Endlich ist wieder Lichtzeit. Sie fühlt sich leicht, schwebt körperlos in einem konturlosen, unfassbaren Raum. Sie entspannt sich – wie immer, wenn die Dunkelzeit der Lichtzeit weicht. Sie treibt in den unendlich langsamen Wogen seismischer Rhythmen, wie in einem Ozean, bewusstseinsfern – und doch hilflos und ungeschützt.
Trotzdem hat sie keine Angst. Hier ist sie sicher – das weiß sie. Nie mehr will sie weg von hier, nie mehr zurück in diese andere Welt, von der ihr manche Träume erzählen. Hier ist alles gut und ohne eine Zukunft, die sie fürchten müsste.
‚Hier?’, hat sie manchmal gedacht. ‚Was ist hier?’ Aber weiter dachte sie nie. Lange schon ruht sie in der Stille, dem Auf und Ab, dem Wechsel von Dunkelzeit und Hellzeit, der Zeit ohne Schwingungen und der Zeit mit den wohltuenden Wellen, den Zeiten mut guten und bösen Träumen.
Ihre Gedanken reihen sich sorgfältig, wie Perlen auf einer Schnur. Sie wartet stets ab, bis der Vorgang abgeschlossen ist. Sie befühlt und betrachtet jeden Gedanken, lange, ausführlich und ohne Hast. Es eilt nicht; sie hat genügend Zeit.

Heute beginnt die Hellzeit anders. Sie spürt eine Unruhe, die ihren Geist vibrieren lässt. Da ist etwas, dass sie nicht kennt, das eigentümliche Schwingungen auslöst.
Sie fühlt einen Druck, der ihre Gedanken langsamer werden lässt. Sie horcht in sich, tastet den Raum ab. Sie forscht voller Spannung nach diesem neuen Gefühl, sucht nach Erfahrung und nach Gründen.
‚Vielleicht sind es diese Stimmwellen?’, denkt sie träge. – ’Woran erinnern sie mich?’
„Bleib draußen!“
Verzögert, weit gedehnt, perlen Töne in ihr Bewusstsein. Die Melodie bleibt gerade noch erkennbar, zeigt ihre Schönheit noch in dieser neuen Zeitform. Die Töne erklingen leise, gedämpft wie durch dichten Nebel, fallen sanft in ihre Gedanken, lassen sie erzittern.
Noch nie sind solche Töne zu ihr durchgedrungen. Sie verdrängen die lautlos dröhnende Tiefe, in der sie schwebt. Einzelne Tonfolgen, kurz, zerhackt, die ihr immer ein Rätsel waren, die kennt sie.
Heute aber laufen sie fast ungehindert, in stetiger, unendlich langer Folge, in ihr inneres Ohr. – Heute ist die Lichtzeit klarer als sonst. Der Nebel fehlt und weit hinten erkennt sie ein weiß strahlendes Viereck.
Die Klänge berühren sie, laufen in Wellen, wie das klare, warme Wasser eines Sees, durch ihren Geist. Sie lässt sich treiben, sucht nach ihren Träumen.

Traumbilder kommen nur in der Lichtzeit; in der Dunkelzeit zieht sich ihr Geist in eine Tiefe zurück, die keine Träume zulässt. Sie versinkt langsam, spürt, dass die Gedanken sie verlassen. Die Dunkelzeit ist Todzeit. Nie finden Traumbilder den Weg in die Dunkelheit. Sie sehnt sich nach den Träumen – nach den guten Bildern.
Oh! Jetzt kann sie träumen. Endlich! Ein stimmloser Traum füllt ihr Bewusstsein, Bilder strömen bunt und lebendig vor ihre Augen.
Sie betrachtet die junge Frau, die in einem hellen Kleid barfuß über einer Wiese schwebt. Das Kleid schwingt, flattert und zeigt lange, sehr braune Beine. Sie tanzt auf Zehenspitzen, berührt kaum die Grashalme; ihr Gesicht ist zur Sonne gedreht.
Das Haar schimmert blond, fast weiß und die ausgestreckten Arme fahren in Abständen in den Nacken, werfen die langen, seidigen Haare in die Luft. Sie schweben, flirren und legen sich wie in Zeitlupe auf die Schultern zurück. Das Mädchen dreht sich, schwingt in der Hüfte – und zeigt ihr lautloses Lachen.
So oft schon hat sie dieses Mädchen gesehen. Sie kennt sie, fühlt sich eins mit ihr. Sie ahnt, dass das Mädchen für sie tanzt. Jetzt blickt das Mädchen zu dem jungen Mann, der auf einer bunten Decke liegt, sich ausstreckt und sie fordernd, verlangend ansieht.
Ihn will sie nicht sehen, will nicht wissen, was das Mädchen tun wird. Sie schaltet den Traum ab. Diese Träume kann sie ausknipsen. Andere nicht.

