Es würde keinen Sonnenschein geben, das war mal sicher. Und dabei hatte sie sich diesen „schönsten Tag des Lebens" immer mit blauem Himmel und strahlender Sonne vorgestellt. In ihren Träumen flogen die blonden Haare hoch, waren ständig in flirrendes Sonnenlicht getaucht. Sie lachte und zeigte ihre weißen Zähne. Natürlich trug sie ein langes weißes Brautkleid - mit Schleppe und allem drum und dran.
Es regnete, und ihr eng geschnittenes, graues Kostüm, das allerdings ihre Figur hervorragend zur Geltung brachte, hätte sie ebenso gut für eine Kaffeeeinladung anziehen können.
„So ein Sauwetter! Ist das ein schlechtes Omen?", fragte sich Siggi und seufzte, als der Standesbeamte „Ja, nun", sagte. „Sie dürfen die Braut jetzt küssen."
Sie sahen sich an, lange, erforschten ihre Gemütslage und erblickten doch nur ihre Augen: grüne (Udo bei Siggi) und graue (Siggi bei Udo).
Er fasste ihre kleinen Hände; sie waren warm und etwas verschwitzt. Sie schluckte und legte ein Lächeln auf, das ihm „Glück" signalisierte. Er strahlte sofort zurück und zog sie an sich; seine Augen schlossen sich und der Mund suchte blind nach den weichen, vollen Lippen seiner Frau.
Einige junge Burschen auf den hinteren Bänken des Standesamtes klatschten Beifall, stießen sich an und kicherten. „Langsam! Langsam!", „He! He! Doch nicht hier!", „Wartet noch ein paar Stunden!"
Sie löste sich, schob Udo sanft weg, drehte sich zu den Zuschauern und lachte; es war ein freies, glückliches Lachen. Aber alle Augen, in die sie hinein sah, blickten an ihr vorbei, suchten den Blick ihres Mannes.
Ihr Lachen war so schnell weg, wie es gekommen war. Nur einen Augenblick hatte sie das Gefühl gehabt, dazu zu gehören. Aber das war wohl ein Irrtum, dachte sie ernüchtert - und etwas wütend.
„Saublödes Landvolk! Dämliche Bauern!", quetschte sie leise heraus - und doch hörbar - wie sie einen Augenblick später erschrocken feststellte.
Unpersönlich und kalt waren die Blicke, die nun ihre Augen suchten; die älteren Bauern blickten sie starr und finster an; ihre neue Verwandtschaft schaute feindselig; die jungen Mädchen betrachteten sie mit schnippischem Blick.
Nur die Bauernburschen, Freunde von Udo, die auf der Bank an der Wand saßen, hatten ihren Ausbruch nicht mitbekommen; sie grinsten anzüglich, suchten ihre Augen oder blickten einfach aufreizend auf ihre Brust.
„Spinnst du, Siggi?", flüsterte Udo.
„War nicht so gemeint - entschuldige", flüsterte sie zurück, drehte sich schnell um.
Das Räuspern des Standesbeamten half ihr über die Klippe. „So, nun noch die Unterschriften der Trauzeugen und dann können sie diesen glücklichen Tag gebührend feiern", verkündete er mit säuerlichem Blick; er war zur Hochzeitsfeier nicht eingeladen.
Gertrud, Udos Schwester, und Hubert, sein Verwalter, schrieben ins Buch, tief gebeugt und lange lesend, was sie da unterschrieben.
Die Gratulanten standen Schlange; ganz vorne Marga, Udos Mutter, eine herrisch blickende Frau mit hagerem Gesicht und einem spitzen Kinn, mit verkniffenen Lippen und einem streng gebundenen grauen Haarknoten.
„Mein lieber Sohn, ich wünsch' dir viel Glück", sagte sie mit vielsagendem Blick, hob die Stimme nicht an und hauchte Udo einen Kuss auf die Wange.
„Ich wünsch dir alles, was Udo gut tut", sagte sie an Siggis Gesicht vorbei; sie sah sie dabei nicht einmal an.
„Das kriegt er auch so", flüsterte sie zurück.
Udos Schwester gratulierte ihr wortlos, nickte nur und küsste Udo lang anhaltend. Am liebsten hätte Siggi laut „He! He!" gerufen, aber das hätte sicher nur die nächsten bösen Blicke produziert. Gertrud war noch unverheiratet und „hässlich wie der hinkende Köter auf dem Hof", wie Siggi spöttisch dachte.
Die jungen Burschen drängten sich vor und grinsten anzüglich. Sie gab ihnen die Hand und ignorierte ihre bewundernden und anzüglichen Blicke.
„Am liebsten würden die geilen Böcke mich mit ihren Augen ausziehen", dachte sie zufrieden.
Sie war hübsch - oder sogar schön - das wusste sie zur Genüge. Sie mochte ihr schmales Gesicht, das sanft geschwungene Kinn und die hohen Backenknochen.
„Udo kann froh sein, dass er mich bekommt", dachte sie und sah ihn von der Seite an. Sie hatten inzwischen alle ein Glas Sekt in der Hand. Die Älteren nippten, wie sie´s vom Fernsehen kannten und die Burschen und Mädchen kippten ihn herunter, schauten sofort nach der Flasche, aus der nachgeschüttet wurde. Udo sprach, laut lachend, mit seinen Freunden, die ihr dabei immer wieder verstohlen Blicke zuwarfen.
„Er sieht gut aus", dachte sie und musterte seine athletische Figur, die modische Frisur und das männliche Gesicht.
„Etwas brutal", dachte sie, „sieht er schon aus, aber insgesamt sehr männlich."
Seine scharf geschnittene Nase unterstrich diesen Eindruck noch; nur wenn er lachte, dann verlor sich dieser harte Ausdruck, dann wirkte er nett und sogar weich. „Wie hat die ihn nur verlassen können. Was ist da bloß abgegangen?"
„Udo hat Glück gehabt. So was Hübsches findet man bei uns im Dorf nicht", hörte sie einen Mann sagen. Es war Hubert, der Verwalter, der unverheiratet war und angeblich ins Bordell der Kreisstadt ging. „So was siehst du nur in der Stadt; Figur und Beine meine ich."
Er sprach mit Gertrud, von der sie als Antwort nur „Na, ja! Der Rest ..." hörte.
Sie genoss diese Stunde; sie stand im Mittelpunkt und es war ihr egal, ob sie gemocht wurde oder nicht. „Ich mag euch auch nicht", dachte sie und lächelte ihre Schwägerin Gertrud an, die schnell zu Boden blickte.
„Was ist das schade!", rief ihre Schwiegermutter. „Eine Hochzeit ohne kirchliche Trauung ist doch nur die Hälfte - oder noch weniger."
„Hör auf! Eine reicht mir. Es geht eben nicht alles", rief Udo, der sich von seinen Freunden trennte und zu seiner Mutter schlenderte. „Ist alles Monis Schuld; die hätte ja nicht abhauen müssen."
Er sah aus den Augenwinkeln den aufmerksamen Blick von Siggi und schob schnell nach: „Gott sei Dank, hat sie sich aus dem Staub gemacht. Sonst hätte ich dieses Schmuckstück heute nicht heiraten können." Er lachte laut, drehte sich ganz zu ihr um und strahlte sie an. Sie kannte die Geschichte zur Genüge und hatte keine Lust, sie an ihrem Hochzeitstag noch einmal zu hören.
„Ich hab Hunger!", rief sie Udo zu. Er lachte, ließ sich das Sektglas noch einmal nachfüllen und trank das Glas in einem Zug aus. „Dann los, Freunde! Auf! Auf! Das Essen wartet auf uns!"

