„Reisen mit dem Zug ist allemal besser als mit dem Auto“, habe ich meiner Tochter erklärt. „Die Strecke München – Köln kann man kaum schneller bewältigen.“ Ich freue mich auf meine Enkel David und Annalisa. Wie sie wohl aussehen? Sind bestimmt schon ziemlich groß – besonders die schlaksige Annalisa mit ihren zehn Jahren.
Langsam fährt der Zug ein; quäkende Lautsprecherstimmen, Rufen, Lachen. Stuttgart Hauptbahnhof. Frauen und Männer hasten aus dem Zug, andere drängen vor der Tür, wollen unbedingt die ersten sein.
„Leute ohne Platzkarte“, denke ich, bleibe im Gang stehen und beobachte den Wechsel der ankommenden und abfahrenden Reisenden. Sie verteilen sich schnell in den Gängen, verschwinden in Abteilen oder bleiben auf den Wagenplattformen stehen.
Der Bahnsteig ist jetzt fast leer. An einem Stützpfeiler lehnt ein Betrunkener, schwenkt eine Bierflasche vor seinen Augen hin und her, als könne er ihre Leere nicht fassen – und spricht mit ihr. Undeutlich höre ich Lautsprecherdurchsagen von den anderen Bahnsteigen. Drei fette Tauben stolzieren mit wippenden Köpfen auf eine Bank zu, picken auf jeden Krümel.
Zwei Frauen sitzen auf der Bank, nicht weit weg von meinem Fenster. Eine hält ein weinendes Kleinkind auf dem Arm. Sie sind jung, fast gleich alt; ihre Haare, streichholzkurz geschnitten, rahmen die Gesichter scharfkantig ein. Modisch sind sie gekleidet, mit bunten Sandalen und kurzen engen Röcken. Ich kann die langen braunen Beine sehen; die verschobenen Röcke verbergen nicht viel. Die mit dem Kind trägt ein schwarzes Top, die andere ein rotes – beide vorne verknotet und bauchnabelfrei. Die Frauen unterhalten sich und werfen keinen Blick auf die Wagons.
Ich drehe mich um, will zurück ins Abteil, als mich die Stimme alarmiert.
„Mama, bitte – bitte! Darf ich aussteigen? Bitte, Mama!“ Eine Kinderstimme. Hell, sehr hell – schrill und klar. So ruft nur jemand, der in Not ist.
Ich bleibe stehen, blicke mich suchend um. Ein Junge, zehn oder elf Jahre alt, schmächtig mit blassem, schmalem Gesicht, steht an der offenen Wagontür, schaut starr auf den Bahnsteig. Auf seinem Rücken baumelt ein Rucksack, in den höchstens eine Zahnbürste und etwas Unterwäsche passen.
Jetzt steht die Frau mit dem roten Top auf – die ohne Säugling –, lässig, betont langsam, streicht ihren Rock glatt und zieht ihn etwas herunter. Diese Bewegungen, ihre Art zu gehen, die schlanke Figur – alles wirkt sehr sexy.
Aber ihre Augen sind hart, der Blick starr. Sie hat Schatten unter den Augen. Etwa einen Meter vor dem Wagon bleibt sie stehen. Ihre Stimme passt zu den Augen, kühles Blau: „Bleib drin; komm bloß nicht auf die Idee auszusteigen!“
„Mama, bitte!“
„Mach keinen Zirkus! Dein Papa holt dich in Dortmund ab; freu dich auf ihn.“
„Bitte, bitte Mama! Darf ich aussteigen?“ Der Junge rührt sich nicht von der Stelle, steht wie angewachsen.
Die Frau dreht sich weg, streift mich mit einem raschen Blick und geht zur Bank. Die Szene hat mich eingefangen; ich fühle mich wie in einem Schauspiel und bin gespannt auf den Fortgang. Und: Der Junge hat mein Mitleid geweckt. Ich denke darüber nach, was er gesagt hat – immer mit dem gleichem Wortlaut.
Er will nur aussteigen. Er sagte nicht: „Mama, ich will bei dir bleiben“, oder „Mama, ich will nicht weg von dir.“ Nur aussteigen will er.
Plötzlich erwacht mit einem hässlichen Knacken der Lautsprecher auf dem Bahnsteig und eine weibliche Stimme verkündet scheppernd die Abfahrt unseres Zuges nach Dortmund mit Zwischenstation in Köln – da will ich aussteigen, meine Familie in die Arme nehmen.
