„Wir haben Glück, dass die Leute vom Friedhofsamt die Bank genau vor unser Grab gestellt haben. Da kannst du deine Sachen ordentlich ablegen und dich hinsetzen, wenn du dich mal ausruhen willst – oder einfach nur nachdenken möchtest.“
„Du hast Recht, Heinz. Sie hätten sie ja auch bei Hansens hinstellen können – fast fünfzig Meter weiter. Obschon, hier ist der schönste Platz für eine Ruhebank, direkt unter’m alten Kastanienbaum. Hier können sich ja auch andere Leute hinsetzen, oder? Hast du gesehen, wie die neidisch geguckt hat, die Hansens Else, als die vorhin hier aufkreuzte?“
„Die ist doch immer neidisch, wenn andere was mehr haben als sie. Warte ab. Die schickt bestimmt einen Beschwerdebrief an das Friedhofsamt. ‚Warum haben Schusters eine eigene Bank vor dem Grab der Eltern stehen? Warum wir nicht? Gleiches Recht für alle!’ Du kennst die ja.“
Er lachte und schaute sich erschrocken um. „Auf dem Friedhof lacht man nicht“, hatte seine Mutter immer gesagt. Aber niemand war zu sehen, sogar die Friedhofsgärtner waren verschwunden, wie immer in der Mittagszeit.
Er lag auf den Knien, rubbelte mit dem dicken Lappen, der nur für das Polieren des Grabsteins benutzt werden durfte, die leicht vermoosten Buchstaben. Als er das ‚h’ von Heinrich fertig hatte, fiel ihm das lachende Gesicht seines Vaters ein. Er wollte sich nicht vorstellen, dass der lebenslustige Mann da unten vermoderte; er musste ihn sich noch einmal als lebendig in Erinnerung rufen.
„Heike, weißt du … Ach, du hast Vater ja nicht mehr kennen gelernt. Schade! Es gibt hundert und mehr Geschichten über ihn. Mir fällt gerade ein, wie Mutter und ich sonntags oft mit ihm zum ‚Früh’ gegangen sind. In dem alten Brauhaus ‚Am Hof’ konntest du damals noch ganz gemütlich zum Frühschoppen gehen; da waren wir Kölner unter uns. Heute ist da ja nur ausländisches Kauderwelsch zu hören und die Massen erdrücken dich.“
„Sicher, aber wie sollen die ohne die Touristen überleben? Sei froh, dass so viele Menschen unsere Stadt besuchen.“
„Bin ich ja auch. Ich mein ja nur. Damals war’s jedenfalls gemütlicher. Vater trank sich ein par Kölsch und Mutter und ich eine Limonade. Dann gab’s für alle ‚Rievkooche’! Du weißt ja, wie gerne ich die knusprigen Reibekuchen esse; deine sind übrigens noch besser als die damals im ‚Früh’.
Wenn Vater genug hatte – nach Meinung von Mutter – dann stand sie auf und rief: ‚Köbes! Dä Heini is parat! Kumm kasseere!’ und Vater stand ganz brav auf.“

„Ja, ich hätte ihn gerne kennengelernt. Vater soll dir sehr ähnlich gewesen sein, sagte deine Mutter immer“, antwortete Heike.
Sie setzte sich auf die neue Bank, lehnte sich zurück und betrachtete die Gruft. Nichts fehlte. Sie hatte Blätter und Unkraut entfernt, alles durchgehackt und die Kerze in der schmiedeeisernen Gruftlampe entzündet. Ein Strauß frischer gelber Rosen steckte in der Metallvase.
„Jetzt liegt deine Mutter auch schon fast zehn Jahre da unten. Meine Güte, wie die Zeit vergeht.“
„Ja“, seufzte Heinz und setzte sich zu ihr, „wir werden alt. Wenn ich daran denke, wie du ihr damals zum ersten Mal begegnet bist. Es ist mir noch wie heute. Erinnerst du dich daran? Mein Gott! Das war ein Tag!“
„Nee, so schlimm war’s nicht. Das war eine andere Zeit, Heinz. Alles war so offen, alles war noch möglich. Wir waren jung, frisch verliebt und die ganze Zukunft lag vor uns.“
„Ja, was hatte ich für Pläne. Nix ist daraus geworden, alles ist anders gekommen. Nur dich hab’ ich fest gehalten, immer! Mensch, war ich damals in dich verknallt. Sag mal; kamen wir nicht gerade von der Tanzschule, als wir zu Mutter gingen? Ja sicher! Das war – warte mal – samstags. Das muss an einem Samstag gewesen sein, weil wir samstags …“
„Nein, Heinz, du vertust dich. Das war zwar an einem Samstag – aber wir gingen doch vor dem Mittagessen zu deiner Mutter. Also können wir nicht aus der Tanzschule gekommen sein. Ich weiß noch genau, wie ich mit ihr in die Küche gehen musste – und du hast ziemlich dumm aus der Wäsche geguckt.“ Sie lachte laut und fröhlich bei der Erinnerung.
