„Nein, ich hatte keine Angst.“
Ihre Stimme schallt seltsam hohl aus der Gästetoilette. Sie hat die Tür nur angelehnt und er kann hören, wie sie Wasser lässt.
„Ich muss unbedingt die Matten wieder hinlegen und die Gardinen im WC aufhängen. Müsste doch schon alles trocken sein. Wie das schallt, so ohne“, denkt er und notiert „Matten, Gardinen“ auf dem Notizblock, der neben dem Telefon liegt.
In der letzten Zeit muss er sich alles notieren, sonst vergisst er ständig, was er erledigen will. ‚Matten, Gardinen’ steht direkt unter ‚Angebot für Silvia – dringend!’.
„Solltest du aber haben; es gibt eine Menge Schweinehunde“, ruft er laut, um das Rauschen der Spülung zu übertönen.
„Ach ja? Und? Bist du so einer?“
„Ich? – Nein, vor mir brauchst du keine Angst zu haben.“
„Hab ich auch nicht.“
Sie wäscht sich die Hände. Gut!“, denkt er. „Das tut sie wenigstens.“
Als er den Notizblock aus der Hand legt, kommt sie ins Wohnzimmer. Er starrt ihre kleinen weißen Brüste an, die sich wie winzige Hügel von dem mageren Körper abheben, an dem sich die Rippen zählen lassen.
„Na? Seh ich gut aus, Alter?“
Die fahlblonden Haare hängen vor dem Gesicht; ein Auge ist fast völlig verdeckt. Die Schamhaare sind schwarz. „Also hat sie sich blond gefärbt“, denkt er und stiert auf den Körper des Mädchens. Er ist sehr weiß, zart, wirkt fast zerbrechlich.
„Was – was, verdammt, was machst du da? Wieso hast du dich völlig ausgezogen? Ich hab’ das nicht verlangt, das weißt du. Zieh dich sofort wieder an!“
„Haste noch nie ’ne Nackte gesehen? Was glaubst du, warum ich hier bin? Mach dir nicht in die Hose, Alter. Wozu hast du mich denn mitgenommen? Bist du vielleicht so ’n Perverser?“
„Quatsch“, sagt er und schluckt mühsam seine Spucke runter. Er weiß nicht, was er tun soll, fühlt sich völlig übertölpelt, kommt sich vor wie ein Schuljunge, der mit seinem Taschengeld in den Puff geht und die erste nackte Frau sieht.
„Du bist dürr; viel zu dürr bist du“, sagt er hilflos und seine Stimme klingt heiser. „Kriegst nicht genug zu essen, was?“
Er betrachtet die marmoriert blassen Schenkel, ihre kleinen Zehen, die ständig auf und ab wippen. Langsam erhebt er sich aus dem Sessel; er steht dicht vor ihr und jetzt wirkt sie noch kleiner, noch zarter.
„Der Mund ist viel zu sinnlich für so ein Kind“, denkt er. „Da müssen die Kerle sich ja was bei einbilden.“
„Mein Gott, Mädchen. Du siehst richtig verhungert aus. Komm, zieh dich an. Ich mach dir – uns – jetzt einen heißen Tee und dann wird dir ordentlich warm.“
„Spinnst du, Alter? Mir ist warm. Hier ist es ja wie in Afrika – so heiß, meine ich.“
„Warst du schon mal da?“
„Da? Wo?“
„Afrika. Weil du meinst, hier wär’s ähnlich heiß.“
„Quatsch. War noch nie weg von Köln. Heiß soll’s da sein; sagt man doch so – oder?“
„Ja, sagt man so. Ich mach uns einen Tee, schwarzen Tee – und du ziehst dich gefälligst wieder an. Hab noch nie mit einer Nackten Tee getrunken und werde das auch nie tun.“
„Jetzt hör mal zu, Alter. Ich bin mitgegangen, weil ich Kohle brauche; echte, gute Euros. Verstehst du? Ich will keinen Tee, ich will Bares – auf die Hand. Das verstehst du doch? Ich liefere auch dafür. Kannst mich haben wie du willst. Dafür bin ich ja da.“
„Dafür bist du gerade nicht da. Keiner ist dafür da. Mein liebes Kind …“
„Ich bin kein liebes Kind und ihres schon gar nicht. Ich bin auch älter als vierzehn. Brauchst also keine Angst zu haben wegen Verführung Minderjähriger oder so.“

„Minderjährig bist du sicher. Oder willst du behaupten, du wärst schon achtzehn?“
„Quatsch! Ich bin doch keine alte Tussi. Seh ich so aus? Wo machen wir’s? Jetzt komm schon; wo ist dein Schlafzimmer?“
„Die Tür links hinten im Flur. Halt! Halt!“, schreit er, als sie sich auf den Flur zu bewegt. „Blödsinn! Ich will nicht mit dir ins Schlafzimmer, ich will, das du dich anziehst.“
„Gefall ich dir nicht?“, sagt sie mit Schmollmund und dreht sich im Kreis. Mit beiden Händen fasst sie sich unter die flachen Brüste und schiebt sie hoch.