Es war eine typische Bauernhochzeit - mindestens entsprach das der Vorstellung von Siggi, die bei ihren Freunden in der Stadt ganz andere Feten gewöhnt war.
Eine Drei-Mann-Gruppe spielte seit ihrer Ankunft im „Wilden Ochsen" pausenlos Altertümchen, die vor Siggis Geburt ihre Glanzzeit erlebt haben mussten.

Es gab Schweinebraten, Erbsen und Möhren, Kartoffeln und fette, braune Soße. Die Teller wurden hoch voll gepackt aus der Küche getragen und die Bedienung erntete dafür bewundernde oder zustimmende Ausrufe - manchmal auch einen aufmunternden Klaps auf den Hintern. „Wunderbar!", „Hm, das duftet!", „Hoffentlich gibt´s Nachschlag!"
Siggi betrachtete die Scheitel der Köpfe, die tief über die Teller gebeugt waren und in die in gleichmäßigem Tempo geschaufelt wurde; sie aß betont langsam und mit zierlich gespreizten Fingern.
Als Nachspeise gab´s Eis; Schokolade und Vanille. Die Burschen flachsten und riefen durcheinander: „Die schmilzt schon in deiner Nähe, Kleine!" oder „Eis macht heiß!" und „Da ist dir gerade ein Klecks in den Ausschnitt gefallen?" Das wurde jedes Mal mit grellem Lachen belohnt.
Mit „Hallo!" begrüßten die Männer die erste Runde Schnaps; „Doppelte Ladung bitte!" und danach gab´s pausenlos Bier. Ab und zu trank man wieder Schnaps und die Frauen schlürften süßen Wein, der von der Mosel stammte.
„Kröver Nacktarsch! Spätlese! Ich sag immer: Wenn schon Wein, dann muss es ein guter sein", tönte Siggis Schwiegermutter. „Das saure Zeug können andere trinken. Bei uns kommt nur Gutes auf den Tisch."
Die Musiker forderten die Gesellschaft zum Tanz auf. Siggi und Udo eröffneten die Tanzerei, die erst weit nach Mitternacht endete. Sie musste mit allen Männern tanzen, die ihre Frauen nicht dabei hatten oder die noch Junggesellen waren; sie fühlte die bewusst herbeigeführten engen Kontakte, ohne darauf zu reagieren. Die Männer sprachen nicht beim Tanz, konzentrierten sich auf den Takt der Musik, auf ihre unbeholfenen Füße - und auf Siggis Körper.
Nur ein junger Bursche, der sich als Fred vorstellte, fing ein Gespräch an.
„Udo hat Glück, dass er dich gekriegt hat."
„Oder ich ihn."
„Na ja. Ist ja wohl egal. Siehst super aus. Finden wir alle. - Mist, hab ich dir auf den Fuß getreten? - Wenn du mal Abwechslung brauchst - ich bin immer für dich da."
„Übernimm dich nicht. Bist du denn schon erwachsen? Was sagt deine Mama denn dazu?"
Er wurde rot, machte ein beleidigtes Gesicht und sagte nichts mehr. Siggi war müde und wollte nur noch ins Bett. Ihre Schwiegermutter, die rechts neben ihr saß, hatte noch nicht ein Wort zu ihr gesagt - außer „Prost!" beim ersten Glas Wein. Siggi gähnte anhaltend und hielt sich schon seit einiger Zeit dabei nicht einmal mehr die Hand vor den Mund.
„Tanz mit mir!" Fred stand schwankend vor dem Tisch. Er schwenkte ihren Oberkörper wild in alle Richtungen. Seine Schritte hatten nichts mehr mit dem Rhythmus der Musik zu tun; er wollte nur sein rechtes Bein zwischen ihre Oberschenkel zwängen.
„Lass das!"
„Was?", fragte er und grinste sie mit verzerrtem Gesicht an.
„Stopp! - Es reicht! Verschwinde, du geiler Zwerg!"
Udo stand schwankend neben ihnen, in der Hand ein halb volles Bierglas. Er versuchte streng auszusehen, stierte Fred an. Dann zog er ihn am Arm mit sich und drückte den glasig blickenden Fred von der Tanzfläche.
Alle Männer waren betrunken; die meisten Frauen lächelten blöde in ihre Weingläser oder pendelten zwischen Toilette und Hof; Unterhaltung gab es schon längst nicht mehr. Niemand beachtete den kleinen Zwischenfall. Siggi blickte sich um; sie roch den kalten Rauch und den Bierdunst; sie hatte genug; ihr Spaß an der Sache war plötzlich weg.
„Komm! Wir hauen ab", flüsterte sie Udo ins Ohr, der sie mit einem starren Blick ansah und wie in Zeitlupe nickte. Er zog sie auf die leere Tanzfläche, drehte sich um die Achse und schwenkte die Arme.
„He! Hört mal alle zu! - Siggi und ich haben jetzt was Besseres vor. Ihr wisst schon."
Er lachte schallend und anzüglich. Die, die noch verstanden, was er sagte, lachten ebenfalls und einer rief: „Brauchst du Unterstützung?"
„Schaff ich noch allemal alleine. Mindestens fünf Mal, mein Lieber."
Wieder lachten einige Männer; die Frauen sahen Siggi starr an, suchten nach Erröten und keusch niedergeschlagenen Blicken. Aber Siggi sah geradeaus, quer durch den Saal zur Tür und wünschte sich sehr weit weg.

Sie hatte fast nichts getrunken, trotzdem schmerzte ihr Kopf, als sie am Morgen über den Bauernhof ging. Udo schnarchte noch; er schlief bereits, seitdem er die Hose abgestreift hatte und mit Getöse ins Bett gefallen war; er hatte die ganze Nacht Töne abgesondert, als läge er im Sterben.
„Mindestens fünf Mal! - Ha!", dachte sie und war gleichzeitig froh über seinen tiefen Schlaf; sie mochte keine besoffenen Männer.
Sie kannte sich aus auf dem Hof, sie wohnte seit fast drei Monaten hier.
„Du bist meine Frau! Lass die Dummschwätzer doch reden", hatte Udo gesagt. Sie hatten nur noch auf den Vollzug der Scheidung gewartet, um endlich zu heiraten. Der Unterschied zum Stadtleben war gewaltig. Sie genoss die ländliche Stille mit ihren „Nichtgeräuschen", wie sie immer sagte, wenn Pferde wieherten und Kühe schnaubten, die ihre Mäuler tief ins Silofutter steckten.
„Du bist saublöd!", hatte ihre Mutter gesagt, zu der sie immer Mona sagen sollte, und ihr einen Vogel gezeigt. „In spätestens drei Monaten biste wieder hier. Wetten?"
Ihre Mutter! Sie hätte gerne Mama zu ihr gesagt, aber dann hätte es bestimmt eine Ohrfeige gegeben.
„Schlimm genug, dass ich ein Kind hab'; musst mich ja nicht ständig dran erinnern. Warst ein blöder Unfall, wenn du weißt, was ich meine."
„Bildende Künstlerin", sagte Mona allen Leuten, die sie nach ihrem Beruf fragten, und sie lachte dabei ihr rauchiges, vulgäres Lachen, das sie aus der Bar mitgebracht hatte, in der sie sich an jedem Abend auszog.
„Was ich mache, ist Kunst in Reinkultur; jeden Abend neu. Ist doch egal, wie du Geld machst. Hauptsache, du machst Geld - und zwar genug", hatte sie Siggi erklärt, die sich ständig gegen Vorwürfe und Hänseleien der Klassenkameraden wehren musste.
Sie war gerade neunzehn geworden, als sie zum ersten Mal in der Bar ihrer Mutter erschien. Die war an dem Abend so stolz, dass sie jeden Freier zuerst zu ihrer Tochter schleppte.
„Guck sie dir an. Mein Küken!