„Ja, du hast Recht. So war’s wohl. War ’ne schöne Zeit, nich’ wahr?“ Er seufzte, schaute verträumt in die herbstwarme Sonne und versank in Erinnerungen.

Sie kannten sich seit drei Monaten, er und die Heike. Sie hatten ein paar Mal miteinander Walzerschritte geübt und dabei hatte es gefunkt. Ab dem Zeitpunkt begleitet er sie immer nach Hause und bedauert, dass sie nicht sehr weit weg von der Tanzschule wohnte. Ihre Wohnung lag im dritten Stock eines Hauses am Domgässchen.
„Wenn die Glocken im Dom loslegen, dann tanzen bei uns im Schrank die Gläser den Domwalzer“, erzählte Heike. „Vater sagt immer, die würden ‚Stippeföttchen’ tanzen, aber dann wird Mutter sauer.“
Sie waren sich schnell näher gekommen und an einem Abend im August, nach dem Tanzkursus, hatte er sie am Rheinufer geküsst. Sie gestanden sich gegenseitig ihre unendliche Liebe und er fragte sie, ob sie ihn heiraten würde – ‚bald, ganz schnell’. Sie hatte abgrundtief geseufzt und ein kaum hörbares ‚Ja’ gehaucht.
Es war ein schöner, warmer Abend gewesen. Der dunkle Rhein spiegelte die Lichter der Häuser von Deutz wieder und ab und zu fuhr ein schwarzer Schatten tuckernd durch das Stadtbild, ließ die Lichter zerfledern und wild tanzen. Sie schauten zu, wie das Wasser sich beruhigte, lauschten dem aufgeregten Plätschern der kleinen Wellen auf den Rheinkieseln und waren zeitlos glücklich.

„Weißt du noch, Heike, als wir uns geschworen haben, dass wir nie mehr auseinander gehen wollten? – Wir saßen im Dunkeln, ganz alleine unten an der Böschung am Rheinufer. Du hattest so ein kurzes Kleidchen an und man konnte deine langen braunen Beine sehen. Wenn ich daran denke! Gut, dass uns keiner gesehen hat!“

„Deine Erinnerung spielt dir einen Streich“, lachte Heike. „Ich weiß nicht, was du noch weißt, aber mehr als ein Kuss war da nicht. Nie!“
„Oh doch! Ich erinnere mich an etwas mehr.“
„Männer! Du wolltest mehr; aber da hast du gleich was auf die Finger gekriegt. Nix war!“
„Machst mir meine ganze schöne Erinnerung kaputt. Mein Erinnerungsvermögen ist sehr gut; ich leide nicht an Vergesslichkeit.“
„Und wer hat letzten Monat unseren Hochzeitstag vergessen? Etwa ich?“
„Das musste ja kommen. Aber glaub’ mir: Ich weiß noch alles, was damals war. Es war am Freitag; ich weiß es noch wie heute. Über die Hohenzollernbrücke fuhr ein hell erleuchteter D-Zug und wir träumten von Reisen in den Süden. Bayern wolltest du unbedingt sehen – und Italien. Wir lagen im warmen Gras, haben geträumt und die Sterne gezählt. Du siehst, ich weiß noch alles.“„Na, wenn das alles ist, dann bin ich einverstanden.“
„Ein bisschen mehr als ein Kuss war da schon noch. Ihr Frauen wisst immer nur das, was ihr zugeben wollt. Und dann haben wir gesagt, dass wir Nägel mit Köpfen machen wollen, damit … Wären wir sonst am nächsten Tag zu Mutter gegangen? Meine Güte, was hab’ ich für einen Schiss gehabt! Ich war zwar keine achtzehn mehr, aber trotzdem – es war schon ein schwerer Gang.“
Er dachte an seine Mutter, die so kritisch war, dass er lieber dem Pastor beichtete, als ihr. Mädchen nach Haus bringen, das war ein Abenteuer mit ziemlich gewissem Ausgang. Wenn ihr eine nicht gefiel – und ihr gefiel eigentlich nie eine –, dann konnte man sicher sein, dass sie nie mehr den Wunsch hatte, ihn zu Hause zu besuchen.