„Die Türen schließen automatisch“, sagt die Blechstimme und der Lautsprecher setzt mit einem heftigen Knackgeräusch das Ausrufezeichen.
Der Junge blickt noch immer zu seiner Mutter; sie sieht nicht zum Zug. „Mama! Bitte, lass mich aussteigen. Bitte, Mama!“, schreit er mit spitzer Stimme. Er spürt wohl, dass es gleich zu spät ist für eine Korrektur; er weiß, dass in wenigen Augenblicken alles Rufen sinnlos wird.
„Tu´s doch, Junge! Verdammt, steig einfach aus – und wenn du Glück hast, schließt sich die Tür hinter dir“, denke ich wütend.
Er steht wie angewurzelt und weint; ich sehe, wie er mit einem Handrücken über die Wangen reibt. Die Tür schlägt wuchtig zu; der Junge steht da, bewegt sich nicht, schaut durch das verkratzte Türfenster. Lautlos rollt der Zug an, langsam, als müsse er Anlauf nehmen.
Der Junge schweigt, steht und schaut geradeaus. Ich drücke die Stirn an das Fenster, blicke zurück zum Bahnsteig. Die Frauen erheben sich, ordnen ihre Kleider; sie schauen dem Zug nicht nach.
Aus dem Nachbarwagen kommt eine füllige Schaffnerin, die Dienstmütze hängt weit im Nacken; ihr Gesicht glänzt, sieht verschwitzt aus. Flüchtig streift ihr Blick den Jungen; sie stutzt, geht zurück, berührt ihn an der Schulter und spricht ihn an.
Er bleibt steif und sperrig stehen, spricht mit abgewendetem Gesicht. Die Schaffnerin redet auf ihn ein; er hält den Kopf gesenkt, die Frau legt einen Arm um seine Schultern und drängt ihn vorwärts; sie kommen auf mich zu.
Ich stelle mich, um Platz zu machen, in die Abteiltür. Die Frau hat ein verstecktes Lächeln in den Augenfalten, als sie mir zunickt.
Als sie auf meiner Höhe sind, wischt sich der Junge mit dem Ärmel die Nässe aus dem Gesicht, blickt starr geradeaus. Ich versuche seine Augen auf mich zu ziehen, will sein Gesicht sehen. Er blickt durch mich hindurch.
Die Aufführung ist vorbei; ich werde das Ende des Stückes nie erfahren. Ich war nur ein unbeteiligter Zuschauer. – Wirklich? Hätte ich ihn nicht fragen müssen, ob ich ihm helfen kann? Wer weiß, wie die Geschichte dieses Schauspiels wirklich lautet, wie die Wahrheit aussieht. Wie geht das Stück weiter? Ich blicke den beiden nach, bis sie verschwunden sind.

Meine Mitreisenden sind eingeschlafen oder lesen. Der Zug rollt fast lautlos; das gleichmäßige Zischen der Klimaanlage wirkt einschläfernd. Das soeben Erlebte verfolgt mich, ich kann mich noch immer nicht davon befreien. Was kann dahinter stecken? Was mag mit diesem Jungen los sein?
Ich lehne mich zurück und lasse meine Fantasie spielen. Das schmale Kindergesicht mit den viel zu großen Augen blickt mich an. Ich muss das zu einem Ende bringen, ich muss diesem Kind eine Geschichte geben. Dieses Gesicht! Trotz sehe ich da und Angst – und finde endlich eine Erklärung, die zu diesem Geschehen passen könnte – die mir möglich erscheint.Abschied

– Der Junge –

Ich leg mich erst noch mal auf mein Bett; Mama kramt in ihrem Zimmer herum und packt meine Sachen ein. – Ich will ganz alleine sein, Abschied nehmen von meinem Zimmer, den Postern mit No Angels und Backstreet Boys und allem, was sich so angesammelt hat. Wer weiß, wann ich’s wiedersehe. Muss noch mal über alles nachdenken; wie’s zu dieser ganzen Scheiße kam.
Die sprach heute beim Frühstück nicht mit mir. – Aber das legt sich meist wieder; Mensch, war die ärgerlich, sogar richtig wütend.
Es hatte damit zu tun, dass ich gestern mit Fred, Kai und Danny Abschied gefeiert hab.
