„Kannst ohne Sorge fahren, Anschikaija. Wir bleiben ja hier und nichts wird deinem Haus und den Tieren passieren“, versprach Petrovitsch und alle nickten.

*
Die Sonne ging gerade als milchig rote Riesenscheibe hinter der Desna auf, als das schwarze Auto wieder die Dorfstraße herauf gerumpelt kam.
Professor Boronow saß lächelnd im Fond und ließ sich gehörig durchrütteln. Obwohl die Straße menschenleer in der Morgensonne lag, wusste er, dass dem Auto viele Augen folgten. Zitternde Gardinen und hastig verschlossene Türen nahm er mir einem Lächeln zur Kenntnis.
Als er vor Ajas Haus ausstieg, drehte er sich in alle Richtungen, zeigte sein schmales gepflegtes Gesicht und reckte ein wenig die magere Brust, um den daran baumelnden und auf Hochglanz polierten Orden zur Geltung zu bringen.
„Du bist früh, lieber Iljitsch!“, rief Anschikaijas aus dem Haus. „Ich muss noch viel erledigen!“
„Früh? Siehst du die Sonne? Was habe ich gesagt? Nun? Mach zu, du tüdelige Aja! Ach, diese russischen Weiber! Sie haben nur ihre Kleider im Kopf! Der Zug fährt auch ohne uns; du hast nur noch eine halbe Stunde!“
Doch sie ließ sich nicht beirren, schloss zunächst sorgfältig den Gänsestall, zählte pedantisch Gänse, Hühner und Schweine, trug alles in eine kleine zerflederte Kladde ein und prüfte den Riegel am Schweinekoben.
Dann ging sie ins Haus, holte ihr Kleid aus der Korbtruhe, bürstete es aus und steckte es, zusammen mit ausreichend Unterwäsche, in die kleine Tasche aus braunem Gummi.
Danach schnürte sie das große rotweiß karierte Tuch, in dem einige Trockenwürste, zwei dicke Brotlaibe und eine Kanne mit Kräutertee steckten.
„Was hast du während der ganzen Woche gemacht, Aja? Warum beginnst du erst jetzt mit der Vorbereitung?“
„Nun, wusste ich, ob du kommst? Und außerdem ist Sommer, da habe ich zu tun. Meine Nachbarn waren alle der Meinung, dass ich abwarten soll!“
„Ah, der Rat der Nachbarn hat also getagt? Oh, ihr lieben russischen Heiligen! Warum lasst ihr es zu, dass diese neunmalklugen Nachbarn euch ständig ins Handwerk pfuschen? Das ist ja hier noch immer wie vor fünfzig Jahren! Nun mach aber voran, Aja! Es wird Zeit für uns!“
„Du bist zu unruhig, Iljitsch! So wird nie was aus dir; lass dir Zeit! ‚Es kommt, wie es kommen soll!’, hat meine Mutter immer gesagt. Und sie hat recht; es hat immer noch gereicht.“
„Himmel! Schon wieder deine Mutter!“
Anschikaija ging hinüber zu Petrovitsch, der sie schon erwartet hatte. Er stand hinter dem Fenster und beobachtete die Szene vor Ajas Haus. Neben und hinter ihm drängelte sich die Familie.
„Nun? Geht es wirklich los, Anschikaija?“
„Ja, und du wirst, wie versprochen, mein Haus und meine Tiere hüten. Ich verlass mich lieber nicht auf die anderen. Du bekommst ein Ferkel zusätzlich – wie es abgemacht war. Und vergiss nicht, die Eier dem Pijotre zu geben.“
„Und du erzählst uns genau, wie alles war, da in diesem Deutschland. Versprochen?“, sagte Naidenka. „Wir passen alle auf, dass deinem Haus nichts passiert – auch die Kinder wissen Bescheid.“
Aja nickte und umarmte die ganze Familie; alle Erwachsenen hatten Tränen in den Augen.
Iljitsch hatte inzwischen das wenige Gepäck im Auto verstaut und atmete auf, als sie endlich wieder auftauchte.
