nicht weg“, sagte er und blickte einem Kofferträger strafend nach, der ihm mit dem kantigen Gepäckstück ans Bein gestoßen war.
„Louisa! Silija! Hier sind wir!“, rief Karin und die kleinen Mädchen hoben die Köpfe, schauten sich suchend um.
Plötzlich ließen sie ihre Kindertrollys fallen, rasten sekundengleich los, umrundeten ein paar Männerbeine und stürzten sich – völlig synchron – auf Karin und Konrad.
„Oma!“ rief das eine und „Opa!“ das andere Mädchen; sie sprangen an ihnen hoch, warfen ihnen die Arme um die Hälse und drückten die warmen Gesichter an ihre Köpfe.
„Hallo – Louisa“, sagte Konrad etwas zögernd in den weißen Wuschelhaarkopf, „schön, dass du da bist.“
„Ich bin aber die Silija“, sagte das Mädchen nur und strahlte ihn an.
„Oh! Hab mich vertan. Ist doch klar; hätte ich ja wohl sehen müssen, was?“, sagte Konrad verlegen.
„Nein, kann man nur schwer erkennen. Louisa hat heute die gleichen Sachen an wie ich.“
Er spürte den leichten Körper, der sich an ihn schmiegte, blickte in das lächelnde Gesicht mit den riesigen blauen Augen und spürte ihre Haare an seinem Hals.
„Was gibt’s Schöneres“, dachte er und war glücklich.
Lächelnd stand Elke da, betrachtete ihre Mädchen und die Gesichter der Schwiegereltern.
„Hallo, ihr beiden. Na? Was sagt ihr zu unseren Mäusen? Sind sie nicht gewachsen?“
„Und ob; wir hätten sie fast …“
„Mama, wo ist mein Hase? Der liegt im Flieger!“, schrie Louisa und ihre großen Augen waren schon feucht.
„Genau! Der liegt im Flieger!“, rief Silija. „Hast ihn liegen gelassen.“
„Hab ich nicht!“, schrie Louisa und die ersten Tränen liefen. „Du hast ihn mir vorher weggenommen und damit gespielt.“
„Hab ich nicht. Doofe Ziege,“
„Selber doof.“
„Oh, Gott. Es geht ja schon los“, dachte Konrad und ließ Silija zu Boden gleiten.
„Wenn du mich nicht hättest, läg der wirklich noch im Flugzeug und würde schrecklich quieken, weil du ihn vergessen hast“, sagte Elke und zog den langbeinigen Hasen hinter ihrem Rücken hervor.
„So, jetzt lass die Oma mal für einen Moment los, kannst sie gleich wieder umarmen, Louisa. – Lasst euch erst mal drücken“, sagte Elke und schloss Karin und Konrad abwechselnd in die Arme.
„Hier sind die Trollys der Mäuse und in dieser Tasche hab ich noch allerhand Sachen eingepackt. Ihr kommt schon zu Recht; und wenn was fehlt …“
„Mach dir keine Sorgen, Elke. Wir kriegen das schon hin“, sagte Karin. „Wie viel Zeit hast du noch?“
„Eigentlich keine“, sagte Elke und wies auf die Anzeigentafel. „Ich muss schon los zur Abflughalle. Ist ja noch ein Stück zu laufen.“
„Jetzt geht’s los“, dachte Konrad. „Jetzt begreifen sie gleich, dass ihre Mama wegfliegt. Das gibt was! Ich bin mal gespannt …“
Aber es kam ganz anders. Der Abschied war eigentlich keiner. Louisa und Silija mussten extra aufgefordert werden, der Mama einen Abschiedskuss zu geben. Mit halb abwesender Miene taten sie ihre Pflicht, hingen dabei an den Händen ihrer Großeltern, als hätten sie Angst, die könnten ohne sie verschwinden.
„Bis in vierzehn Tagen!“, rief Elke, bevor sie von der Rolltreppe nach unten befördert wurde. „Seid artig und macht keinen Aufstand, hört ihr?“
„Na, das war ja einfacher, als ich gedacht habe“ stöhnte Konrad. „Der Anfang ist gemacht.“