Meine jüngere Schwester Siggi. Na? Ist das was? Die macht ihr Geld bald im Schlaf", hatte sie gerufen und beim Lachen rau gehustet.
Und an diesem ersten Abend war Udo aufgetaucht. Er war mit einem Freund gekommen, saß trübsinnig an der Bar und stierte in sein Glas.
„Mach ihn an, Siggi", raunzte ihre Mutter sie an. „Der Junge hat Kohle; ich kann´s riechen."
„Lass mich in Ruhe, Mona. Ich bin Gast hier. Ich leg mich nicht unter ein besoffenes Schwein", hatte sie wütend geantwortet.
„Üben! Sollst ja nur mal üben. Marktwert testen, sagt unser Chef immer."
„Leck mich, Mona! Ich kenne meinen Marktwert. Ich will keine Nutte werden."
Sie hatte ihn nicht angemacht, aber nach einer Stunde hatte Udo sie zum Tanz aufgefordert. Sie fand ihn sympathisch, vor allen Dingen, als sie bemerkte, dass er nicht betrunken war - und sie auch nicht anmachen wollte.
„Bist du alleine hier?", fragte er und schien verlegen zu sein.
„Ja. Ich bin Gast hier - und nicht angestellt." Diese Klarstellung schien ihr in diesem Augenblick sehr wichtig zu sein.
Er lachte und sah sie belustigt an. „Meinst du, sonst würde ich mit dir tanzen? Ich rieche Nutten auf hundert Meter. Kann sie nicht ausstehen. Widerliches Volk!", sagte er böse.
Sie setzten sich an einen Tisch in einer der Nischen. Udos Freund war bereits mit einem der Barmädchen beschäftigt; er sah sich nicht einmal um.
Udo stellte sich förmlich vor, machte sogar einen tiefen Bückling, was Siggi saukomisch fand, wie sie nach einem Lachanfall zu ihm sagte. Udo sah sie seltsam an und erzählte von sich, beschrieb seinen Bauernhof, auf dem eine Frau keine Arbeit verrichten müsste. „Außer im Haus - wie jede Hausfrau. Ich brauch keine Magd."
Und später, als sie eine halbe Flasche Wein geleert hatten, sprach er von seiner Frau, die ihn vor mehr als acht Monaten - „von einem Tag auf den anderen" - verlassen hatte.
„Alle Kleider, Schuhe, Schmuck - alles hat sie mitgenommen. Ich war auf dem Feld und als ich am Abend auf den Hof fuhr, war sie weg."
„Hatte sie Gründe?"
„Sicher! Sie hat einen Abschiedsbrief auf ihrem PC geschrieben. Sie hätte einen Freund, mit dem sie nach Südfrankreich gehen würde. Sie käme nicht mehr zurück. Ich könnte machen, was ich wollte; sie sei mit einer Scheidung einverstanden."
Am nächsten Tag hatte er den Brief genommen und war zu seinem Anwalt in der Stadt gefahren. Er hatte die Scheidung eingereicht und wartete auf den Ablauf der Frist.
„Es war schwierig. Sie wollten sie unbedingt abfragen; sie sollte Formulare ausfüllen. So ein Quark! Wie sollte ich sie erreichen? Aber jetzt ist alles klar. In vier Monaten bin ich frei", sagte er zufrieden.
Sie tauschten ihre Adressen aus und von da ab trafen sie sich ein bis zwei Mal in der Woche. Schon bei ihrem dritten Treffen fuhren sie auf seinen Hof. Er führte seinen Besitz vor - ohne Stolz, zählte nur auf, was an Bestand da war - und am Abend wurden sie zum ersten Mal intim. Eine Woche später zog sie zu ihm auf den Hof.
„Ich fass es nicht! Aufs Land willst du dumme Kuh? Du machst dein ganzes Leben kaputt", fauchte ihre Mutter, als sie ihr beim Packen half.
„Und wenn du dich erschießt! Zu deiner Hochzeit mit diesem Landei komme ich nicht. Ich kenn die Sorte Pastorentöchter und Chorgänse; ich lass mich doch von diesen alten Weibern nicht begaffen, als wenn ich drei Köpfe hätte.
Heiraten musst du allein."
Sie war tatsächlich nicht gekommen, hatte nicht einmal Glückwünsche geschickt.
Siggi stand früh auf, wusch sich und ging an die frische Luft; der Dunst der vergangenen Nacht steckte noch in ihrem Kopf. Als sie ein Pferd schnauben hörte, ging sie sofort zum Pferdestall, streichelte die rausgestreckten Köpfe; sie mochte die Pferde und ihren Geruch.
Schon am zweiten Tag hatte sie die Kutsche entdeckt - und damit ihre neue Leidenschaft. An jedem Tag, an dem das Wetter es zuließ, ließ sie sich von Hubert, dem Verwalter, der auch die Tiere betreute, die Kutsche anspannen. Hubert zeigte ihr, wie sie ohne Hilfe auf den hoch angelegten Kutschebock kam - und ebenso wieder runter.
„Stellen sie die Kutsche einfach hier neben den Betonsockel; da ist das Güllesilo drunter; da können sie bequem in die Kutsche und auch wieder raus."
„Was ist ein Güllesilo?"
„Eine stinkige Sache! Da läuft aus allen Ställen die Schiete und die Pisse von den Tieren rein. Wenn's voll ist, pumpen wir´s in Kesselwagen und düngen damit die Felder - aber nur, wenn Regen angesagt ist. Wollen sie mal reinriechen?"
„Oh Gott! Nein! Mir wird schon schlecht, wenn ich an den Gestank denke."
Er hatte laut gelacht und etwas vom noch schlimmeren Mief in der Stadt gemurmelt. Die Betondecke war wirklich wie ein Podest; drei Betonstufen führten auf die Platte. Wenn sie die Kutsche geschickt positionierte, brauchte sie nur noch einen Schritt zu machen, um auf den steilen Kutschbock zu kommen.
„Ist extra für Stadtpflanzen gemacht", sagte Udo grinsend, als er beobachtete, wie sie mit einem Sprung von der Kutsche auf der Platte landete.
Sie fuhr oft eine ganze Stunde lang völlig alleine, meistens im Schritt-Tempo, durch die nahen Wälder oder über die ewig langen Wirtschaftswege.
„Heute nicht!", sagte sie zum Braunen, der ihr mit aufforderndem Schnauben die Nüstern entgegenstreckte. „Heute ist ein anderes Programm angesagt. Morgen - ich versprech´s dir!"