„Na? Stark, was?“
„Lass das! Oh Mann, bist du widerspenstig. Ich sage es noch einmal: Ich habe dich am Bahnhof angesprochen, weil du so verfroren, einsam – und traurig aussahst. Ich wollte mich mit dir unterhalten, dir eine Möglichkeit zum Aufwärmen geben, einen ordentlichen Schluck heißen Tee als Zugabe – und deine Zukunft besprechen.“
Sie schaut ihn an, als wäre seine Nase plötzlich grün geworden. Lange, mit starrem Blick. Sie schweigt still, denkt wohl nach und sieht ihn immer noch an. Er hört die Durchsagen vom Bahnhof. Ein Auto hupt anhaltend.
Sie macht ihn ganz verrückt; er muss es ihr erläutern. „Also, das ist so. Guck nicht so, Kind. Du hast mich ja nie erklären lassen. Ich wollte dir sagen, dass du da raus musst, aus dem Milieu. Aus dem Dreck, aus dem miesen Geschäft. Du bist doch noch ein Kind. Hör zu, ich sorge für dich, ich kann mir das leisten. Du suchst dir eine gute Arbeit und ich helfe dir dabei. Kannst sogar hier wohnen, wenn du willst. Da hinten ist ein Gästezimmer.“
„Sag mal, Opa, bist du von der Bahnhofsmission? Von der Heilsarmee?“
„Nein. Ich bin ein ganz normaler Mann …“
„Ha, das möchte ich bezweifeln“, fällt sie ihm ins Wort und tritt auf ihn zu. „Ihr Männer wollt doch alle nur das“, sagt sie und zeigte auf einen Punkt, irgendwo unter ihrem Bauchnabel.
„Nein! Nicht!“, ruft er heiser, als sie seinen Gürtel anfasst. „Lass den Blödsinn! Du siehst gut aus, bist sehr, sehr jung, hast ein hübsches Gesicht. Warum machst du so einen Scheiß – da auf dem Bahnhofsplatz?“
Sie geht einen halben Schritt zurück und betrachtet ihn von oben bis unten. „Weil die Bahnhofsbullen uns nicht in die Halle lassen.“
„Du bist zu blöde – entschuldige. Ich meine, warum überhaupt? Du könntest doch eine Lehre machen. Hast du kein Zuhause? Und komm mir nicht und sag, Mama und Papa hätten dich nicht lieb. Von den Männern da hat dich bestimmt keiner lieb; die wollen bloß …“
„Vögeln, meinst du?“
„Rede nicht so vulgär. Ein junges Mädchen wie du, sollte so nicht sprechen – und es vor allen Dingen nicht tun.“
„Vögeln. Vögeln“, singt sie mit einer eintönigen Melodie. „Sag es mal nach, Opa. Kannst du das Wort nicht aussprechen?“
„Nein – ja, sicher, schon. Aber du bist noch ein Kind. Ein Kind sollte solche Worte nicht kennen und schon gar nicht sagen.“
„Ach du dicke Scheiße! Soll ich dir mal alle Worte vorsagen, bei denen ein Pastor rot wird? Ich wette mit dir, dass ich mehr kenn als du. Machst du mit?“„Ich wette nie – und mit einem nackten Mädchen, das unanständige Worte sagen will, schon gar nicht.“
Sie steht noch immer da, unbekümmert, nackt, wippt auf den Zehen und mustert seine Einrichtung. An den Gemälden bleibt ihre Blicke länger hängen. Sie schaut ihn fragend an, dann wieder die dick umrahmten Bilder, die alle Wände des Raumes bedecken.
„Hast du diese Schinken gemalt?“
„Oh nein, ich kann das nicht. Das sind auch keine ‚Schinken’, sondern wertvolle Originale, französische Expressionisten. Ich war früher Galerist – also ich habe solche Gemälde verkauft.“
„Sind mächtig teuer, was?“
„Ja, aber das ist nicht wichtig. Du sollst dich hier wohl fühlen.“
„Wohl fühlen? Wie geht das denn?“, sagt sie und geht auf die Wand zu, an der die Kenwood-Anlage steht.