Sie hat´s sofort gerochen, als ich nach Hause kam. Mann, war die sauer! Die war schon zurück von ihrer Tour. Sie kommt ja sonst oft erst morgens wieder, da merkt die nie, wenn ich auch unterwegs bin. Wenn ich in die Schule geh’ – wenn ich geh –, schläft die noch.
„Du denkst nur an dich“, hat die geschrieen. „Die stecken dich ins Erziehungsheim, wenn du so weiter machst. Begreif das, Junge! Und lass die Scheißsauferei sein; da kommt nie was bei raus.“
Dabei sauf ich gar nicht; Fred manchmal, aber ich nich’. War doch nur wegen dem Abschied. Fred ist älter als wir anderen. Er ist unser und mein bester Freund. Gestern hatte er ’ne kleine Schnapsflasche dabei; hatte er von seinem Alten geklaut.
„Prost! Macht man so, bei ’nem Abschied“, sagte er.
Da haben wir alle reihum draus getrunken – war ja nicht mal viel. Fred hat dabei Tränen in den Augen gehabt – konnte uns nich’ richtig angucken; das war vielleicht komisch. „Is’ wegen dem scharfen Zeugs!“, hat er gesagt; aber das glaub’ ich nicht; das glaubt dem keiner – das ist Quatsch. Der hat schon öfter solche Sachen von seinem Alten geschluckt. Nee, ich glaub eher, das war meinetwegen.
Wütend ist Mama oft. Richtig wütend wird sie aber nur, wenn wir was Schlimmeres machen, so wie letzte Woche, als wir brennendes Papier in den Briefkasten am Wäldchen geworfen haben. Ich war das eigentlich nicht, aber Fred, der hat´s gemacht; wir anderen haben mitgemacht – das stimmt schon.
„Eh, hier wohnen fünfhundert Familien, in diesen Kästen, mit einer Million Kindern. Glaubt ihr, die würden heraus kriegen, wer das war?“, hat Fred gesagt.
Meistens weiß der ja Bescheid – aber nicht immer. Die haben uns nämlich doch gekriegt. Einer von diesen arbeitslosen alten Gruftis hat gesehen, dass wir brennendes Papier in den gelben Kasten geschüttet haben. Der hat gleich die Bullen gerufen, der Blödmann. Ich bin unter die Flurtreppe gekrochen, als die Polizei kam. Da unten, wo´s nach Pisse und Müll stinkt, da hab ich mich versteckt; aber die haben mich doch gefunden.
Na ja, ich hab ein paar gelangt gekriegt von Mama – wie immer, wenn ich Mist gebaut hab.
Aber sonst ist das hier ganz in Ordnung. Ich hab viele Freunde – und von mir aus könnte´s hier immer so weitergehen. Sah ja auch so aus – bis vorige Tage; Mama war schon weg, als das Telefon klingelte.
„Hallo, Tom!“, quakte eine fremde Stimme. „Hier ist Horst; ich bin dein Papa! Ist deine Mama da?“
Ich hab noch nie mit dem gesprochen, dachte erst, das wär so ‘n Scherzkeks. Dass ich irgendwo ’nen Papa hab, na gut, das hat Mama mal gesagt, als sie kein Geld gekriegt hat.
„Dieses Schwein will nicht zahlen. Erst setzt er dich in die Welt und dann tut er so, als wenn er mit nichts was zu tun hätte. Der lernt mich noch kennen!“, hat die geschrieen.
Als ich gefragt hab, wer denn das Schwein sei, hat die gesagt: „Dein Papa, wer sonst!“
Also, ich wusste nicht so recht, ob ich mit diesem Schwein reden sollte, drum hab ich einfach aufgelegt. Aber der hat sofort noch mal angerufen und mich vollgelabert, dass er wirklich mein Vater sei, dass er mich endlich kennen lernen möchte, in Dortmund wohne, eine tolle Wohnung hätte – und ob ich nicht Lust hätte, ihn zu besuchen.
„Nee!“, hab ich dem gesagt, „Hab’ ich nich’“, und hab’ wieder aufgelegt.
Aber der hat einen Brief geschrieben – an Mama – und die hat mit ihm telefoniert; ich war dabei, am Anfang.
Schwein hat die diesmal nicht gesagt. „Du Ratte!“, hat sie gesagt. „Nach zehn Jahren merkste, dass du ’nen Sohn hast? Ist dir ein Stein auf den Kopf gefallen, oder was?“
Ich wollte diese Erwachsenenscheiße nicht hören und bin raus; aber ich wär besser dageblieben. Die haben nämlich was ausgemacht, die beiden. Da hat mich Mama wohl verkauft – an diesen Kerl, den sie Schwein und Ratte genannt hat.