Die Wellen der Musik werden unregelmäßig, andere, unbekannte Töne laufen quer durch die weichen Schwingungen. Sie sind hart und unrhythmisch. Stimmen!
„Ich sagte … draußen bleiben!“
„… spinnst! … ändert sich nie mehr. Guck sie doch an, diesen … Mach endlich die Musik …“
Ein Traum. Ein Stimmentraum. Solche Träume sind schrecklich. Sie sind außen, nicht bei und nicht in ihr. Diese Träume kann man nicht abstellen. Sie sind nicht oft da. Wenn sie auftauchen, möchte sie abschalten, fliehen.
Ihr Geist zittert, spürt Gefahr und will sich verstecken. Aber in ihrem Raum gibt es keinen Schlupfwinkel; sie schwebt offen und ohne Deckung, liegt bloß und verletzlich vor dieser Stimme. Es ist unmöglich für sie, die Klänge und Worte zu ordnen, sie zu begreifen. Aber die Wellen, die sie machen, sind eine greifbare Gefahr, sind böse – und wollen sie vernichten.
„Das werde ich nicht; sie freut sich über Musik, das weiß ich“, sagt eine andre, sanfte und leise Stimme.
Das ist die gute Stimme, die sie erträgt. Sie kennt diese Stimme – schon immer; sie ist ihr Schutz und ihre Zuflucht in den bösen Träumen.
Sie kann sich auch gute Geschichten träumen, in denen diese Stimme vorkommt. Die lassen sie lächeln. Aber manchmal kommen die anderen Träume, die ihr Angst machen wollen. Dann ist diese Stimme die letzte Zuflucht. Sie weiß nicht genau, wie sie diese Stimme nennen soll, aber es ist ihr auch nicht wichtig.
„Du spinnst doch … Seit … Monaten liegt sie jetzt hier? Zehn? Zwölf? Sie … noch zwanzig Jahre so …, wenn wir nichts dagegen tun.“
Ihr Geist verkrampft sich; ein Schmerz durchschießt sie. Sie hat keine Möglichkeit diesem Schmerz auszuweichen oder ihm Ausdruck zu geben. Sie kann nicht schreien, nicht weinen.
„Ja, ja. Elf Monate. Na und? Es ist mein Kind. Meine Tochter. Und sie lebt. Du – du – du weißt doch nichts, gar nichts. Für dich ist sie eine Hirntote mit einem primitiven pflanzlichen Leben. Du glaubst, du kannst sie ausreißen wie Gemüse oder Unkraut, ja?“
Die kantigen Stöße der vertrauten Stimme sind fast noch schwerer zu ertragen als die der bösen Stimme. Sie fühlt die harten Wellen, die ihren Geist treffen, spürt wachsende Angst und Entsetzen.
‚Was ist das?’ – ‚Was wollen diese Stimmen?’ – ‚Ich will euch nicht hören. Lasst mich.’
Noch nie ist sie vor der guten Stimme geflüchtet. Noch nie hat sie einen Traum mit ihr abgeschaltet. Jetzt möchte sie ihn ausknipsen. Er tut weh. Sie versucht in andere Träume zu flüchten, aber es gelingt nicht. Sie muss bleiben.
„… bist bettelarm geworden, erhältst … Sozialhilfe … gehst nie mehr aus … Ich will … tanzen gehen, ich will mit dir … Strand liegen. Ich will, dass du … lachen kannst. Du bist … ein Wrack – sieh dich doch an. Füttern, Hintern abwischen, waschen, massieren, eincremen und … diesem Torso. … sie riecht. … Haufen Fleisch ohne Gehirn … wert?“
„Hör auf! Wenn … regieren würde, wärst du längst … und hättest … Euthanasie. Du Unmensch! Du … Angst. Lebenswert oder Lebensunwert. Mehr kennst du nicht. Warum … geliebt? Ich brauchte … Hilfe … deinen Hass.“
Es geht nicht mehr. Jetzt muss sie endlich weg von hier. Sie will diese Stimmen nicht mehr hören. In riesigen Wellen überspült sie die Angst.
‚Ich will nicht.’ – ‚Bitte – bitte.’ – ‚Lasst mich in Ruhe’, schreit sie lautlos.
Sie spürt die anströmende Panik, die von jeder Wortwelle angeschoben wird, die sie überflutet. Endlich – endlich – kommt ein Traum und sie will aufatmen und entspannen.
Sie sieht die junge Frau, die sie so gut kennt. Sie trägt noch immer dieses helle, weite Kleid. Es ist dunkel. Straßenlampen hängen wie blasse Monde am Himmel. Grelle Autolichter blitzen. Die Frau steigt in ein Auto. Sie weiß, dass es ein Auto ist. Einfach so. Die Hände verkrampfen sich am Steuer. Die Frau weint unaufhörlich.
Ihre Augen sind geschlossen; sie weint. Tränenspuren spiegeln das Licht der entgegen kommenden Autos. Sie fährt direkt auf einen Bus zu, öffnet den Mund, stemmt die Arme auf das Lenkrad, reißt die Augen weit auf, schreit und schreit.
Die Stimme gellt und tobt durch ihr Bewusstsein und sie will den Traum abschalten. Sofort. Aus. Schnell aus. Plötzlich ist alles schwarz, dann weiß – und es ist wieder Hellzeit.