Udo saß mit verkatertem Gesicht am Küchentisch und lächelte verlegen, als sie hereinkam.
„Na? Möchtest du mich verführen, Bräutigam?"
„Hör auf! Mir ist schlecht, sauschlecht"
„Nix mit Bett und so?"
„Nix mit allem! Schnapp dir die Kutsche und fahr raus. Ist doch ein Superwetter. Oh, verdammt!" Er rannte zur Toilette und die Würgegeräusche wollten nicht aufhören.
„Mein Gott! Wie siehst du aus", sagte sie erschrocken, als er sein graues Gesicht durch die Tür steckte.
„Hau ab! Fahr raus! Ich werd' schon alleine fertig; bin nicht unerfahren mit so 'ner Krankheit."
Sie blickte durch das niedrige Küchenfenster; der Himmel war wirklich blau, kaum Wind - die Blätter an der Birke zitterten nur leicht. „Er hat recht", dachte sie und stand auf. „Was soll ich hier versauern."
Hubert war nicht zu sehen; sonntags unternahm er zwischen den Fütterzeiten oft ausführliche, lange Inspektionen der Felder.

Sie hatte Hubert oft genug zugesehen und konnte dem gemütlichen Braunen problemlos das Geschirr anlegen; das Einspannen in die Kutschendeichsel war sowieso leicht für sie; das hatte sie schon oft alleine geschafft. Sie führte den Braunen neben das Güllesilo und stieg in die Kutsche. Als sie vom Hof fuhr, lag das niedrige, alte Haus still und wie geduckt in der Sonne.
Der Waldweg begann unmittelbar hinter dem Maisfeld; es war einsam hier und still; nur Vogelgezwitscher und die Geräusche der im Sand mahlenden Räder waren zu hören.
Als sie den Mann am Wegrand stehen sah, glaubte sie zuerst an eine Täuschung. Die Schattenmuster der Blätter verwischten seine Konturen; er stand völlig reglos unter einer Eiche.
„Fred? Was machst du denn hier?"
„Ausdünsten! Schnaps und Bier freisetzen."
Sie lachte und sah ihn genauer an. Er wirkte im Vergleich zu Udo recht ausgeschlafen; sein Lächeln freute sie. „Scheinst den Suff leichter weg zu stecken als Udo. Fährst du ein Stück mit mir? Kannst ja dabei ausdünsten."
„Wirklich? Gerne!", rief er und sprang mit einem großen Satz auf den Kutschbock.
Sie fuhren zunächst schweigend, genossen die laue Luft und die schattigen Waldwege. Dann spürte sie, dass er näher rückte. Durch das dünne Kleid spürte sie seine Hitze und schob sich an den Rand des Sitzes. Bei nächster Gelegenheit wendete sie, fuhr aus dem Wald heraus und nahm den Wirtschaftsweg, der zum Hof führte. Weit hinten auf einem der Felder entdeckte sie einen grünen Traktor.
„Ist doch Sonntag heute; was macht der denn?"
„Gülle ausbringen. Für morgen ist Regen angesagt, da kannste keine Rücksicht auf den Pastor nehmen."
Sie konnte die Gebäude schon erkennen; die Fenster blinkten im Sonnenschein, als er sie am Arm berührte. „Ich mag dich, Siggi. Darf ich dich einmal küssen? Nur einmal! Bitte!"
Er blickte sie an wie ein müder Bernhardiner und sie musste lachen. Was soll´s, dachte sie und hielt ihm die geschlossenen Lippen hin.
Er küsste sie sanft, dann drängend, schob seine Hand in ihren Nacken und sie öffnete ihre Lippen. Es gefiel ihr, und der leichte Schwindel machte sie fast willenlos. Aber als sie seine andere Hand auf der Brust spürte, schüttelte sie ihn ab.
„Schluss! Das war nicht abgemacht. Es reicht für jetzt und alle Zeit. Und wehe, du sagst ein Wort zu deinen Freunden. Wenn ich was darüber höre, sage ich, du hättest mir aufgelauert und mich vergewaltigen wollen."
Sie hatte es mit einem drohenden Unterton gesagt; er sah sie erschrocken an und nickte. „Kannst dich drauf verlassen. Ich mag dich und will dir nichts Schlechtes. Hier im Dorf mögen sie dich nicht; sie sind neidisch und glauben, du wärst der eigentliche Grund, warum Moni damals abgehauen ist."
„Was haben die mit dieser Moni? Die ist doch abgehauen. Ist doch nicht meine Schuld."
„Weiß ich auch. Sie mochten die Moni, sie war von hier, aus dem Dorf; sie ist hier zur Schule gegangen. Ich weiß, dass du nicht der Grund für ihre plötzliche Abreise warst; Udo hat mir erzählt, dass sie wohl schon länger einen Freund in der Stadt hatte."
„Wie war sie denn?"
„Moni? Na ja. Sie war so schön wie du, aber sie machte alle Männer an; Udo war ständig eifersüchtig. Er soll sie einmal verprügelt haben - sagt man", fügte er schnell hinzu.
„Und du? Hattest du auch was mit ihr? Haste ihr auch aufgelauert - so wie mir gerade?"
Er wurde puterrot und schüttelte den Kopf. „Nein! Nicht einmal geküsst hab ich sie - ehrlich."
Sie hatten nicht auf ihre Umgebung geachtet; der Braune zog schnurgerade die Kutsche durch den Torbogen. Siggi zuckte zusammen, als eine grelle Stimme sie anschrie.
„Hab ich euch erwischt? Gestern geheiratet und heute bumst sie mit meinem Freund. Hört das denn nie auf? Verschwinde! Fred, du Sau! Hau ab und komm mir nie wieder auf den Hof!"
Udo zog den völlig verblüfften Fred vom Kutschbock und der ging mit schnellen Schritten zum Weg zurück, sah sich noch einige Male sichernd um.
„Mit dir rede ich noch! Spann ab und komm rein", sagte er scharf zu Siggi, drehte sich um und verschwand im Haus.
Sie saß wie erstarrt auf dem Kutschbock und konnte keinen klaren Gedanken fassen.
„Hü!", sagte sie leise und schlug dem Braunen ungewohnt heftig die Zügel auf den Rücken. Wie in Trance rangierte sie die Kutsche neben das Silo, machte die Zügel fest und sprang aus der Kutsche.
Sie fiel und fiel; es wollte nicht aufhören. Dann kam alles gleichzeitig: ein irrer Gestank, schlüpfrige Nässe, über dem Kopf zusammenschlagende Gülle.
Sie schluckte tief, wollte entsetzt schreien und wusste instinktiv, dass sie den Mund voller Scheiße hatte. Sie fiel fast bis auf den Boden und erst als sie wieder hoch kam, wurde ihr Entsetzen vollständig. Sie war in das Güllesilo gestürzt!
„Neiiiin!", gurgelte sie.
Sie sah ein dämmriges Licht über sich. Im Rücken spürte sie die nasse, glatte Betonwand; die Hände stießen an die gegenüberlegende Wand. Ihre Augen waren verklebt; in der Nase war Gülle, die sie schnaubend ausprustete.
Sie strampelte mit den Füßen, um nicht wieder einzutauchen. Gleichzeitig tasteten ihre Hände nach einem Absatz in den Schachtwänden. Da war nichts!
Weiter! - Nichts! Nur glitschige Nässe! Die anderen Seiten. Nichts! Glätte, Nässe! Da musste doch eine Leiter sein. Nichts! Sie stieß sich den Kopf an der Wand, tauchte unter, schnappte nach Luft und schluckte wieder Gülle. Der Gestank machte sie fast wahnsinnig.
„Wenn ich raus bin, lieber Gott, dann stell ich mich eine ganze Woche unter die Dusche und trinke hundert Liter Wein und Bier."
Ihre Beine wurden immer schwerer; dann fiel ihr ein, dass sie um Hilfe rufen musste.
„Hilfeeeee! Udoooo! Udoooo! Hilfeeeee!"
Sie strampelte, schrie, ihre Hände rasten über die Wände, suchten nach einem Halt. Sie betete, wild und in Bruchstücken; Kindergebete, die Einzigen, die sie kannte. Sie schwor! Sie weinte und schrie immer leiser.
Es kam alles gleichzeitig: Ihre Beine verkrampften, ließen sich nicht mehr bewegen, die Arme sackten schlaff, gefühllos herunter, tauchten in die Gülle, ihr Kopf war wie vernebelt und aus ihrer Verzweiflung wurde willenlose Ergebenheit.
„Ich ertrinke in Kuhscheiße!", dachte sie, dann sackte sie weg, hing schlaff in der dicken Brühe. Ihre langen Haare schwammen auf der Gülle und sahen nicht mehr blond aus.