Am nächsten Tag war die Ratte nämlich wieder am Telefon und das Gelaber ging wieder los. „Ich wollte dich sprechen“, hat der gesagt, als ich ihm sagte, dass Mama nicht da wär.
Ich müsste da raus aus dem „asozialen Saustall“, sagte der. Ich würd´ ja total verkommen, bei so einer Mutter. Bei ihm hätte ich’s gut; Mama hätte eh keine Zeit für mich. Ob ich nicht erst mal während der Ferien zu ihm kommen wollte; danach könnte man ja weiter sehen.
Ich hab ihn angeschrieen, hab ihn blöde Sau geschimpft und so was. Aber der hat nur gelacht und gesagt: „Du gefällst mir.“ Da konnte ich nichts mehr sagen.
„Pennst du?“
Mann, hab ich mich erschreckt! Meine Mama steht in der Tür, schon fertig angezogen. Scheiße! Jetzt fahren wir tatsächlich zum Bahnhof! Ich kann´s nicht fassen!
Mann, was hab ich alles versucht. Im Klo eingesperrt hab’ ich mich. Magenschmerzen, ganz schlimme, hab’ ich ihr vorgespielt. Hat alles nix genutzt. Zum Schluss hab ich mich auf´s Betteln verlegt.
„Mama!“, hab ich gesagt, „Mama, ich will hier bleiben! Bitte, bitte Mama, lass mich hier bleiben!“
„Du fährst!“, hat die nur gesagt. „Kannst ja mal sechs Wochen lang schnuppern, ob´s dir da gefällt. Wenn ja, bleibste, wenn nein, können wir drüber reden.“
Ich hab schon verstanden; die hatten sich abgesprochen. Aber ich war richtig traurig – wenn’s das ist, was ich gefühlt hab. Scheiße! Ich wusste noch nie genau, was das ist, aber als ich mich gestern von Fred und den anderen Kumpels verabschiedet hab, da waren die alle ganz still – ich auch. Ich glaub, da waren wir alle traurig oder so.
„Die will dich loswerden, deine Alte“, hat der Fred gemeint, und das glaub ich auch.
Mit Mamas kleiner Karre fahren wir Ina abholen. Ina und ihr Schreibaby. Ina – Mamas Schwester – kann ich eh nicht ausstehen. Ich will nicht weg, ich will in unserer Siedlung bleiben, ich will abends mit Fred und den anderen rumtoben und Leute ärgern. Wer weiß, was mein neuer Alter da mit mir vorhat.„Der Zug kommt später“, sagt Ina, aber das hilft mir bestimmt nicht.
Die ganze Zeit quatschen die von dieser neuen Disco, den heißen Pillen und dem coolen DJ. Ich interessiere die überhaupt nicht; dabei möchte ich heulen. Aber ich will nicht heulen – jetzt nicht – und nie mehr. Höchstens später, wenn ich alleine bin.
Da kommt dieser saublöde Zug. Mann, was für ein Gedränge. Mama geht mit mir und schiebt mich rein; die will bloß sicher sein, dass ich nicht abhaue. Mir ist richtig zum Heulen; gut dass der Fred mich nicht sehen kann.
„Waschlappen und Warmduscher!“, sagt der immer und das sind echte Tiefschläge, wenn der Fred das sagt.
„Mann, ich bin doch noch nie aus Stuttgart weg gewesen. Jetzt soll ich ganz alleine wegfahren – und dann noch zu diesem angeblichen Papa, dieser Ratte“, würde ich dem Fred sagen.
Mama hat sich schon wieder zu ihrer Schwester auf die Bank gesetzt. Ich muss es noch einmal versuchen: „Bitte, bitte, Mama! Darf ich aussteigen?“ Die tut so, als wenn sie mich nicht hört. Ich glaube, ich muss mir vor Angst gleich in die Hose machen.
Doch! Sie kommt! – Ich glaube, die will mich rausholen, aus diesem blöden Zug. Ich glaub’s ganz fest.
„Bleib drin!“, sagte die aber nur zu mir und guckt mich so richtig böse an. So stiert die immer, wenn ich in der Schule Scheiße gebaut hab.
„Komm bloß nicht auf die Idee auszusteigen“, sagt die drohend und hat Wut in der Stimme.