„Hattest du damals eigentlich Schiss, als ich dich Mutter vorgestellt habe?“
„Nein, warum auch. Ich kannte sie ja nicht. Wenn ich sie gekannt hätte – dann vielleicht.“

Er hatte Heike von zu Hause abgeholt. Sein Gefühl war etwas besser als sonst, wenn er ein Mädchen mitbrachte. Heike ließ sich nicht so schnell die Butter vom Brot nehmen. Seine Heike war genau die Richtige; er hatte es gleich gewusst, als er sie sah.
Trotzdem hatte er ihr geraten, den längsten Rock anzuziehen, den sie im Schrank hatte, die Nägel nicht zu lackieren und – wenn überhaupt – keinen knalligen Lippenstift zu benutzen.
„Du kennst Mutter nicht! Die hat da ganz verquaste Ansichten. Außerdem sei sie noch in Trauer und da erbitte sie sich Rücksicht, hat sie vor ein paar Wochen erst gesagt, als ihre Schulfreundin sie besuchte. Die hatte aber auch einen grellen Lippenstift drauf gehabt!“
„Sonst seid ihr aber ganz gesund?“, hatte Heike entrüstet gefragt. Aber sie hatte sich an seine Anweisungen gehalten und sah ganz brav aus.
Als sie vor der Haustür standen, zitterten seine Hände trotzdem vor Aufregung. Er konnte kaum den Metallflügel der mechanischen Klingel drehen. Vier Mal schickte er ihren schrillen Ton durch das große Haus; das durchdringende Geräusch war noch beim Nachbarn zu hören.
Da konnte man auf dem Klo sitzen und vergaß vor Schreck, dass die Hose noch runter hing. Oder wenn man im Bett lag, weckte sie einem aus dem tiefsten Schlaf – selbst, wenn man gerade zehn Kölsch getrunken hatte.
„Das moderne Zeugs kommt mir nicht ins Haus. Die Klingel hat mein Heinrich noch selber eingebaut. Die tut so lange ihre Dienste, wie diese Mauern stehen“, hatte Mutter bestimmt, als er den Klingelelektriker bestellen wollte.
„Warum hast du dieses schreckliche Ding gleich vier Mal gedreht? Einmal hätte gereicht, um Tote zu wecken“, fragte Heike entsetzt.
„Weil das so festgelegt ist. Fremde klingeln nie mehr als einmal. Bei dem schrillen Ton möchten die am liebsten vor Schreck weglaufen. Zwei Mal ist für Mutter reserviert, drei Mal für Vater und …“
„Ich denk, dein Vater ist schon zwei Jahre tot?“
„Ja schon, aber das Klingelzeichen bleibt belegt, solange sie lebt, hat Mutter gesagt. Sonst würde sie noch glauben, der Jüngste Tag wär angebrochen und er stünde vor der Tür; das könnte ihr Herz nicht aushalten.“
„Ich fass es nicht!“
„Ist aber so. Wo war ich? Ach so, und vier Mal, das bin ich. Das System ist doch gut? Da weiß man gleich, wer da vor der Tür steht. Und der Pastor hat übrigens zwei und eine halbe Umdrehung verordnet gekriegt; der gehört ja fast zur Familie.“
„Mein Gott! Das glaub’ ich alles einfach nicht.“
„Tach!“, sagte es und seine Mutter betrachtete sie mit listigen kleinen Augen. „Kummt eren!“
Sie war sehr klein, dafür aber gehörig breit geraten, mit ausladenden Hüften. Sie trug ein schwarzes Kleid, schwarze Strümpfe und um den Hals hatte sie sich ein schwarzes Seidentuch geknüpft. Ihre Füße steckten in ausgetretenen Latschen – ebenfalls schwarz. Sie sah sich nicht mehr um, ging einfach weg und verschwand hinter der Windfangtür.