„Wohl fühlen! Tolles Wort. Hab ich vor hundert Jahren schon mal gehört. Wie macht man das?“
„Machen? Das geht nicht. Aber sieh dich hier um. Alles ist sauber, warm und gemütlich. Das ist so, weil ich mich wohl fühlen möchte. Das Ambiente muss stimmen, ob im Restaurant oder in der eigenen Wohnung. Wohlgefühl stellt sich von ganz alleine ein.“
„Aha! Machste mal Musik? Bei Musik fühl ich mich wohl. Oder kannste damit nur Eier kochen?“, fragt sie und fährt mit der Hand über die Schalter. „Haste sicher viel Geld für bezahlt, was? Kannst die überhaupt bedienen?“
„Ich kann. Was möchtest du hören? Romantik? Klassik? Oper?“
„Bist du bescheuert? Ich will tanzen – nackt tanzen ist geil. Hast du schon mal?“
Ganz langsam wird ihm mulmig und er fragt sich, ob er es richtig angefangen hat.
„Ich hab keine Tanzmusik und ich will nicht tanzen – nackt schon mal gar nicht.“
Sie ist anders, als er gedacht hat. Als er sie ansprach, ist sie sofort mitgegangen, als hätte sie auf ihn gewartet. Das hat ihn etwas verwundert. Seinen Erläuterungstext, den er geübt hat, brauchte er nicht, konnte ihn nicht loswerden, was ihn mächtig bedrückte. Er hatte sich gute Argumente und Angebote für sie ausgedacht – und dann ging sie einfach mit; ganz einfach so, ohne eine Frage, ohne seine Argumente hören zu wollen.

So zart, verletzlich und ängstlich hat sie ausgesehen. Er hat sie beobachtet. Nicht erst heute, nein, jeden Tag, schon seit dem Sommer. Er stand oft auf dem belebten, zugigen Platz, dicht neben dem Kiosk am Dom, las eine Zeitung, schielte über den Rand, studierte die Menschen, verfolgte ihre Bewegungen.
Besonders die jungen Menschen hatten es ihm angetan: Dealer, Kiffer, Prostituierte, Trinker und Taschendiebe. – Und die „alten geilen Knacker“, wie er die Kerle nannte, die sich immer die jüngsten Mädchen aussuchten.
„Oh, ich kenne sie alle. Ihre Tricks und Ticks, was sie anstellen und wovor sie Respekt oder Angst haben“, denkt er.
Sie – er nannte sie in Gedanken immer Silvia – war immer da gewesen, jeden Tag. Mehrere Male hat er gesehen, wie sie in Autos stieg, schnell, als wolle sie nicht erwischt werden.
Es hat ihn getroffen, betrübt und wütend gemacht – auf die „Scheißkerle, diese geilen Böcke“, wie er sie in Gedanken nannte – nicht auf sie.
Heute hat es reichlich unter Null Grad gehabt und es waren nur wenige Leute vor dem Bahnhof. Silvia tat ihm noch mehr Leid als sonst. Am Vortag hatte er es sich vorgenommen, und hatte es sich zur Sicherheit notiert. Heute hat er sie tatsächlich angesprochen, sie aus diesem Dreck und der Kälte raus geholt – und wenn’s nur für einige Monate ist.

„Gefällt´s dir hier?“, fragt er das Mädchen, das mit der Rechten über den weichen Stoff der Sessellehne streicht.