„Bitte, bitte, Mama! Darf ich aussteigen?“ Ich weiß genau, dass es nichts nützen wird; wenn die so guckt, hab ich nie ’ne Chance bei ihr.
„Mach keinen Zirkus!“, ruft die, jetzt noch böser. „Der Papa holt dich in Dortmund ab. Freu dich auf ihn!“
Die will mich bloß umstimmen. Aber das kann die nicht – ich will mich nicht freuen. Worauf denn, he? Scheiße! Jetzt knallt die Tür zu und wir fahren wirklich ab. Endlich kann ich heulen. Ich heule nicht aus Angst. Das macht man nicht, hat Fred gesagt. Wegen meiner Freunde – wegen Fred hauptsächlich – und wegen meinem Zimmer muss ich heulen. Wegen Mama auch.
Die Frauen sind weg; ich kann sie nicht mehr sehen. Was soll ich jetzt machen? Wie lange das wohl dauern wird, bis wir da sind? Ob ich einfach am nächsten Bahnhof aussteige und verschwinde? Ich könnte einfach trampen und so. Ob die mich suchen würden? Mama bestimmt nicht. Und dieser Papa – der bestimmt auch nicht. Wenn bloß Fred da wär. So ’n Scheiß!
Da kommt ’ne dicke Frau in Uniform. Ich guck besser nicht hin, sonst sieht die mich heulen. Hoffentlich will die nicht meine Fahrkarte sehen. Scheiße, die spricht mich an!
„Nein, ich hab nichts, hab nur was ins Auge gekriegt“, sage ich der und denke: „Hau ab, Alte!“
Die hört nicht auf, belabert mich: Kinder sollten nicht alleine reisen, sie passe auf mich auf, sie besorge mir einen Platz in ihrem Abteil; da könne ich auch Kakao haben.
„Die spinnt, die Alte.“
Jetzt fasst die mich auch noch an. Ich muss wohl mitgehen. Das fängt ja gut an, das kann nur noch schlimmer werden. Ich muss die Tränen weg kriegen; keiner soll die sehen.
Mann, was guckt mich der Opa da an? Bloß weil ich geheult hab’? Glotz nicht so, Alter! Ich geh’ dich nix an. Was will der von mir? Guck weg, Opa!
Wo bringt mich die Tante hin? Wenn bloß der Fred da wär!

*
Ist das seine Geschichte? Das Kindergesicht verblasst, die Augen sind verschwunden. Ob er sich beruhigt hat? – Ob ich nach ihm gucken sollte? – Die Schaffnerin wird schon aufpassen – oder? Hab ich mich verstiegen mit meiner Erzählung? Tue ich ihm unrecht damit? Ist ja nur eine von tausend Möglichkeiten – nur eine. Ach Gott, meine Fantasie! Ein Schauspiel? – Ja, ein Schauspiel. Vielleicht ist ja alles ganz anders; vielleicht irre ich mich gewaltig.
Gut, es ist eine Möglichkeit. Aber nein! So sah der Junge eigentlich nicht aus. Ängstlicher, wie ein Rehkitz, das seine Mutter verloren hat, sah er aus. Es muss eine andere Erklärung geben. Als hätte man ein Band zwischen ihm und seiner Mutter durchgeschnitten; so sah das aus. Vielleicht … Ja, als wenn er aus dem Mutterleib gekommen wäre und hätte die Durchtrennung der Nabelschnur erlebt. Ja, so könnte es auch sein.“

Abnabeln
– Die Frau –

„Sie müssen das tun; es gibt keine andere Möglichkeit, Frau John! Ich verstehe ja, dass das schwer für Sie ist, aber es wird später immer schwerer werden. Das Kind muss sich zum zweiten Mal von Ihnen abnabeln. Ich helfe Ihnen dabei, aber diesen Schritt müssen sie jetzt alleine tun; es ist auch für sie wichtig!“, sagte die Frau und strich ihr beruhigend über die Hand, mit der sie die Sessellehne umklammerte.
„Wenn ich Ingo sage, dass er für die gesamte Ferienzeit, für sechs Wochen, zu seinem Vater nach Dortmund soll, dreht er durch!“, sagte Anna. „Sie wissen doch, wie er ist.“
„Sicher. Aber hier hilft jetzt nur konsequentes Handeln. Er muss begreifen, dass er Ihr Leben nicht bestimmen, nicht dominieren kann – bei aller Liebe.“
Günther, ihr Ex, war zwar nicht besonders erbaut gewesen, als sie ihn vor einer Woche angerufen und ihm die frohe Botschaft mitgeteilt hatte, aber er hatte zugestimmt. Er könne drei Wochen Urlaub machen; in der restlichen Zeit stünde Siggi zur Verfügung – hatte Günther gesagt.