„Nun komm schon!“ sagte er ungeduldig und hielt die Wagentür auf.
Aber Anschikaija stellte sich vor ihr kleines Haus und besah es von oben bis unten. Die wettergegerbten Wände waren grauweiß, von tausend Rissen durchzogen, die Farbe an den Fenstern blätterte ab, und die Dachschindeln wellten sich.
Das Haus sah verschlafen und müde aus; es tat ihr weh, ihr altes Haus alleine zu lassen. Sie seufzte und dachte an die Aufregungen, die ihr diese Reise bringen würde.
„Bin ich zurück, wenn meine Saranka wirft?“
„Was? Wann wirft sie denn?“
„Sieh sie dir an, dann weißt du es!“
Also gingen sie in den Stall, der hinter dem Haus angebaut war, lehnten sich auf die Holzbrüstung und begutachteten die schwere schwarze Sau, die im Stroh lag und sie mit den hellblauen Augen aufmerksam ansah.
Sie berieten sich, wogen ab, was ihre Erfahrung hergab, und schließlich einigten sie sich auf die Meinung von Iljitsch, der sich schon als Kind gut mit trächtigen Sauen ausgekannt hatte.
„Sie wird noch einige Zeit brauchen – sagen wir noch gut zwei Wochen; die Zitzen sind noch zu klein!“

*
Es war still im Abteil; die gleichmäßigen Fahrgeräusche machten Anschikaija schläfrig, und sie hätte gerne etwas geschlafen.
Wie kannst du ihnen verzeihen wollen – auch nur einem von ihnen?“
„Sie waren nicht alle böse. Ich weiß es.“
„Es waren viele, so viele, liebe Aja, die mitgemacht haben. Sie waren in der Überzahl – und das weiß ich! Ich habe es auf den Schulen in Moskau gehört.“
„Die meisten waren doch nur Zuschauer, Iljitsch!“, antwortete sie und sah ihn zärtlich an. Sie liebte ihren Cousin, wie sie alle Familienmitglieder liebte, die sie leider nur selten oder nie zu Gesicht bekam.
Voller Inbrunst betete sie an jedem Abend für die Dorfbewohner, Cousinen und Cousins; es gab ihr das Gefühl, Teil einer großen Gemeinschaft zu sein, in der auch sie eine Bedeutung hatte und Sorge tragen durfte für die anderen.
„Auch Zuschauer haben Schuld!“, knurrte Wladimir Iljitsch. „Wären sie nicht Zuschauer geblieben, Aja, dann wäre das alles nicht möglich gewesen! Willst du sie freisprechen, weil sie weggeschaut haben, weil sie feige waren? Verzeihst du denen auch?“
„Nein, nein, Iljitsch, die meine ich nicht! Die haben kein Gesicht für mich, ich kenne sie nicht. Ich weiß auch nichts über das alles, was du gelernt hast in Moskau. Ich spreche von den anderen, die ich selbst kennen gelernt habe, die mir das angetan haben, die meinen Körper gequält und meine Seele verdüstert haben.“
Sie dachte an die langen, einsamen Abende, wenn sie schlaflos im Bett lag. Dann holte sie die Vergangenheit wieder ein, dann stiegen die Gesichter aus der Dunkelheit des Vergessens hoch.
Wie aus einem Nebel tauchten sie auf, sahen sie an, reglos, mit toten, kalten Augen – oder auch spöttisch lachend. Mühsam versuchte sie mit ihren langsamen Gedanken zu verstehen, warum alles so gewesen war. Sie wollte verzeihen, um sich selber – und vielleicht auch ihnen – Ruhe zu geben.Ihr war elend zu Mute, und der krumme Rücken schmerzte vom langen Sitzen.
„Als wir 1941 hier gefahren sind, hatten wir es nicht so bequem, Iljitsch“, sagte sie.