„Hast du keinen eigenen Schlüssel?“, flüsterte Heike.
„Doch, aber den darf man nicht benutzen, wenn man nicht alleine kommt. Mutter wusste deshalb sofort, dass ich nicht alleine bin.“
„Himmel!“
„Dat is also ding nigge Fründin! Han ick me allt jedaach. Wat biste denn vor eene?“
Mutter Schuster stand mitten im täglichen Wohnzimmer, in dem auch gegessen wurde, und stemmte kämpferisch die Hände in die Hüften. Ihre kleinen Augen musterten das Mädchen, taxierten Kleidung, Lippenstift – und sehr lange das hübsche Gesicht.
„Mutter! Sprich bitte Hochdeutsch. Die Heike versteht dich nicht. Sie ist noch nicht lange im Rheinland“, sagte er vorwurfsvoll und schaute Heike entschuldigend an.
„Mach dir nichts daraus, Heike. Mutter kann hervorragend Hochdeutsch sprechen. Sie macht das nur, um dich zu ärgern und zu verunsichern.“
„Was hat sie denn gesagt?“
„Sie wollte wissen, wer du bist.“
„Ah! Ne Immi. Min Jott, wat ist dat vör ne Zick!“, sagte Mutter Schuster laut dazwischen und schüttelte entsetzt den Kopf.
„Was hat sie jetzt schon wieder gesagt?“
„Du wärst eine Auswärtige, eine Immigrierte, weil du kein Kölsch verstehst und dass die Zeiten deshalb schrecklich wären.“
„Aha! Also, guten Tag, Frau Schuster. Etwas Kölsch versteh’ ich schon. Ich bin die Heike Hansen. Wir gehen zusammen in die Tanzschule – der Heinz und ich.“
„Dä säät me ja nix. Dorüm! Sing neu Schohn hät dä en e paar Woche allt verjöck.“
„Mutter! Erstens habe ich dir sehr wohl von der Tanzschule erzählt, aber du vergisst alles. Zweitens waren die ‚neuen’ Schuhe fast neun Monate alt und die Sohlen sind nicht vom Tanzen kaputt gegangen, sondern weil ich damit in den letzten sieben Monaten täglich drei Kilometer zur Arbeit gelaufen bin, weil’s Moped hinüber ist.“
„Su, su. Warum haste dat Mädchen mitjebracht, Heinz?“ Sie sprach jetzt in einem kunterbunten Gemisch aus Hochdeutsch und Kölner Dialekt; alles mit einem kölschen Singsang-Akzent verbunden.
„Mutter! Du fragst Sachen! Ich wollte das ganz anders anfangen, so bei einer Tasse Kaffee – und wenn du die Heike etwas kennst.“
„Wat för nen Quatsch! Nach nem Kaffeepöttchen kenn ick dat Mädchen och nit. Da müsse mer schon ne halve Sack Salz zesamme jejessen ham.“
„Mutter – die Heike und ich – wir wollen heiraten. Wir lieben uns und wir wollen für immer zusammen sein. Was sagst du dazu?“
„För emmer? Su, su!“
„Was heißt denn das schon wieder? Natürlich für immer! Glaubst du uns nicht? Wir sind alt genug, Mutter. Ich bin achtundzwanzig und es wird Zeit für mich.“Heike stand ruhig und beobachte, wie die Blicke der Frau Schuster zwischen ihr und ihrem Sohn schnell hin und her huschten. Dann flog ein Lächeln über Frau Schusters Gesicht und sie blickte Heike direkt an.
„Jut! Dann luure mer mal. Ick mein, schauen wir mal. – Mein Mädchen, da haste dir wat vorjenommen, wat du noch nit överblickst. – Fange mer mal beim Wichtigsten an: Wer kocht für dich?“
„Es reicht, Mutter! Warum fragst du die Heike das?“
„Lass, Heinz. Am Wochenende kocht meine Mutter und in der Woche der Kantinenkoch“, sagte Heike ganz ruhig und lächelte.