„Ich hör was“, flüsterte Karin. „Sag nichts. Wir tun so, als ob wir noch schlafen.“
Nackte Füße platschten auf der Treppe, die vom Dachgeschoss in den ersten Stock führte. Konrad blinzelte leicht, konnte aber im Dämmerlicht nichts erkennen. Langsam schob sich ein kleiner Körper in sein Bett, zog die Bettdecke drüber und schmiegte sich eng an.
„Guten Morgen“, flüsterte ein dünnes Stimmchen. „Seid ihr wach?“
„Nee. Hmm. Oh“, machte Konrad und rieb sich die Augen. „Wen hab ich denn hier im Bett?“
„Die Silija. Und die Louisa liegt bei der Oma.“
„Aha! Habt ihr gut geschlafen in der ersten Nacht?“
„Ja, nur mein Hase, der ist immer aus dem Bett gefallen und hat sich am Kopf weh getan“, sagte Louisa mit mitleidsvoll getönter Stimme. „Der muss sich erst noch gewöhnen, weißt du. Der ist noch ein bisschen dumm.“
„Guten Morgen! Ich bin Susi. Ich hab gut geschlafen“, piepste es an Konrads Ohr. „Ich bin nicht dumm. Ich fall nie aus dem Bett.“
„Susi? Wer ist denn Susi?“
„Hier! Ich bin Susi“, piepste es wieder und flauschige Ohren flatterten Konrad ins Gesicht. „Ich bin ein Dalmatiner und meine beste Freundin ist die Silija.“
„Oh, guten Morgen, lieber Dalmatiner – äh, liebe Susi. Da haben wir ja dieselbe Freundin. Meine heißt auch Silija – und meine andere beste Freundin heißt Louisa.“
„Opa, erzählst du uns eine Geschichte? Eine, wo wir drin sind? Und wo wir mit einem Auto fahren? Eine ganz lange?“, fragte Silija.
„Oh!“, stöhnte Konrad. „Schon am frühen Morgen eine Geschichte? Mein Kopf ist ja noch ganz verschlafen. Den muss ich erst aufwecken – und das geht nicht so einfach.“
„Doch! Bitte, Opa. Ich mach ihn dir wach“, sagte Silija und wackelte mit beiden Händen an seinem Kopf, dass ihm der Schädel brummte.
„Au! Ah! Jetzt ist er wach. Also gut, jetzt kann ich eine Geschichte erfinden.“
Und er erzählte in der Art, wie es Kinder gerne mochten, flüsterte, wenn er Spannung erzeugen wollte, hob die Stimme, als es gefährlich wurde, ließ Autos mit tiefer Brummstimme und Kinder mit hellen und vergnügten Pipslauten sprechen.
„Jetzt muss das Auto aber noch einen Unfall haben“, forderte Louisa mitten in der Geschichte.
„Nein, keinen Unfall!“, konterte Silija. „Oder nur einen kleinen.“
„Na gut“, seufzte Konrad. „Also: Als das Auto gerade um eine kleine Kurve bog, machte es ‚Pfffff’ und der Wagen hoppelte und rumpelte. ‚Wir haben einen Platten’, rief Silija und da stand …“
„Nein, ich hab das gerufen. Ich hatte die Idee mit dem Unfall“, unterbrach Louisa.
„Gar nicht. Ist ja gar kein Unfall. Ich wollte den Plattfuß haben“, rief Silija und schluchzte.
„Jedenfalls ist die Geschichte gerade zu Ende gegangen; mein ganzer Kopf ist leer; hab’ alles erzählt, was drin war.“
„Morgen musst du wieder eine erzählen, ja? Ich weck auch deinen Kopf wieder auf“, sagte Silija und das Schluchzen war weg.
„Na klar, aber nicht so feste wie heute, sonst fliegen alle Geschichten, die da drin sind, wild durcheinander und verhudeln sich.“

„Weißt du noch, was wir für eine Sorge hatten, dass die Mäuse Heimweh bekommen könnten? Morgen ist die Zeit rum und die haben nicht ein Mal nach ihren Eltern gefragt. Kannst du dir vorstellen, wie es hier still wird, wenn sie weg sind?“, sagte Karin, als sie am Abend im Wohnzimmer saßen.
Die Mädchen waren seit einer Stunde im Bett, hatten sich nach der obligatorischen Gutenacht-Geschichte nicht mehr gemuckst.
„Ich bin ja mal gespannt, was die Kinder sagen, wenn sie sich morgen verabschieden müssen“, sagte Konrad und blickte dabei nicht von seiner Zeitung hoch.

Alles hatte sich geändert in diesen Tagen; die Zeitung war vom Frühstückstisch verbannt und wurde erst am späten Abend gelesen, die Schreibtätigkeiten im Büro waren auf ein Minimum reduziert worden, täglich fanden Ausflüge in die Umgebung statt.
„Ich kann sie inzwischen sogar auseinander halten“ murmelte Konrad.
„Na klar, weil ich ihnen immer unterschiedliche Sachen anziehe. Und meinst du, ich hätte nicht mitbekommen, dass du beim Frühstück immer laut ‚Silija’ rufst und aufpasst, wer den Kopf hebt?“
„Und du? Du hast immer noch nicht mitgekriegt, dass Silija die blaue Tasse bekommt und Louisa die rote.“
„Quatsch! Jedenfalls ist es schon etwas Besonderes, solche Zwillings-Enkelkinder zu haben. Jede Maus will genau das bekommen, tun, hören und spielen wie die andere“, seufzte Karin.
„Ja, und trotzdem wollen sie selber immer genau als Einzelperson gesehen werden. ‚Ich will nur das und nicht das, was die Silija will!’, oder ‚Meine Farbe ist rot’ und ‚Das will ich nicht, das mag nur die Louisa!’, sagen sie und lassen sich für nichts in der Welt umstimmen“, ergänzte Konrad.
„Schade, dass die Zeit schon wieder um ist. Hätte nicht gedacht, dass alles so glatt läuft, uns so viel Freude macht“, sagte Karin.
„Ich bin ja mal gespannt …“, begann Konrad.
„Hör auf! Nicht schon wieder. Jetzt brauchst du nicht mehr gespannt zu sein. Auf ihre Eltern und ihr eigenes Bett freuen die sich bestimmt. Und wiederkommen werden sie auch wollen – und sei es nur, dass sie die Fortsetzung deiner Geschichten hören wollen.“
„Ha! Ha! Und unseretwegen etwa nicht?“, fragte er und legte die Zeitung endlich weg.
„Nur unseretwegen. Weswegen denn sonst“, sagte Karin und hob lauschend den Kopf.