„Wie heißt das, was stimmen muss? In der Kneipe und so?“
„Ambiente. Entschuldige, ich hab … Das Wort bedeutet nichts als Umgebung; also sagt man, dass die Umgebung richtig sein muss.“
„Na, dann hab ich auch ein Ambiente. Da wo ich penne, stimmt auch alles. Trocken und dunkel, Geruch vom Rhein nach Öl und totem Fisch.“
Sie fährt mit dem nackten Fuß über die glatte Oberfläche der Buddhafigur, die neben dem Sessel steht. „Was ist denn das für ein Fettwanst? Haste den vom Trödel?“
„Nein, aus Nordindien. Ich … Also gut, ich bin Buddhist. Die Figur habe ich von meiner letzten Reise mitgebracht.“
„Aha! Hab ich schon von gehört. Bin ja nicht ganz blöde. Biste darum so komisch? Wegen dem Buddhadingsbums?“
„Wieso bin ich komisch, Kind?“
„Weil du mich nicht vögeln willst, darum. Du hast mich jetzt bestimmt schon tausend Mal Kind genannt. Bist du einer, der’s nur mit denen kann? Mein Alter, der war so einer; kann ich ’n Lied von singen.“
„Hat er dich? – Oh, nein!“
„Halt dich da raus, ja? Geht dich nix an. Ist Scheiße von Gestern. Lass bloß das Scheißwort ‚Kind’ weg.“
„Warum? Das ist doch kein Schimpfwort.“
„Warum! Warum! Weil ich es hasse! War ich nie, bin ich nie, will ich nie, nie sein. Hör auf, mich so was zu fragen.“
„Ich war gerne Kind. Meine Eltern waren – was waren sie eigentlich? Sie waren einfach da, wenn ich sie brauchte.“
„Scheiße! Aufhören, hab ich gesagt! Ich will über so einen Scheiß nicht reden. Komm lieber und lass es uns machen. Schnell! Ich brauch’ die Kohle und ich will weg von hier. Sag, wie du’s gerne hast. Soll ich einfach …“
„Nein, ich glaube nicht, dass du das wirklich willst. Also, bitte, geh in die Gästetoilette und zieh dich an. Ich mach uns jetzt den Tee.“
Er geht an ihr vorbei, streifte sie fast, weil sie sich zu ihm rüber lehnt und dabei kindisch kichert.
„Wann hast du’s zuletzt gemacht, Alter?“, ruft sie ihm nach und er ist froh, dass sie sein Gesicht nicht sehen kann.
Während das Wasser sich erhitzt, sucht er einen Assamtee raus und stellt das Porzellan aufs Tablett. „Wo wohnst du eigentlich? Ich meine, wenn du nicht am Bahnhof stehst?“, ruft er und dreht dabei den Kopf zum Wohnzimmer.
„Nirgends fest. Mal da – mal da. Die Stadt hat viele Brücken. Wie’s gerade so kommt. Wenn einer zahlt, bleib ich über Nacht. Kann ich heute bei dir schlafen?“
„Nicht als das, was du dir denkst. Nur als ganz normale Einquartierung. Und übrigens: Ich könnte dein Großvater sein.“
„Dacht’ ich mir schon. Hast du überhaupt mal ’ne Frau gehabt?“
„Was hast du gesagt?“, fragt er, weil er nur „Frau gehabt“ verstanden hat. Der Rest geht im Pfeifen des Wasserkessels unter.
„Nee, is’ schon gut. Geht mich nix an.“Als er ins Wohnzimmer kommt, steht sie noch immer nackt da. Er stellt das Tablett auf den Tisch und geht auf sie zu. Sie lächelte nicht, sieht ihn gelassen an. Er zögert einen Augenblick, fasst sie an den Schultern und schiebt sie vor sich her, in den Flur, auf die Toilettentür zu. Ihre Haut fühlt sich weich, warm und glatt an. „Angenehm“, denkt er und schämt sich.
Sie dreht sich blitzschnell um, legt die Arme um seinen Nacken, hebt sich auf die Zehenspitzen und drückt ihren mageren Körper an seinen.
„Knutschen is’ nicht. Aber alles andere. Komm!“, flüstert sie. Er spürt die Brüste, die sich an ihm reiben, und ihren Atem, der seinen Hals streift.
„Schluss! Aus! Lass los!“, sagt er erregt und schiebt sie von sich.
„Meine Güte! Du bist wirklich komisch. Ich bin gut, Alter, wirklich. Du kannst dir das nicht träumen, was ich mit dir mache. Ich koste übrigens nur dreißig Euro – für alles, was du willst – für die ganze Nacht aber hundert. Also das kannst du dir doch leisten oder?“
Er schiebt sie weg, bugsiert sie in die Toilette und macht das Licht an. Ihre Sachen liegen verknuddelt auf den Fliesen. Unterwäsche, Strumpfhose mit Laufmasche, fleckiger Pulli, der mal weiß gewesen sein muss, Jeans mit Rissen, Socken mit undefinierbarer Farbe, Turnschuhe mit krummer Sohle.
„Zieh das an! Sofort!“, sagt er scharf und drückt die Tür ins Schloss.
„Scheißkerl!“, schreit sie durch die geschlossene Tür und er hört sie weinen.