Udo hatte wütend auf sie gewartet, war dann, noch immer leicht benebelt, eingeschlafen.
Als er wach wurde, stand er taumelnd auf und öffnete das Küchenfenster. Sein Kopf schmerzte; es hämmerte und pochte in den Schläfen. Tief zog er die Luft ein und dachte an Aspirin. Dann sah er den Kopf des Braunen, der ruhig, wie eine Wachsfigur im Hof stand.
„Mist! Wo ist das Weib!"
Er ging raus und begriff, dass etwas nicht stimmte. Die Kutsche stand neben dem Silo; der Braune war mit gesenktem Kopf sehr ruhig; das Loch des Siloschachtes war unübersehbar, der Deckel lag etwa einen Meter entfernt. - Er ahnte es!
Er rannte und schrie: „Siggi! Siggi!"
Er stürzte auf den Betonboden; Arme und Schienbeine schrammten über den Beton; er schrie; er schob sich so weit, dass sein Kopf über dem Schacht hing; er starrte in die stinkende Brühe; er schrie. - Er wusste es!
In der Dunkelheit des Gülleschachtes konnte er nichts erkennen. Hoffnung! Einen Moment lang Hoffnung! Zweifel - plötzlich sah er die Haarsträhnen.
„Siggiiiii!" Sein Schrei wollte nicht aufhören.
Er hängte sich über den Rand, versuchte ihre Haare zu fassen, grabschte, fischte nach den tanzenden Strähnen, stöhnte voller Verzweiflung. - Er hatte keine Chance.
Er sprang auf, raste in den Stall, griff einen langen Eisenhaken, sprintete zurück, stocherte in der Brühe, zog, schob erneut, hakte - endlich verfing sich der Haken in ihrem Kleid, riss es auf, hakte sich erneut fest. - Er hatte sie!
Mit aller Kraft zog er, bekam sie hoch, fasste ihren Arm, ließ den Haken in die Gülle fallen und zog sie, nach hinten stürzend, auf sich. - Er wusste, dass sie tot war!
Er blieb liegen, unendlich lange; er hatte keine Gedanken im Kopf; nichts war da, was sich denken ließ. Er blinzelte in das grelle Sonnenlicht, fühlte ihren weichen Körper auf sich liegen, strich über ihre nackten Arme - und schmeckte die Gülle, die von ihren Haaren in sein Gesicht lief.
Langsam, unendlich sanft, legte er sie an die Seite, als wollte er sie vor Verletzungen schützen. Er konnte nicht länger zögern, stemmte sich hoch, stand auf und fiel wieder hin; seine Beine waren nicht da.
Er kniff die Augen zu, blieb noch einige Minuten liegen, atmete tief und als er sie wieder öffnete, blickte er in die grünen Augen von Siggi. Ihr Gesicht lag dicht vor seinem; ihre Haut war bräunlich gesprenkelt; wässrige Gülle lief langsam über die starren Pupillen.
Jetzt musste er aufstehen; die Beine waren schwammig, aber sie waren wieder fühlbar. Er taumelte, schlingerte, war ohne einen klaren Gedanken, fand den Weg in den Hausflur. Dann stand er endlich vor dem Telefon, griff den Hörer und wählte den Notruf.
„Unfall! Schnell! Meine Frau! In den Gülleschacht! Ertrunken! Kommen sie schnell! - Ach so! Merler Hof!"
„Scheiße! Scheiße!", dachte er. „Was ist da passiert? Wer hat das gemacht?"
Er ging zurück und setzte sich auf das Silo. Siggi sah ihn starr an, als er ihr Gesicht betrachtete. Keine Änderung. „Endgültig! Das ist mehr als ein Albtraum", dachte er bitter.
Die Sirenen waren erst sehr leise, wurden lauter, grell, dann konnte er verschiedene Töne unterscheiden, die sich überlagerten, eine eigentümliche Melodie formten, die - wie immer - Unglück und Tot verkündeten.
„Wie beim großen Geläut am Sonntag, wenn die zwei kleinen mit den zwei großen Glocken zusammen spielen", dachte er, und sah die Wagen in einer Staubwolke den Feldweg rauf fahren.
Er stand erst auf, als Polizeiwagen, Feuerwehr und Notarzt durch die Toreinfahrt fuhren; mit einem gequälten Heulton verstummten die Sirenen.
Sie liefen an ihm vorbei, machten ihren Job routiniert, sachlich, unaufgeregt. Teilnahmslos stand er dabei, als der Arzt Siggi untersuchte. Er nickte, als der Arzt den Kopf schüttelte. Sie fotografierten alles; machten Fotos vom Hof und vom Silo, von der Kutsche, die noch immer vom Braunen abfahrbereit gehalten wurde, vom Braunen, der beim Blitz mit dem Kopf ruckte, von Siggi aus allen Positionen, von dem Loch im Silo, und zum Schluss mehrere vom Deckel; sie hatten ein Maßband zwischen Loch und Handgriff des Deckels gelegt.
Über dem Silo hing eine Dunstglocke, die aus dem Silo und von Siggi hoch stieg. Die Beamten hielten sich hin und wieder die Nase zu oder gingen ein paar Schritte zur Seite, um Luft zu holen.
Immer wieder wurde gemessen, die Tiefe des Silos ausgelotet und das Gewicht des Deckels geschätzt. Der Abstand vom Loch zum Deckel interessierte sie so sehr, dass sie ihn zwei Mal maßen.
Niemand sprach mit ihm. Dann kam der Leichenwagen und Siggi wurde in einen Blechsarg gelegt.
„In die Rechtsmedizin!", forderte ein ziviler Polizist, der wohl nicht älter war als Udo.
Der Hof leerte sich schnell. Als Feuerwehr-, Notarzt- und Einsatzwagen der Polizei verschwunden waren, stand nur noch ein Zivilwagen neben der Kutsche. Der Braune ließ ergeben den Kopf hängen, scharrte hin und wieder mit den Vorderhufen im staubigen Hofbelag. Dann erst entdeckten die Beamten Udo - wenigstens taten sie so.
„Aha! Sie haben uns gerufen? Sie sind Udo Merler?"
Er nickte und schwieg. Sie standen um ihn herum, belauerten ihn, sahen abschätzend auf ihn herunter. Er saß auf der Kante des Silos, dicht neben der Treppe.
„Jetzt erzählen sie mal! Was ist passiert?"
Er blickte langsam hoch, in die teilnahmslos wirkenden, jungen Gesichter. „Wir haben gestern geheiratet."
„Oh! Tatsächlich? Das tut mir Leid", sagte der junge Beamte und lächelte blöde.
„Wer sind sie überhaupt? Sie haben sich nicht mal vorgestellt!", sagte Udo ärgerlich.
„Ach so! Wir sind aus der Kreisstadt. Kripo. Hier sind unsere Ausweise."
Sie hielten ihm kleine, checkkartengroße Plastikausweise hin. Er sah sie nicht an.
„Mein Name ist Jürgens, das ist Bolder und der Kleine ist Hansen; wir bearbeiten unnatürliche Todesfälle. Dies ist ja wohl einer, nicht wahr?"
„Ja, das ist wohl einer - glaube ich."
„Na, im Bett ist sie nicht gestorben, nicht wahr? So was hab ich noch nie erlebt - und das will was heißen! Also, wie kommt ihre Frau in dieses Silo? Haben sie eine Erklärung dafür?", fragte der Kleine.
„Nein. - Doch! - Ich meine, ich vermute einfach; sie ist aus der Kutsche gestiegen und in den Schacht gefallen."
„Aha!"
„Aha! Aha! Grinsen Sie nicht so blöde! Sie stieg immer so aus der Kutsche. Sie sehen doch, dass die Kutsche noch da steht."
„Ja gut, keine Aufregung. - Kann nicht mal einer den Gaul von der Kutsche befreien?"