„Siggi, diese blöde Zicke, mit den langen blonden Haaren, die mag Ingo nicht“, dachte Anna. „Das wird ein Drama. Aber meine Therapeutin hat wohl Recht. Von Ödipuskomplex hat sie geschwafelt und so´n Zeugs. Ich kann ja selber nicht mehr. Tagtäglich hängt er mir am Rock“, dachte sie auf dem Heimweg.
„Mama hier, Mama da“, geht das vom Morgen bis zum Abend“, sagte sie zu Ina, ihrer Freundin, als sie am Abend beim Pizzabäcker saßen.
„Du musst ihn wegschicken, du gehst sonst vor die Hunde“, antwortete Ina.
„Du mit deinem Baby hast weniger Probleme, als ich mit diesem halb Erwachsenen Sohn. Ich kann doch keinen Babysitter mehr bestellen, wenn ich am Abend mal ausgehen will. Die lachen mich doch aus.“
„Nee! Da musste sogar schon bald aufpassen, dass die kein dummes Zeug zusammen machen“, lachte Ina.

„Hör auf! Im Ernst. Es geht mir nicht darum, dass ich ausgehen will. Klar, wär das mal wieder schön, aber wir gehen wirklich beide kaputt an dem, was da läuft. Seitdem Günther weg ist – der Dreh- und Angelpunkt in Ingos Leben – hält er mich fest, als wollte ich auch weglaufen.“
„Dann müsste er doch gerne zu deinem Ex fahren.“
„Nein! Eben nicht! Er hasst ihn, seitdem der abgehauen ist; er verzeiht ihm das nicht, gibt sich aber auch selber die Schuld.“Sie war ratlos; sie hatte ihr Leben mit Mühe wieder in den Griff bekommen, nachdem Günther mit einem Seitensprung auf dem Seminar – mit diesem Flittchen Siggi – ihre Ehe kaputt gemacht hatte. Sie hatte eine gut bezahlte Halbtagsstelle, der Rest des Geldes kam von ihrem Ex-Mann, der sich da recht anständig verhielt, wie sie zugab.
Mittags, wenn Ingo aus der Schule kam, war sie schon da, kochte für ihn und überwachte die Schularbeiten, machte den Haushalt. Sie hatte wenig Zeit für sich selber. Aber das wär alles nicht so schlimm, wenn Ingo nicht wie eine Klette an ihr hängen würde; er ließ sie nicht eine Minute aus den Augen. Wenn sie in den Keller ging, lief er ihr nach; wenn sie in die Küche ging, hing er an ihrer Schürze; er folgte ihr zum Mittagsschlaf ins Schlafzimmer und nur mit Mühe gelang es ihr, ihn aus dem Klo raus zu halten.
Nachts schlief er im Bett ihres Ex neben ihr. Das war sie selber schuld, das wusste sie. In den ersten Wochen, nachdem ihr Mann weg war, hatte sie Trost und Wärme gebraucht. Da war Ingo abends in ihr Bett gekrochen; in der Nacht hatte sie ihn rüber geschoben. Dabei war´s geblieben; er ließ sich nicht in sein eigenes Bett verfrachten; in seinem Zimmer machte er nur Schularbeiten – mit ihr zusammen. Wenn sie sich mal für eine Stunde mit ihrer Freundin treffen wollte, brauchte es lange Reden und blöde Versprechungen.
Irgendwann hatte sie die Nerven verloren, hatte ihn angeschrieen, ihn sogar verprügelt; er war wie ein Hund hinter ihr hergelaufen und hatte sie angebettelt, wollte gestreichelt werden. In der ersten Zeit war er sogar mehrfach aus der Schule ausgebüxt, hatte sie auf der Arbeit besucht; alles nur, um zu sehen, ob sie noch da war.
Ihre Nerven hielten das nicht mehr aus; sie war am Ende, als sich das nach einem Jahr noch verschlimmerte. Er kam ihr nachgeschlichen, wenn sie sich mit Ina traf, er hockte sich vor die Klotür, bis sie wieder raus kam; er weigerte sich, in die Schule zu gehen. Sie hatte ihn geschlagen, sich geschämt, hat sich entschuldigt; es war immer dasselbe Spiel: Er reizte sie bis zur Weißglut, sie schrie, schlug, fühlte sich schuldig, verzieh ihm unter Tränen – und alles ging von vorne los.