„Was für ein Kind“, denkt er, setzt sich an den Tisch und wartet. Sie kommt schnell, viel schneller, als er gedacht hat. Während des Gehens stopft sie sich den dünnen Pulli in die Hose. Ihr Gesicht ist rot und nass. Die Augen glänzen wie im Fieber und ihre kleinen Hände fummeln fahrig an dem karierten Umhang, den sie über der Schulter trägt.
„Setz dich, bitte. Ich hol auch was zum Knabbern.“
„Oh nein! Scheiße, Scheiße!“, schreit sie, „Lass das Gesülze.“
„Was hast du denn, Mädchen? Ich meine es gut mit dir. Gefällt es dir hier nicht?“, fragt er und zeigt, den Arm schwenkend, auf seine Einrichtung. „Das ist doch alles besser, als das, was dich da draußen erwartet.“
„Ja? Das weißt du? Woher denn? Du blöder, reicher, alter Mann. Nichts weißt du, gar nichts. Da draußen, wie du das nennst, da hab ich meine Freunde, meinen Spaß, da lebe ich. Da fühl ich mich wohl, verstehste? Das ist mein Ambiente. So was, wie das hier“, und sie zeigt, wie er, mit dem ausgestreckten Arm auf die Einrichtung, „dafür kann man sich da draußen nicht mal ’nen Joint kaufen. Ich brauch’ diese Scheiße nicht. Unter der Bahnhofsbrücke, im Schlafsack mit einem Freund, ist es angenehmer als hier – da fühl’ ich mich wohl. Hier ist es nicht warm, hier ist es stickigheiß wie in der Wüste. Ich könnte kotzen!“
Sie holt tief Luft, wischt sich mit dem Ärmel durchs Gesicht, geht in den Flur, öffnet die Wohnungstür, verharrt, dreht sich um und schaut ihn an.
„Warte!“, ruft er schnell. „Warte, ich gebe dir Geld. Du brauchst nicht anschaffen zu gehen. Ich gebe dir was.“
Sie schnauft, rüttelt wütend an der Türklinke. „Hör zu, du Seelenretter. Ich will kein Geld von dir. Das hier, das war Stress für mich, wenn du verstehst, was ich meine. Stress pur! So einen Scheiß, den kann ich nicht abhaben, verstehst du?“ Sie schluchzt und er will aufstehen, um sie in die Arme zu nehmen.
„Bleib sitzen! Wenn du meinst, du könntest eine arme Seele retten, aus dem Strichsumpf ziehen, hast du dich in der Adresse geirrt. Willst du damit in diesen … diesen Buddhahimmel kommen? Oder haben die so was gar nicht? Scheißegal! Ich verzichte auf deine Kohle, auf deinen Tee und dein wohl fühlen’. – Du kannst mich mal!“
„Halt! Bitte!“, ruft er und springt auf. „Bleib doch. Ich hab’s wirklich gut gemeint.“
„Ach, du Scheiße! Es geht schon wieder los. Du hast doch keine Ahnung, Alter. Du lebst in einer anderen Welt. Meine verstehst du nicht – nie! Und Tschüss!“, ruft sie, knallt die Tür hinter sich zu.
Er sitzt hoch aufgerichtet da, lauscht auf ihre schnellen Schritte, hört die Haustür knallen und dann wird es still. Vom Bahnhof kommt ein heiserer Pfiff. Er blickt auf die Uhr und nickt. Lange sitzt er da, spürt die Enttäuschung und versteht nicht.
„Was hab ich falsch gemacht? Was? Hätte ich es anders anpacken sollen? Ich hab sogar vergessen zu fragen, wie sie wirklich heißt. Hast dich mal wieder geirrt, Alter. Die wievielte war das? Die Zehnte, die Zwölfte? Egal. Bist und bleibst ein einsamer alter Tölpel.“
Er lehnt den Kopf an die Sessellehne und blickt zur Decke. Als die Tränen seinen Hals erreichen, wischt er einmal mit dem Ärmel drüber. Lange sitzt er still da, lauscht auf die Geräusche vom Bahnhof, versucht die Lautsprecherdurchsagen zu verstehen.
Als es dämmert, steht er auf, bringt das Tablett mit dem Tee in die Küche und putzt die Anrichte sauber. „Vielleicht hätte ich ihr erst einen Schein geben sollen. Das wäre bestimmt ganz anders gelaufen. Mensch, diese Mädchen, dies armen Dinger. Ich mein’s doch bloß gut. Die verstehen wirklich nur Bahnhof.“