„Hät dä dir jesaat“, sie zeigte mit dem Kopf auf ihren Sohn, „wat he för ne Fresskopp is? Dä is verwöhnt, dä Jung! Drei Mal inner Woch muss et kölsche Spezialitäten jevve, söns wird dä zum Knurrhahn und isst außerhalb.“
„Mutter! Mach mich nicht schlecht. Und was soll das alles?“
Frau Schuster ging nicht darauf ein, sprach nur noch mit dem Mädchen.
„Min Heinrich – Jott hab’ ihn selig! – wor mehr als dreßich Johr met mi verhierot. Jlaubst du, dat wär dä Kääl nur aus Liebe? Pah! Lihre mich de Mannslük kennen! Ne, min Mädchen; de Liebe jeht durch den Majen. Und wenn de dat nich verstehs, hasse verloren. Dann jehn de Mannslük auswärts essen! Haste mich verstanden?“
„Ja. Ich weiß, was Sie meinen, Frau Schuster. Aber der Heinz, der weiß, dass er sich überall Appetit holen kann; gegessen wird zu Hause!“
„Mutter, soll das hier eine Aufnahmeprüfung werden?“
Seine Mutter sah ihn listig an, knibbelte mit den Augen und wippte auf den Zehen.
„Da sääst de wat, min Sohn. – Ja, da ist wat dran.“
Sie blickte gleichmütig in die erstaunten Gesichter der jungen Leute und dann auf die große Wanduhr.
„Et ist koot vor Meedach. Wie an jedem Sambsdaach, jibt et och hük ne feine kölsche Zupp. Mer Kölner lieben de Zupp, wie dat Knin de Möhren. Kannst ja schon mal wat von use schöne Sproch lihre. Hük jibt et Ähzesupp! Klar?“
„Klar!“, sagte Heike grinsend. „Heute gibt’s Ähzesupp, also ganz bestimmt eine Erbsensuppe auf kölsche Art. Stimmt´s“
„Hat sie den ersten Teil der Aufnahmeprüfung bestanden? Du hast mir immer noch keine Antwort darauf gegeben, was du zu unseren Heiratsplänen sagst“, schnaufte Heinz empört.
„Bin mitten drin, Jung. Bin mitten drin. Langsam!“
Si lächelte Heike an. „Also, mein Mädchen. Ick han schon allet injekooft und inne Küch parat jelecht: ick wollt jleich met dem Koche anfangen. Mer beide jehn jetzt in de Küche, binde us Schürzen üm un dann zeichste me, wie ne anständije kölsche Ähzesupp jemacht weed.“
„Mutter!“
„Halt dich heruss, Jung! Wenn dat Essen fertig is, rufen mer dich. Jeh un mach den Hof sauber. Da lijen de Dreckklumpen bis anne Dör! Danach kannze essen kumme und ick luur din Jesech an. Dann kalle mer över de Hierot – oder och nit“, sagte sie und blinzelte schon wieder.
„Komm Mädchen. Wie heißte noch? Ist dat och ne katholische Name? Biste överhaupt katholisch? In use Familich hat et nie ne evanjelische Minsch jejeven. Wo wohnt ihr? Ach, em Domjässchen? Da hastet ja nit wig bis zur Messe im Dom …“

„Erinnerst du dich noch daran, Heinz, wie mich deine Mutter einfach an den Herd gestellt hat? Ich sollte Ähzesupp kochen, sagte sie. Meine Güte war ich aufgeregt.“
„Ja, da hab’ ich auch gerade dran denken müssen. War schon ein Original, unsere Mutter. Wie die damals erst so tat, als wenn sie das nur nebenbei interessieren würde, dass wir heiraten wollten.“
Heike stand mühsam auf, streckte den schmerzenden Rücken und ging zum Grab.
„Hat nur so getan; innerlich hat sie gezittert, hat sie mir später gestanden. Sie hatte große Angst um sich und um deine und meine Zukunft. – Ach Gott! Ich hab’ vergessen die Gläser in der Lampe zu putzen; gib mir noch mal den Lappen.“
Sie wienerte die kleinen Scheiben, spuckte auf den Lappenrand und entfernte den Fliegendreck. Dann setzte sie sich wieder neben ihren Mann und lehnte sich an.
„Jetzt sind wir schon fast dreißig Jahre verheiratet und du hast nie gefragt, wie’s damals in der Küche war“, sagte sie gespielt vorwurfsvoll.
Er knurrte leise und streichelte ihre weiße Hand, die keine Falten hatte.