„Hubert, mein Verwalter, kommt gleich. Er ist unterwegs auf dem Feld. - Dem Braunen macht das nichts aus."
„Na, meinetwegen. Wo waren sie, als das passierte?"
„Ich hab' geschlafen; ich war müde von der Feier - und mir war schlecht; es war spät gestern."
„Und ihre Frau war alleine mit der Kutsche unterwegs? Und hat alleine die Schachtabdeckung geöffnet?"
„Ja - nein! Die Schachtabdeckung wohl nicht; der Betondeckel ist zu schwer für sie."
„Sieh an! War er denn schon auf - der Schacht -, als ihre Frau abfuhr?"
„Ich glaube nicht - ich weiß nicht; ist ja Sonntag heute; wer sollte den öffnen - und wozu?"
„Sehen sie! Da haben wir schon die gleichen Zweifel!"
„Was für Zweifel?"
„Am Unfalltod ihrer Frau", sagte Jürgens im Wegdrehen.
„Haben sie vor, zu verreisen?", fragte Bolder, ein blasser Mann, der bisher im Hintergrund geblieben war.
„Nein, wieso?"
„Wir brauchen sie noch. Bleiben sie auf dem Hof oder informieren sie uns, wenn sie wegfahren."
„Und morgen kommen sie so gegen zehn - mit ihrem Verwalter - ins Präsidium", ergänzte der Beamte Hansen und gab ihm eine Visitenkarte.

Sie waren längst verschwunden, als Hubert durchs Tor kam. Er ritt den Falben, der ihm von Udos Vater geschenkt worden war.
„Guten Morgen! Ausgeschlafen?"
Er saß noch immer auf der Silotreppe, hatte aber inzwischen den Braunen von der Kutsche befreit und in den Stall gebracht. „Komm her, Hubert!", sagte er scharf.
Mit gerunzelter Stirn stakste der Verwalter auf ihn zu, zog den Falben hinter sich her. „Is' was?"
„Setz dich! Es hat einen Unfall gegeben."
„Ich versteh nicht. Wieso einen Unfall? Wer hatte den?"
„Siggi - Siggi ist tot! Sie ist aus der Kutsche gestiegen und ins Silo gestürzt."
„Was? - Nein! Nein!"
„Doch! Die Polizei war hier, Notarzt und Feuerwehr."
„Ich hab's Martinshorn gehört; verdammt. Sag, dass das nicht wahr ist - du bist noch besoffen." Der Verwalter blickte sich suchend um, starrte auf die offen stehende Haustür.
„Nein, dieser Albtraum ist wahr. Der Deckel war nicht auf dem Schacht. Sie ist aus der Kutsche gesprungen - direkt ins Loch. Hast du ihn weggenommen?"
Er blickte hart in das blasse Gesicht seines Verwalters, dessen Augenlider wild zuckten, forschte ihn aus, registrierte jede Regung.
„Das stimmt doch alles nicht! Doch nicht Siggi! Du machst Scherze."
„Es stimmt! Ich bin seit gestern verheiratet und seit heute Witwer." Er lachte grell, freudlos und schlug sich mit der Faust heftig aufs Knie.
„Sag was, Hubert! Hast du den Deckel weggenommen? Du musst es gewesen sein. Es war kein anderer auf dem Hof."
Das Zucken verstärkte sich und Huberts Mund ging sinnlos auf und zu. Er würgte, blickte zum Schacht und dann zum Deckel, der mehr als einen Meter weiter weg lag.
„Sie ist ertrunken? In der Scheiße ertrunken? Oh, mein Gott! Warum? Wieso? Was ist passiert? Ihr habt doch noch geschlafen, als ich wegritt."
„Sie nicht, sie wollte an die Luft; mir war noch sauschlecht."
„Aber ich hab den Deckel doch nicht angehoben", flüsterte Hubert stockend und Udo fühlte etwas, was er von Hubert nicht kannte.
„Sag die Wahrheit, Hubert! Niemand macht dir einen Vorwurf, wenn du ihn abgehoben hast - warum auch immer. Da konnte keiner mit rechnen, mit so was. Hast du den Güllestand geprüft und vergessen, ihn wieder drauf zu tun?"
„Nein! Nein! Hab ich nicht!", schrie Hubert und Udo spürte Panik, Entsetzen - und tierische Angst.
„Wir müssen morgen ins Präsidium. Sie wollen uns verhören; sie glauben nicht an einen Unfall."
„Was? Was soll es dann sein? Was denn sonst?"
„Was kann´s denn sein außer Unfall? Denk nach!"
„Nein! Das ... Wer sollte das tun?"
„Eben!"