Sie hasst diesen Traum, der schon so oft da war. Und trotzdem haben ihr die Angstschreie heute geholfen. Die Frau hat für sie geschrien, hat für sie alle Angst und Panik heraus gebrüllt. Jetzt kann sie ihren Geist zurückfallen lassen. Sie ist erschöpft.
Ein neuer Traum. Die Stimmen sind wieder da. Harte Wellen stoßen sich an ihrem Körper, quälen sie unsäglich.
„Wenn es nach mir ginge, würden wir … dieses unwürdige Leben zu beenden. Frag sie doch. Wenn sie … könnte, dann würde sie … Mama, mach Schluss … Zustand. Töte mich endlich.“
„Halte den Mund, du Ungeheuer. Verschwinde! Raus, raus, raus!“
„Sie wollte … selber Schluss …, damals. Das hast du … gesagt. Wegen … Idioten, … betrogen …, ein Kind angedreht … dann abgehauen. Stimmt das nicht? Warum sollte sie, ohne … Verstand, weiter leben …? Sag es mir.“
Wieder diese Schmerzen; stechende, rasende Wellen in ihrem körperlosen Verstand. Sie versucht zu fliehen. Wohin? Wohin? Es gibt kein anderswo. Sie ist Außer-sich-selbst.

Der andere Traum ist wieder da. Sie sieht die junge Frau auf der regennassen Straße liegen, schwebt über der Straße, unmittelbar über dem verrenkten Körper der Frau.
Rot gekleidete Männer stehen um sie herum. Grelles Blaulicht blitzt, zeichnet die Gesichter der Helfer um, legt harte Schatten unter die Augen der Zuschauer. Sie kann die aufgerissenen Augen der Gaffer erkennen, die sich an die Absperrung drängen.
Stimmen gehören nicht in diese Träume. Diese Traumbilder sind ohne Stimmen. Nur manchmal, wenn sie in Not ist, dann kommt die gute Stimme. Sie hilft ihr, den Traum zu beenden.