„Hab’ mich nur für das interessiert, was raus kam aus der Küche. Wie’s gemacht wurde – nee, daran hab’ ich nie gedacht. Erzähl mal. Wir haben noch Zeit; der Bus fährt erst in einer Stunde.“

„Alles lag säuberlich aufgereiht auf dem großen Küchentisch. In einem Topf waren aufgeweichte Erbsen. Auch Fleischbrühe, mit ordentlich Fettaugen oben drauf, stand bereit und die Kartoffeln waren geschält; sie wollte ja ursprünglich selber um diese Zeit kochen. Sie holte eine mit Stärke steif gemachte Schürze aus der Schublade und band sie mir um. Dann ging’s los.“
„Was hat sie dabei gemacht? Hat sie dir geholfen? Sie wusste es bestimmt immer besser als du.“
„Nein!“ Heike lachte. „Sie stand nur da und sah wortlos zu. Halt! Nicht ganz! Eine kleine Auseinandersetzung gab es, als sie ich nach der Sellerieknolle fragte.
‚Wat willste damit?’, fragte sie. ‚Min Heinrich mocht kenne Sellerie – un de Heinz isst dat och nit!’
‚Woher wissen Sie das?’, fragte ich.
‚Dat hat dä Jung von sinne Vadder jeervt; hat fast allet von dem mitjekrecht. Ick han noch nie Sellerie jekocht; hat och ken Minsch vermisst’, sagte sie trotzig zu mir.
‚Ich brauche aber Sellerie!’, habe ich gesagt, habe mir die Schürze abgebunden und bin einfach nach nebenan in den Gemüseladen gerannt. Damals waren das noch die Kötters – was mag aus denen geworden sein nach der Pleite?“
„Keine Ahnung. Die Benders sind jetzt schon fünfzehn Jahre da drin, oder?“
„Bestimmt! Ich hab also eine Sellerieknolle gekauft und bin zurück. Deine Mutter stand am gleichen Fleck wie vorher. Ich hab’ alles fertig gemacht, wie ich’s gelernt hatte. Beim Würzen hat sie sich auf die Zehenspitzen gestellt, um ja nichts zu verpassen. Zum Schluss hab’ ich die Blutwurst gebraten und da hat sie zum ersten Mal genickt. Nicht einfach so! Sie hat gelächelt und genickt!“
‚Ne jut jebrodene Flönz, dat ist de Himmel op Äd, hat min Heinrich immer jesaat, de aß dat am leevsten mit Öllig.’
‚Ist doch klar! Zu einer Ähzesupp würd ich auch nur Flönz braten. Aber Öllig? Ich mag Zwiebeln nicht so gerne.’
‚Wieso kannste so jut kochen, Mädchen?’, hat sie mich gefragt und die Nase über den Topf mit der Ähzesupp gehängt.
‚Ich hab’ Kölsch-Kochkurse besucht, Frau Schuster. Ich kann auch die anderen Gerichte kochen, die von den Rheinländern so gerne gegessen werden. Von der Ölligzupp bis zum Hämmche. Ich persönlich mag Hämmche, also Eisbein, am liebsten’, habe ich ihr gesagt.“„Ich weiß noch, wie du verschwitzt aus der Küche kamst und den Suppentopf und die Bratpfanne aufgetragen hast. Mutter hat die Teller hingestellt und dann hat sie mich während des ganzen Essens nur angestarrt. Ich wusste ja nicht, was sie wollte. Als ich die Suppe lobte und sagte, dass mir noch nie eine Ähzesupp so gut geschmeckt hätte, da hat sie genickt und gesagt: ‚Du häs Jlöck met dingem Mädchen, min Jung!’ Und dann hat sie gefragt, wann wir heiraten wollten.“
Heike lachte bei dem Gedanken an diesen Augenblick.
„Aber wie sie geguckt hat, als ich sagte: ‚Nur unter einer Bedingung!’ Du hast genau so blöde geguckt.“
„Na ja, ich wusste doch überhaupt nicht, was du wolltest.“
Sie lehnen sich beide zurück, fassen sich an den Händen und versinken in Erinnerungen.