Sie fuhren erst nach dem Mittagessen in die Stadt. Im Präsidium wurden sie schon erwartet; die drei Beamten vom Vortag saßen an ihren Schreibtischen.
„Sie kommen spät!" Da war Groll hörbar.
„Ein Bauernhof ist kein Spielzeug. Die Tiere haben Vorrang", brauste Hubert auf.
„He! Langsam, ja? Wer sind sie?"
„Hubert Felger. Verwalter bei Herrn Merler."
„Aha! Also, haben sie überlegt, wer den Deckel entfernt haben könnte?"
„Ja", sagte Udo und sah Hubert an. „Wir wissen es nicht."
„Keine Idee?"
„Nein! Verdammt! Der Hof war unbewacht; da konnte jeder rein und den Deckel wegnehmen."
„Wozu? Um Scheiße zu klauen?"
Sie schwiegen; die Beamten drehten Bleistifte und sahen vor sich hin. Dann stand der junge Beamte auf, der sich als Jürgens vorgestellt hatte. Er stellte sich so dicht vor den Stuhl von Udo, dass sich ihre Knie berührten.
„Gab´s Streit zwischen ihnen und ihrer Frau?"
„Was? Quatsch! Wir waren erst ein paar Stunden verheiratet. Nein! Verdammt nochmal! Was wollen sie mit dieser Frage?"
„Noch einmal! Gab es gestern Streit zwischen ihnen?"
„Und ich sage ihnen noch einmal: Nein! Nein! Nein!"
„Aha! Wir haben da aber etwas anderes gehört. Hatten sie nicht einen Riesenstreit, weil ihre Frau mit ihrem Freund rausgefahren ist? Haben sie keinen Wutanfall bekommen, weil sie gesehen haben, wie sie sich geküsst haben?"
„Was? Moment mal! Wer hat wen geküsst? Wer hat ihnen das erzählt?"
„Der, der sie geküsst hat. Geben sie´s doch zu. Sie haben ihn vom Kutschbock gezogen und verjagt - und dann ihre Frau bedroht."
„Fred!"
„Richtig! Fred Burger! Er ist ein wunderbarer Zeuge; hält nichts hinter dem Berg. Ist ihre erste Frau nicht verschwunden, weil sie durch ständige Wutanfälle und Prügel wegen angeblicher Untreue genervt war?"
„Nein! Dorfgeschwätz! Sie hatte einen anderen!"
„Was wissen sie darüber, Herr Felger?"
„Ich? - Nichts. Da war nie was."
„Na gut. Haben sie sonst etwas bemerkt? Haben sie jemanden auf dem Hof gesehen, der da nicht hin gehörte? Haben sie Siggi Merler und ihren Freund, diesen Fred Berger, zusammen gesehen?"
„Nein, nichts hab ich gesehen. Ich war auf dem Feld, mit dem Pferd."
„Gut! Sie können gehen."
„Und mein Chef? Kann ich auf ihn warten?"
„Da müssen sie lange warten, befürchte ich. Sie werden vorläufig auf ihn verzichten müssen."
Der Verwalter ging rückwärts raus, tastete blind nach der Klinke und ließ keinen Blick von seinem Chef, der mit gesenktem Kopf auf dem Stuhl hockte.

Sie hatten ihn tatsächlich in U-Haft genommen. Der Richter hatte den Haftbefehl ausgestellt, trotzdem Udos Anwalt heftig protestierte. Der alte Konrad Hassel, der schon Udos Vater bei kleineren Strafsachen vertreten hatte, war mit dieser Angelegenheit überfordert, konnte keine entlastenden Argumente vorbringen. Die Tatsache, dass sie erst am Vortag geheiratet hatten, war vom Richter schmunzelnd zur Kenntnis genommen worden; er hatte wohl schon ganz andere, wesentlich bessere, Entlastungsversuche erlebt.
Sie waren allein im Besucherzimmer; Udo sollte mit seinem Anwalt die Ermittlungsergebnisse durchsprechen.
„Sie haben am Körper von Siggi Verletzungen gefunden, die nicht unbedingt vom Sturz stammen müssen, sagen sie", erklärte der Anwalt.
Seine Hände zitterten, als er die Unterlagen aus der Tasche zog. Er schichtete sie ordentlich auf und begann zu blättern.
„Sie haben noch weitere Zeugen gefunden, die aussagen, dass du Moni geschlagen hast. Sie suchen sie jetzt mit Interpol, wollen ihre Version hören."
„Was wollen die mit Moni? Was hat die damit zu tun? Was wollen die mir anhängen? Mord? Ich habe Siggi nicht getötet. Bei allem, was mir heilig ist!"
„Ist dir was heilig, Udo? Sag das nicht so leicht."
„Verdammt! Bist du mein Anwalt oder nicht? Ich hab' sie nie, nie geschlagen - und vor allen Dingen auch nicht getötet."
Sie fanden keine Erklärung, keinen Ausweg; die Indizien schienen lückenlos und passend zu sein.
„Als hätte einer dran gedreht", seufzte Udo.

Am dritten Hafttag kam seine Mutter. Sie hatte sich ihr bestes Kleid angezogen; ihr hartes Gesicht sah aus, als wäre es aus Stein gemeißelt.
„Hör zu! Ich übernehme das Kommando. Du warst es nicht! Das wissen alle. Aber die Polizei will dir was anhängen. Das lassen wir uns nicht gefallen. Ein Merler lässt sich von so einem Pack nicht verunglimpfen. - Und du auch nicht. Hast du gehört?"
„Ich habe es gehört, Mutter. Aber was willst du tun?"
„Es muss doch etwas geben, was dich entlastet."
„Keiner glaubt, dass Siggi alleine ins Silo gestürzt ist. Keiner nimmt mir ab, dass ein Unbekannter den Deckel entfernt hat. Keiner akzeptiert, dass ich mit Siggi glücklich war."
„Das letzte glaube ich auch nicht. Du weißt, wo sie herstammt. Sie war ein Flittchen wie ihre Mutter. Und sie hat dich geangelt, weil du reich bist; sie wollte Geld - dein Geld, mein Lieber."
„Glaub, was du willst! Du hast keine Ahnung von uns - von Siggi schon gar nicht. Du kanntest sie nicht. Wir haben uns geliebt; das ist das Einzige, was stimmt."
„Und dass sie deinen Freund als Geliebten hatte? Dass sie dich am Tag nach der Hochzeit schon betrogen hat? - Und wer weiß, wie oft schon vorher?"
„Alles gelogen! Hör auf! Und verschwinde! Es reicht mir!"

Die Tage in der U-Haft schlichen endlos dahin. Das frühe Tageslicht weckte ihn und dann saß er teilnahmslos auf dem Bett bis zum späten Abend. Sein Essen rührte er kaum an, schlich sofort wieder aus dem Essensraum in die Zelle.
Nach einer Woche teilte ihm sein Anwalt mit zittriger Stimme mit, dass die Ermittlungen abgeschlossen seien. Er müsse schon bald mit dem Prozess rechnen.
„Sie klagen dich wegen Mord aus niederen Beweggründen an. Nimm dir einen jungen, erfahrenen Anwalt, Udo. Ich bin zu alt - und ich habe mit solchen Sachen keine Erfahrung. Für deinen Vater ging es meist um kleine Sachen, Grundstücksdinge und Streit mit Nachbarn. Ich reite dich nur tiefer rein. - Die Sache steht schlecht!"
Udo hatte während der ganzen Nacht nicht geschlafen; seine Gedanken hatten ihn wach gehalten. Er wusste selber, wie es stand und was passieren würde. Als die Morgendämmerung durchs Fenster kroch, hatte er endlich Klarheit. Von diesem Augenblick an verspürte er eine seit langer Zeit nicht mehr erlebte Ruhe.
„Vielleicht ist das alles kein Zufall. Was will ich noch? Ist doch alles umsonst", dachte er und fasste seinen Entschluss.
Er sah seinen Anwalt lange an und schüttelte den Kopf. „Ich will keinen anderen Anwalt. Du machst es, so gut du kannst. Und mach keinen Wirbel. Sie werden mich verurteilen - unschuldig verurteilen. Sie werden auf Mord oder Totschlag erkennen und mich für etliche Jahre in den Knast schicken."
„Verdammt, Junge! Das kann doch nicht dein Ernst sein. Du darfst nicht aufgeben."
„Ich hab ja nicht aufgegeben. Ich will es so, wie ich´s gesagt habe. Schluss!"