Die Traumbilder wechseln, sie ist verwirrt. Es geht so schnell, viel zu schnell.
„Los, raus jetzt. Endgültig! Wir sprechen über …, über mein Kind. Es lebt! Weißt du … hören kann?“
„Du … verrückt!“
Der Traum schweigt. Stille. Eine gute Stille. Die Töne der Musik sind weg. Die harten Wellen sind weg. Sie entspannt sich. Was für ein Traum. Ein böser Traum. Einer, der sich nicht abschalten lässt.
Oh, sie hat viele Träume, und sie hat Zeit für Träume. Sie liebt ihre Träume. Nicht alle! Diesen nicht! Er war böse und sie will ihn nicht mehr träumen. Ihr Vorrat an schönen Träumen ist noch nicht aufgebraucht; sie ist voll davon.
‚Schön ist es hier – nur hier.’ – ‚Es gefällt mir’, denkt sie langsam, entspannt sich und kann wieder lächeln.

„Liebes! Kleines! Hörst du …? Komm, gib … Zeichen, … mich hören …“
Die Stimme ist gut, sie ist ihre Zuflucht, die sie heute so dringend braucht. Die Lichtzeit geht zu Ende; sie spürt bereits die einströmende Dunkelzeit.
„Beweg … Pupille, ja? Drück … Hand! Mach …, bitte!“
Die Stimme hallt in ihr nach; aber sie hat nichts verstanden. Worte sind Schwingungen. Sanfte und streichelnde. Kantige und schmerzhafte. Sie haben keine Bedeutung.
„… keine Angst, … Liebes. Ich bin … für dich … Soll er doch … Ich pass … auf“, flüstert die sanfte Stimme; sie tut gut und gibt Sicherheit.
„Ich erzähle dir …, was wir … auf dem Bauernhof erlebt … Weißt du …?“
Die Worte fließen in sie hinein, suchen und finden Bilder in ihrem Kopf. Sie lösen etwas aus, ohne dass sie es will, ohne dass sie es begreift.
Neue Bilder, bunt und leicht. Sie erblickt ein Pferd, das ohne Sattel wild, voller Übermut, über eine Wiese galoppiert, spaßig die Hinterbeine in die Luft wirft. Seine Mähne fliegt hoch, schwingt im Rhythmus der Sprünge und dann hört sie etwas. Es gibt doch noch andere Traumgeräusche. Nicht nur die gute Stimme. Ein lang gezogenes Wiehern ertönt, legt sich auf ihre Brust und verklingt langsam. Es ist, als hätte das Pferd gelacht.
‚Pferd’, denkt sie langsam und ihre Gedanken irren umher, springen über Wiesen und Felder.
Sie sieht die Bilder eines Ferkels, das sich an den warmen, dicken Bauch seiner Mutter schmiegt. Und sie sieht auf einer Bank eine junge Frau sitzen, die mit einem Kind spielt.
Die Frau ist nicht sie. Sie weiß ganz einfach, dass es die Frau ist, die zu ihr spricht. Sie lächelt und als die Dunkelzeit kommt, versinkt ihr Geist ohne Angst.

