Der Blick des Vikars gleitet über die Köpfe, die ihm ihre messerscharf gezeichneten Scheitel zeigen. Die mehr als dreißig Jungen starren auf ihre Hefte.

Es ist still; die Viertklässler haben gelernt, die Füße nicht zu bewegen und alle Geräusche zu vermeiden. In der zweiten Bank kann man das von Hosenböden polierte Holz der Schulbank erkennen; Heinrich Burkes Platz ist leer. Der Vikar nickt, ergreift die Kladde und macht den fälligen Eintrag.

Die Klassentür öffnet sich langsam; ein Junge windet sich um sie herum, drückt sie geräuschlos hinter sich zu. Er ist zu groß für sein Alter und die Hose ist zu kurz; das flachsblonde Haar ist mit Pomade streng an den Kopf geklebt.

Sein Blick schwenkt über die Köpfe der Mitschüler, bleibt am Gesicht des Vikars hängen. Der Mann schlägt die Kladde zu, starrt in die Klasse, beachtet den Neuankömmling nicht. Heinrich Burke weiß, dass er stehen bleiben muss.

"Nun, meine lieben Schüler. Wir werden uns mit dem Verstoß gegen das sechste Gebot und dem Thema Anstand und Sitte in der heutigen Zeit beschäftigen. – Und natürlich mit der Frage: Was können wir tun, damit wir von dieser Todsünde verschont bleiben? – Schlagt im Katechismus die Seite sechsundzwanzig auf."

Es raschelt und knistert; Heinrich Burke saugt die Luft durch die Nase, blickt zum Vikar und bewegt sich nicht, während seine Kameraden laut aus dem Katechismus lesen und die Fragen des Vikars beantworten.

„Wer keusch bleiben will, muss vor allem schamhaft sein. – Wer ist schamhaft?"

Der Junge an der Tür weiß es, murmelt mit fast geschlossenem Mund die fällige Antwort; es bleibt still in der Klasse.

„Nun, es ist ganz einfach: Schamhaft ist, wer die Teile des Körpers, die bedeckt sein sollen, nicht unnötig entblößt, anschaut oder berührt."

Die Jungen sind einverstanden, nicken, lernen nun alle Regeln der Sitte und des Anstandes kennen, wissen bald, welch schwere Sünde sie auf sich laden, wenn sie im Fluss baden und sich vor den Mädchen die nasse Hose herunter pulen.

Sie hören, dass man auf dem Klo nicht die Größe des sonst bedeckten Teils vergleichen soll. Sie sehen ein, dass man nicht durchs Schlüsselloch guckt, wenn die Schwester nackt in der Wanne sitzt und dass erst die kirchliche Trauung vollzogen sein muss, bevor man ein Kind zeugen darf – und dass man das Kind aus einer außerehelichen Verbindung ‚Kind der Sünde’ nennt.

Der Junge an der Tür starrt Löcher in die Luft, pendelt leicht mit dem Oberkörper. Man kann sehen, wie er unter der Last des Tornisters kleiner wird.

„Zum Abschluss gebe ich euch einen wichtigen Hinweis mit auf den Weg. Wie könnt ihr euch vor dieser Unmoral schützen? – Nun?"

Aber niemand kennt ein Patentrezept, das sich für die gerade betrachteten Fälle anwenden ließe.

„Nun. – Ich will es euch sagen: Wer mit unschamhaften Menschen umgeht, fällt leicht in die Sünde der Unkeuschheit. Meidet daher die Nähe solcher Geschöpfe; spielt nicht mit ihnen, flieht sie – immer!"

So einfach ist das also. Das gibt Erleichterung, das lässt sie zustimmen und mit den Köpfen nicken. Sie wissen sogleich, wen man für einen solchen Fall als passendes Beispiel heran ziehen kann und die akkuraten Scheitel fast aller Jungen drehen sich – wie an der Schnur gezogen – langsam zur Tür.

Sie erkennen, dass es nicht leicht ist, wenn man fast eine Stunde lang auf der Stelle stehen und dabei einen voll gepackten Tornister tragen muss, in den ein Unsichtbarer scheinbar in jeder Minute ein paar zusätzliche Bücher packt. Die Last hat die Schultern des Jungen nach vorne gezwungen, hat ihm einen Buckel und eingeknickte Knie gemacht. Endlich, dreht sich auch der Vikar zur Tür, nimmt mit hochgezogenen Augenbrauen den Jungen zur Kenntnis.

„Aha! Schon wieder du. Lasset die Kindlein zu mir kommen, spricht der Herr. Komm also her zu mir, Heinrich Burke."

Der Junge geht langsam; seine Beine sind steif, die Schritte müssen einzeln angefordert werden. Als er, unscheinbar und schmächtig, neben dem Mann in Schwarz steht, kichern einige Jungen in den hinteren Reihen.

„Wir haben gerade gelernt: Meidet den Umgang mit unkeuschen Menschen. Der Herr in seiner Güte hat uns den richtigen Weg gewiesen. Nehmt diesen Bengel als mahnendes Beispiel. Ihr wisst, aus welchem Haus er kommt, wie dort das sechste Gebot des Herrn missachtet und deshalb dieses Kind der Sünde gezeugt wurde. Aus diesem Jungen konnte nichts werden. Seine Verfehlungen sind uns bekannt. Wer kommt immer wieder unpünktlich? Wer fehlt am Sonntag im Gottesdienst? – Ihr kennt die Antworten."

Seine Linke tastet nach hinten und greift den zierlichen Stock, der spielerisch von einer Hand in die andere wechselt. Die Schüler beobachten das Stöckchen, das der Vikar den ‚verlängerten Finger des Herrn’ nennt; etliche haben sein Wirken schön am eigenen Leib erfahren dürfen.

„Gib mir deine linke Hand, Burke", sagte der Vikar sanft.

Der Junge hebt den Arm, öffnet die Hand, die sich erkennbar sträubt. Aber er weiß, was passiert, wenn er es nicht tut. Der Vikar zieht die Hand an den nach Tabak riechenden Talar.

„Im Namen des gnädigen Herrn. Heinrich Burke – für dich gibt es heute zehn für die Verspätung."

Das Stöckchen pfeift, zeichnet weiße Striemen, macht nasse Augen – und nach dem sechsten Schlag macht es auch, dass sich die Blase leert. Aber Heinrich Burke weint nicht, schreit nicht, zuckt nicht. – Alles in ihm ist aus Eis.

Er denkt an den Frosch, dem er ein Bein ausgerissen hat – und an sein schlechtes Gewissen, das ihn quält. Er hat geweint in der Nacht und geschworen, nie mehr Froschbeine auszureißen.

Dann ist es vorbei. Sein Arm sinkt herunter; die Finger sind dick, weit gespreizt. In der ersten Reihe grinsen sie, blicken auf die Pfütze an seinen Füßen. Das Eis verschwindet und eine heiße Welle der Scham überfällt ihn, lässt sein Gesicht rot werden. Er blickt in die lachenden Gesichter seiner Mitschüler und wünscht sich tot zu sein.

„Du kannst dich setzen. Wisch das in der Pause auf. Und für euch alle: In der nächsten Stunde werden wir das Thema Nächstenliebe besprechen. Der Herr segne euch und behüte euch, meine Kinder."