Sie bekam wilde Alpträume, schlief schlecht und ließ sich total gehen. Immer häufiger wurde sie krankgeschrieben. Eines Tages hatte sie der Betriebsarzt zur Therapeutin geschickt.
„Sie haben ein ernstes Problem, liebe Frau John. So geht das nicht mehr weiter. Ich kann sie nicht mehr behandeln; ich muss sie zu einer Fachkollegin schicken. Sie sind organisch völlig gesund; in ihrer Psyche scheint etwas nicht zu stimmen. Sie sind geschieden, nicht wahr? Ist es das? Oder haben sie noch andere Sorgen?“, hatte er mit Blick über die Hornbrille hinweg gesagt.
„Wir müssen etwas unternehmen!“ Sie wusste es selber, aber sie hatte nie den Mut dazu gehabt.

„Ich geh nicht! Bitte, Mama! Was soll ich denn bei der fremden Frau? Die ist doof und gemein. Ich will hier bei dir bleiben.“
„Du gehst! Das ist verabredet und es bleibt dabei. Morgen früh fährst du mit dem IC nach Dortmund. Papa holt dich am Zug ab. Er hat ein tolles Ferienprogramm ausgearbeitet. Ihr fahrt nach Dülmen, zu den Wildpferden, ihr werdet eine Bootstour auf dem Dortmund-Ems-Kanal machen, ihr geht in den Zoo, ins Schwimmbad und was weiß ich noch alles. Du wirst Spaß haben und gar nicht zurück wollen.“
Das hätte sie besser nicht gesagt. „Ich will immer zurück! Ihr wollt mich nur für immer abschieben nach Dortmund, zu dieser Blöden.“
Sie blieb stur und er ging weinend ins Bett. Mitten in der Nacht stand er auf, ging ins Klo und schloss sich ein. Sie wurde von der Wasserspülung wach, die immer wieder ansprang. Schlaftrunken taumelte sie zum Klo und rüttelte an der Tür.
„Ich bleib hier drin, bis du sagst, dass ich hier bleiben darf.“
„Du kommst sofort raus, sonst schlag ich die Tür ein“, verkündete sie und wusste, dass sie das nie tun würde.
Sie drohte mit der Polizei und mit der Feuerwehr. Er sagte immer den gleichen Satz. Erst gegen Morgen gab er auf; sie war fix und fertig, als sich der Schlüssel herumdrehte. Sie saß weinend auf dem Boden, nahm ihn wortlos in den Arm. Um ein Haar hätte sie alles zerstört; sie war einfach zu weich.
Er saß am Frühstückstisch, während sie seinen Koffer packte, den sie an der Bahn aufgeben wollte. Den Rest – zusammen mit einem Foto, auf dem sie beide in die Kamera lachten, legte sie in den kleinen Rucksack, den er immer bei Schulausflügen mitnahm.
Er aß nichts, starrte sein Frühstücksbrötchen böse an und sprach kein Wort mit ihr. Sie bestellte ein Taxi und brachte den Koffer vors Haus.
„Gott sei Dank! Was für eine Nacht! Ich glaube, jetzt ist es geschafft; er hat aufgegeben“, sagte sie zu Ina am Telefon, kurz bevor das Taxi kam.
„Komm Ingo; es wird Zeit.“
Er trödelte und musste in der letzten Sekunde noch einmal aufs Klo. Sie atmete auf, als er endlich im Taxi saß. „Wir fahren erst Ina abholen“, sagte sie.
Ina brauchte sie heute zur Verstärkung. Sie wusste nicht, ob sie das durchhalten würde, was ihr die Therapeutin als Verhaltensmaßregeln mitgegeben hatte.
„Gehen sie völlig ohne Emotion an die Sache. Es ist kein Abschied auf immer. Bleiben sie möglichst von ihm weg. Gehen sie nicht mit Tränen und Taschentüchern an die Sache ran. Abstand halten! – Lassen sie sich nicht weich machen. Er wird sie anbetteln und anflehen; geben sie nicht nach. Seien sie kalt!“
„Die hat leicht reden“, dachte sie. Jedenfalls würde Ina dabei eine Stütze sein.
Sie gaben den Koffer ab und lenkten den schweigenden, blass aussehenden Ingo zum Bahnsteig.