Die Hell- und Dunkelzeiten kommen und gehen. Sie kann immer häufiger die Schwingungen der Musik empfinden. Die Töne werden lauter, klarer und dichter.
Sie lächelt, wundert sich, als sie erkennt, dass eine besonders schöne Tonfolge immer wieder, bei jeder Lichtzeit, erklingt. Sie mag diese Töne, denen sie keinen Namen geben kann. Sie weiß von einer anderen Zeit, in der sie so etwas gehört und gemocht hat.
„Liebling! Wie geht es dir?“
Die Stimme verwebt sich mit den Tönen der Musik, schwingt im Gleichklang, zerstört die weichen Wellen nicht. Das Wort ‚Liebling’, denkt sie; das Wort ist gut. ‚Liebling.’
‚Das Wort ist in meinen guten Träumen’, denkt sie glücklich und versinkt wieder in sehr bunten Bildern.
Der harte Schall der Schritte wirkt wie Donner; vom Steinboden prallen die Geräuschwellen in ihr Bewusstsein, reißen sie aus einem Traum.
Atem! Ein heftiger, schneller Atem ist direkt über ihr, streicht über den Körper. Es ist der Atem der bösen Stimme. Sie verkrampft entsetzt, sucht nach einem Ausweg.
‚Weg! Weg! Nicht dieser Traum. Nicht dieser.’
Der Traum lässt sich nicht abschalten. Schmerzen befallen sie, sind überall. Der Traum stülpt sich über sie, umhüllt sie, legt sich schwer auf sie.
Die Lichtzeit wird geteilt. Es ist nebeneinander Dunkelzeit und Lichtzeit. Noch nie, noch nie waren sie beide gleichzeitig da. In der einen Hälfte bleibt es hell, in der anderen wird es schwarz; dicht über ihrem körperlosen Bewusstsein liegt diese Schwärze. Dann wird es total schwarz, geraten die Wellen in konfuse Strömungen.
‚Es ist doch noch keine Dunkelzeit.’
Sie sitzt im Auto. Sie! Lichter tauchen auf, Straßenlampen werfen ihr Licht auf nassen Asphalt, Scheinwerfer bohren zittrige Strahlen in die Schwärze. Sie verkrampft ihre Hände um das Lenkrad. Die Scheinwerfer des Omnibusses sind direkt vor ihr, blenden sie. Das ist das Ende!
‚Aus! Abschalten!’, schreit sie, aber der Schrei bleibt lautlos, verhallt im konturenlosen Raum.
Die Angst wird unerträglich; sie öffnet den Mund, weit, schmerzhaft weit.
Sie schreit!
„Neiiiiin!“
Die Lichter verwischen sich, verstecken sich hinter dichtem Nebel. Ihr Schrei hallt mit tausend Echos durch den Raum. Plötzlich treibt sie weg, fließt zurück in ihren Körper; sie spürt ihre Glieder.
Sie ist wieder In-sich-selbst.
Arme und Rücken schmerzen unerträglich, die Kehle brennt. Es sind neue Schmerzen, andere. Sie bekommt keine Luft. Will atmen. Will leben.
Mit beiden Armen, die sich nur schwer heben lassen wollen, stößt sie sich vom Lenkrad ab, spürt Widerstand, drückt und stemmt heftiger.
Sie weiß plötzlich, dass sie nicht in einem Auto sitzt, sie stemmt sich nicht gegen ein Lenkrad, fährt nicht vor einen Bus.
Sie bäumt sich auf, spürt einen Körper, der ihr etwas vor den Mund drückt.
Sie schreit in das Kopfkissen, bis sie in unendlicher Schwärze versinkt. Ein erstickter, letzter Schrei flieht aus ihrem Mund. Er hört nicht auf, lässt sich nicht abschalten. Dann ist die Schwärze weg.
Sie sieht!
Sie sieht einen tiefschwarzen, riesigen Schatten, der an der Wand neben dem Fenster hoch wächst. Ihr Atem rasselt, ihre Brust brennt, ihre Glieder, der Kopf und der Rücken schmerzen so stark, dass sie schreien muss, immer wieder. Sie schreit, tobt und wimmert; sie will nicht in diesem Traum sein. Sie muss zurück. Sofort. Zurück in das schützende Außer-sich-selbst.
Erschöpft liegt sie da, stiert in das helle Viereck vor ihren Augen. Es ist still im Raum. Es ist eine andere Stille, als die, die sie bisher kannte.
Sie hört ihren eigenen Atem. Er rasselt und grunzt. Und andere Geräusche sind da. So viele Töne. Regen peitscht gegen das Fenster. Es prasselt, Tropfen fallen auf das Fensterbrett, klatschen auf die Scheibe. Vor dem Fenster wuchtet sich das Dreieck einer Fichte in den grauen Himmel, lässt sich widerstrebend vom böigen Wind bewegen.

Sie weiß, dass die Zeit der Träume vorbei ist; sie weint, möchte zurück in ihren Traum, in ihre Sicherheit. Es dauert lange, bis sie aufgibt.
Der Regen hat aufgehört, es wird heller im Zimmer. Die Wände haben Farbe. Sie sind lindgrün. Blumen stehen auf einem Tisch. Bunte Bilder hängen an den Wänden.
„Ich bin – ich bin Tina!“, denkt sie.
Und sie hört die leichten Schritte ihrer Mutter vor der Tür. Diese Schritte kennt sie. Sie kennt sie, wie alles, was sie jemals von ihrer Mutter gehört hat.