Es wurde schon früh dunkel. Der Herbst schnibbelte kräftig an den Tagen herum, machte sie kurz und die Zeiten der Dämmerung, in denen er in seine Gedanken versank, unendlich lang.
Er zog seine Jacke enger; er fröstelte und er fühlte sich elend. Er schlurfte mit gehörigem Abstand hinter dem Vollzugsbeamten her, der die trennenden Türen geräuschvoll öffnete und schloss; der Schlüsselbund rasselte in immer gleichen Tönen.
Hassel, sein Anwalt wartete auf ihn, wischte fahrig mit den Händen über die Platte des Tisches, der mitten im kahlen, viel zu großen Raum stand.
„Junge! Du siehst schlecht aus. Wir machen uns Sorgen; deine Mutter schläft nicht mehr, sie rennt ständig zum Arzt."
„Das ist doch nichts Neues. Bist du deshalb gekommen?"
„Nein! Sei nicht so bitter; versuch doch zu verstehen, dass du nicht alleine unter dem Urteil und diesen Umständen leidest."
„Ach? Leidet noch jemand? Warum? Nur ich hab ein Recht auf Leiden. Nur ich. Zehn Jahre sind lang; netto sind´s zehn Jahre, sagtest du. Stimmt´s?"
„Ich sag´s ja: Du bist verbittert. Ja. Zehn Jahre sind lang. Das ist der Grund, warum ich hier bin. Ich möchte dich bitten, nochmals über einen Revisionsantrag nachzudenken; es gibt doch neue Fakten."
„Unwichtige! Das Geständnis von Hubert, dass er den Deckel weggezogen hat, ändert doch nichts."
„Doch! Jetzt wird ein Unfall wahrscheinlicher. Er hat ihn einfach vergessen, als er wegritt."

„Ach was! Mach dir doch nichts vor. Sie glauben das einfach nicht. Nicht einem so gewissenhaften Mann wie Hubert. Außerdem ist ihm das sehr spät eingefallen. Das wär eine verabredete Kiste, werden sie sagen. Also - was soll das alles?

Und wenn sie Hubert glauben würden, dann käme das nächste Argument: ich hätte dadurch nur die bessere Gelegenheit. Ich brauchte sie nur in die zufällig vorhandene Falle zu werfen. Basta!"
„Weißt du denn, was der Richter sagen wird? Greif ihm doch nicht vor. Was die Polizei dir sagt, ist nicht ausschlaggebend. Wir sollten die Möglichkeit wenigstens nutzen."
„Nein! Endgültig nein!"
„Verdammt, Junge! Warum nicht?"
Sie schwiegen sich an, fanden keine Möglichkeit, das Gespräch fortzusetzen. Durch das vergitterte Fenster fiel ein Streifen Licht von der Hoflampe; draußen war es schon dunkel.
Er wollte zurück in seine Zelle, suchte nach einem passenden Schlusswort. Er blickte den alten Mann an, erforschte seine Miene, erkannte Resignation und auch Trauer. Er tat ihm plötzlich Leid, dieser grundehrliche, einfache Anwalt, der sich schuldig fühlte, weil er nicht clever genug war und da war er entschlossen; er musste es ihm sagen.
„Hör zu! Du bist doch noch mein Anwalt. Stimmt´s?"
„Sicher. Warum?"
„Du wirst über das, was ich dir jetzt sage, für immer schweigen? Wirst du?"
„Ich muss sogar. Wenn du es willst - ja sicher."
„Ich muss mit jemandem darüber sprechen. Mit Mutter geht das nicht; die bekäme Schreikrämpfe."
„Also los! Was ist das für ein Geheimnis. Hat es damit zu tun, dass du keine Revision willst?"
„Ja - auch. Ich sitze hier für eine Tat, die ich nicht begangen habe. Wirklich nicht! Das weißt du! - Und ich büße damit für eine Tat, die ich sehr wohl begangen habe."
„Muss ich das verstehen?"
„Wirst du gleich, warte! - Moni hat mich nicht verlassen. Moni ist tot! Ich habe sie ermordet; sie liegt unten im Güllesilo - seit mehr als einem Jahr schon."
„Udo! Du verrennst dich; bist du noch normal?"
„Sicher! - Soweit ich das beurteilen kann. Also, hör zu. Moni hat mich nach Strich und Faden betrogen, immer wieder. An dem Tag, als es passiert ist, kam sie erst am Morgen aus der Stadt. Ich hab gerade Gülle abgepumpt, als sie auf den Hof fuhr."
„Ich muss diesen Scheiß - entschuldige Udo - ich muss das nicht glauben. Hör damit auf. Du brauchst einen Psychiater."
„Nein. Brauch ich nicht. Nicht mehr. Du solltest mir glauben. Du weißt nicht, wie sie war. Also. An dem Tag. Sie ... Sie rümpfte die Nase und wollte grußlos ins Haus. Ich hab sie festgehalten, wollte sie zur Rede stellen. Weißt du, was sie gesagt hat? Verschwinde, du stinkiger Güllebauer. Lass mich in Ruhe, ich bin müde."
„Aber Udo, das ...? So war Moni doch nicht; ich kenne sie schon als kleines Kind - mach mir nichts vor!"
„Nichts weißt du von ihr, nichts! Keiner hat sie gekannt! Sie war ... Ach, Mist, es ist doch egal. Ich hab' die Beherrschung verloren, ich war wahnsinnig vor Wut. Erst hab' ich ihr meine von Gülle verschmierten Hände ins Gesicht geschlagen, immer wieder - und dann hab ich sie am Hals gefasst. Lange, lange. Ich hab ihr dabei in die Augen gesehen. Ich hab gesehen, wie sie starb; ich hab zugesehen. Es hat mir plötzlich Spaß gemacht; sie hat gelitten und sie wusste, dass sie sterben würde."
„Mein Gott! Das kann nicht sein. Du hast sie wirklich getötet?"
„Ja. Verstehst du endlich? Ich hab ihr danach vier von den neuen Randsteinen, die hinten auf den Hof lagen, um den Körper gebunden und sie in die Gülle geworfen. Weißt du, was scharfe Gülle mit einer Leiche macht? Ich war jedenfalls von dem Augenblick an, als sie wegsackte, völlig klar und ruhig. Ich glaub' sogar, ich hab' laut gelacht. - Ich war sie los!"
„Udo! Wenn das wahr ist ... Du hast einen Menschen getötet!"
„Na und? Sie war selber schuld; sie hat´s nicht anders gewollt. Der Rest war einfach. Ich hab auf ihrem PC den Abschiedsbrief geschrieben, ihre Unterschrift durchgepaust, ganz fein, und dann nachgemalt. Alle ihre Sachen hab ich ins Auto gepackt: Koffer, Tasche, Handtaschen, Schuhe, Toilettensachen, Wäsche, Kleider, einfach alles. Dann bin ich bis nach Köln gefahren und hab die Sachen auf Kleider-Container vom Roten Kreuz verteilt - auf ein ganzes Dutzend. Die Papiere - Ausweis, Pass und Führerschein - hab ich verbrannt. Den Schmuck hab ich ins Silo geworfen - der gehörte ihr ja. So ist es gelaufen - so einfach war alles."
Der Anwalt war blass geworden, stierte auf die Tischplatte, auf der sich vertrocknete Kringel von Wassergläsern abzeichneten. Draußen weit weg, hörte man kurz eine Autohupe. Udo schob seinen Stuhl zurück und stand auf.
„Verstehst du jetzt? Ist jetzt alles klar? Büße ich genug für meine Tat? Gilt diese ungerechte Strafe als Vergeltung oder muss ich für den Mord mit einem eigenen Urteil büßen?"
Er bekam keine Antwort, und als er an die Tür klopfte, um wieder in die Zelle gebracht zu werden, saß sein Anwalt noch immer da, als sei er erstarrt.