„Mist! Eine halbe Stunde Verspätung!“, rief Ina, als sie oben ankamen.
Das Warten wurde lang. Sie hockten auf der eisernen, unbequemen Bank; Ingo starrte auf den Boden. „Es scheint besser zu gehen, als ich dachte!“, glaubte Anna, aber Ingo hob plötzlich den Kopf.
„Mama, ich fahr nicht! Ich will hier bleiben! Ich will nicht nach Dortmund!“
„Du fährst! Und jetzt will ich kein Wort mehr davon hören.“
Als der Zug angekündigt wurde, schob sie Ingo von der Bank hoch, bugsierte ihn zum Gleis. Als der Zug endlich stand, drängten sich die Leute wie wild, schoben und knufften sich. Sie wartete bis alle verschwunden waren und schob ihn mit sanftem Druck die Stufen hoch.
„Pass auf dich auf! Viel Spaß und schreib mal eine Karte“, sagte sie leise, mit einem Klos im Hals.Ingo stieg widerstrebend ein, blieb sofort wieder stehen und sah sie flehentlich an. „Bitte, bitte, Mama! Darf ich aussteigen?“
Sie drehte sich um und ging steifbeinig zur Bank. Ina hatte Mühe mit ihrem Baby, das die Hitze nicht vertrug, es jammerte und weinte.
„Komm! Gleich ist´s vorbei“, tröstete Ina sie. „Heute Abend gehen wir fein aus. Ich hab schon einen Babysitter bestellt. Freu dich!“
Der Zug wollte und wollte nicht abfahren. Ingo stand in der Tür, sah mit bettelndem Blick zu ihnen hin. Immer wieder hörten sie ihn rufen, hörten sein „Bitte, bitte, Mama! Darf ich aussteigen?“
„Bleib eisern! Du darfst jetzt nicht nachgeben“, sagte Ina und hielt sie am Arm fest.
Aber einmal musste sie noch hin. Sie musste ihn noch einmal aus der Nähe sehen. Sein kleines, blasses Gesicht starrte ihr entgegen; er tat ihr so leid. „Bleib drin; komm bloß nicht auf die Idee auszusteigen“, sagte sie in einem Ton, der ihr fremd vorkam.
„Mama, bitte!“, rief Ingo; sie hätte ihn gerne angefasst. Stattdessen sah sie ihn streng an.
„Mach keinen Zirkus! Papa holt dich in Dortmund ab; freu dich auf ihn“, sagte sie statt dessen.
Sie blickte auf die spiegelnden Scheiben des Wagens und sah das neugierige Gesicht eins Mannes auf sich gerichtet. „Blödmann! Was guckst du so? Du hast ja keine Ahnung“, dachte sie und ging zur Bank zurück.
„Nicht einfach, was?“, sagte Ina mit leiser Stimme.
„Hör auf! Hoffentlich fährt dieser elende Zug bald ab.“
Endlich war es soweit; die Ansagerin verkündete die Abfahrt; die Türen schlossen sich, der Zug rollte langsam aus dem Bahnhof. Sie sah aus den Augenwinkeln, dass Ingo das Gesicht an die Scheibe gepresst hatte.
„Nicht winken! Kein Taschentuch und keine Tränen“, hatte die Therapeutin gesagt.
Sie hielt sich daran und weinte erst, als sie im Taxi saßen.

Loslassen
– Ich –
Ist es diese Geschichte? Oder eine ganz andere? Was weiß ich schon. Wäre ich mit dem Auto gefahren … Nichts davon hätte ich gesehen und nichts hätte mich so bewegt. Warum kann ich nicht loslassen? Jeden Tag begegnen mir Menschen auf der Straße, deren Gesichter – traurig oder fröhlich – eine Geschichte andeuten. Warum geh ich gedankenlos daran vorbei? Gestern, die zwei Mädchen auf der Bank im Englischen Garten. Sie waren betrunken oder zugedröhnt mit Drogen. Beide so jung. Siebzehn, achtzehn. Nicht mehr. Ich war nur ärgerlich über sie. Warum haben sie mich nicht so berührt?
Ich muss mich lösen von dieser Geschichte. Das Gesicht des Jungen verdrängen. Ein anderes Gesicht – das meiner Enkelin, taucht vor meinen Augen auf; so viel Vertrauen, Sicherheit und Unschuld. Ja, bestimmt ist die Wirklichkeit ganz anders, als ich sie mir denke.