„Schön, dass ich die Prüfung bestanden habe, Frau Schuster. Aber bevor ich hier fest mache, müssen wir noch was regeln. Ich hab’ da eine Bedingung.“
„Ich versteh nich, Mädchen. Wat för ne Bedingung? Mir stellt ken Minsch ne Bedingung – noch nie hat dat einer jewaacht.“
„Dann bin ich die Erste, die es wagt. Also, es geht um die Klingel! Heinz bekommt drei Mal und ich vier Mal. Alles andere kann bleiben.“
„Nie! Drei Mal jehört dem Heinrich!“
„Falsch! Dann müsste ich fünf Mal nehmen; das mache ich nicht. Drei Mal bekommt der Herr im Hause. Wenn er auch nichts zu sagen hat, aber die Drei ist das Zeichen, dass der Hausherr kommt. Es wird Sie an ihren Mann erinnern und das ist doch nur gut. Jetzt kommt bei drei Mal Klingeln eben Ihr Sohn ins Haus.“
Sie überlegte lange und dann nickte sie ergeben.
„Jut! Aber zwei und ne halve Umdrehung für de Pastor, dat bliev, oder?“
Heike schreckt aus ihren Erinnerungen, blickt erschrocken auf die Uhr.
„Müssen wir los, Heinz? Denk daran, wir haben noch ein paar Meter bis zur Haltestelle!“
„Keine Bange! Ist noch massig Zeit. Kannst du dich noch daran erinnern, wie deine Eltern uns zur Verlobungsfeier ins Dom-Hotel eingeladen haben, Heike?“
„Hör auf, Heinz, sonst krieg ich wieder einen Lachanfall. Wenn ich an das Gesicht des hoch vornehmen Obers denke, der deine Mutter mit Hamburger Dialekt fragte: ‚Haben gnädige Frau bereits gewählt?’ Erst hat sie die Stirn gerunzelt und dann zurück gefragt: ‚Wat ham se jesaacht, junger Mann?’ Sein Gesicht war köstlich!“
„Ja, aber wie der erst geguckt hat, als Mutter sagte; ‚Ick ess ne Halve Hahn, junger Mann.’ Da hat der sehr lange nachgedacht und dann leise geflötet: ‚Tut mir leid, gnädige Frau, aber Hähnchen gibt es in diesem Hause nicht. Darf es etwas anderes sein?’ Deine Eltern haben ausgesehen wie die Schafe auf der Rheinwiese, wenn sie ein Auto sehen. Und wir beide haben gelacht, dass mir die Seiten wehtaten.“
„Deine Mutter hat erst überlegt und dann hat sie auch gelacht. Himmel, es war köstlich. Ich hab’ da erst erfahren, dass meine Eltern auch nicht wussten, was ein ‚Kölscher Halve Hahn’ ist. Aber der Ober war doch sehr nett. Als ich ihm erklärte, dass einfach ein Röggelchen dick mit mittelaltem Gouda belegt und dann ordentlich mit Senf bestrichen wird, da brachte er fünf Mal Halve Hahn für uns alle und sagte mit großer Geste: ‚Ein kleiner Gruß aus der Küche. Guten Appetit, meine Herrschaften.’ Und Mutter war zufrieden, dass man in diesem teuren Kölner Restaurant auch das bekam, „wat jede kölsche Minsch kennt’, wie sie meinen Eltern zufrieden erklärte.“
„Waren schöne Zeiten, was Heike?“
„Bloß gut, dass man die schlechten Dinge so schnell vergisst.“

Sie standen schwerfällig auf, suchten ihre Sachen zusammen, warfen einen letzten Blick auf das Grab, bekreuzigten sich und gingen langsam zum Ausgang.
„Ist wirklich gut, das mit der Bank!“, sagte Heinz und Heike nickte.
„Mutter war eine gute Seele“, sagte er nach einer Weile. „War eine schöne Zeit mit ihr zusammen. Schade, dass sie so früh sterben musste.“
„Ja, von mir aus hätte sie hundert werden können. Sie war meine beste Freundin.“
Heike blickte sich noch einmal um. „Kochen konnte sie! Ihr ‚Himmel un Äd’ hat mir nie und nirgendwo besser geschmeckt als bei Mutter.“
„Ja, aber die Flönz mit Öllig war noch besser! Und dann erst die …“
„Heinz! Der Bus! Der fährt gleich ab, Himmel! Du Trödelkopp! Von wegen, wir haben Zeit! Lauf, halt ihn auf!“