Er schaute sie nachdenklich an. „Stimmt“, antwortete er. „Es war nicht vergleichbar.“
„Ich denke zum ersten Mal wieder daran; es war verschwunden in meinem Kopf. Warum es wohl wieder gekommen ist, das Erinnern, meine ich.“
„Das macht die Fahrt mit diesem Zug. Damals war es dunkel im Wagon, weißt du noch? Das einzige Licht fiel durch die Ritzen zwischen den Brettern und es war furchtbar eng. Es stank nach Urin und Kot; wir hatten Durst und Hunger.“
„Liebe Mutter Gottes!“
„Weißt du noch, meine kleine Aja, dass du auf mir gelegen hast, weil auf dem verdreckten Boden kein Platz war? Mein Gesicht war nass von deinen Tränen.“
„Ja, Iljitsch“, murmelte sie mit halb geschlossenen Augen. „Ich hatte doch nur dich! Unsere Mütter waren weg, vielleicht in einem anderen Zug, keinem war das wichtig; wir kannten niemanden in diesem schrecklichen Viehwagon. Wie lange waren wir unterwegs, Iljitsch?“
„Sechs Tage? Oder sieben? Wer weiß das schon, wenn er so reisen muss, wie wir es mussten. Da zählte nur der Halt, an dem sie uns die dreckigen Eimer mit Wasser gaben; drei Mal haben sie uns Wasser gegeben – nur drei Mal!“
„Ja, und du musstest um jeden Schluck Wasser kämpfen; du hast nicht viel getrunken, hast fast alles mir gegeben.“
„Du warst krank, verletzt, Aja! Erinnerst du dich an die anderen Frauen? Manche waren schlimm, besonders die jungen Frauen aus der Stadt; sie beschimpften uns, weil wir zu viel Platz brauchen würden, dann wieder, weil wir für dich Wasser haben wollten. Die hielten sich für was Besseres; jeder war sich damals wohl selbst der Nächste.“
„Ich weiß! Ich mochte nicht mehr denken; die Traurigkeit kam in Wellen, wollte mich ertränken. Ich war verzweifelt wegen meiner Mutter, die ich so vermisste. Ich war traurig, weil sie Ludmilla Kurunowa, unsere Lehrerin, erschossen hatten.“
„Ach ja! Ich hab sie nicht vergessen, unsere Ludmilla Kurunowa. Vielleicht, liebe Aja, ist ihr dadurch viel erspart geblieben.“
„Nein! Das darfst du nicht sagen, Iljitsch! Mutter meinte immer: ‚Tot ist tot! Nichts ist dann mehr mit Gänsebraten und leckerem Schinken; nichts mehr mit Baden im Fluss und mit saftigen Äpfeln! Wünsch dir so etwas nie!’ Das hat sie zum ersten Mal zu mir gesagt, als ich unglücklich verliebt war und sterben wollte.“
„Was? Du warst verliebt? Unglücklich verliebt? Das glaube ich nicht! In wen denn?“
„Ach, du wirst ihn nicht kennen. Lassen wir das, Iljitsch. Es wäre trotzdem gut gewesen, wenn sie weiter gelebt hätte, sie war so schön und so klug – fast so klug wie du, Iljitsch.“
„Warum mussten sie das tun? Sie hat doch keinem Menschen je etwas getan. Denk an die Musikstunden, Aja! Sie liebte die deutschen Komponisten und ihre Lieder.
‚Ein schönes und gutes Land, das solche Menschen hat’, sagte sie, wenn sie gerührt war von der schönen Musik. Sie wusste nicht, dass das Land nicht nur Komponisten und Dichter hatte, sondern auch Mörder, Aja.“
Anschikaija nickte und lehnte den Kopf ermattet an den Sitz. Sie schloss die Augen und ließ die Bilder strömen.
Schon vor Tagen hatten die Explosionen und die Schießereien angefangen. In der Morgendämmerung hatten sie aus den Wäldern trockene Gewehrschüsse und das Krachen explodierender Granaten gehört – vermischt mit den Schreien der Sterbenden.
Am Mittag walzten dann die Panzer, die mit den dröhnenden, dumpfen Motoren die Luft zittern ließen, die Pflanzen auf den Feldern platt. Auf der anderen Seite der Desna wurde geschossen und die Panzer machten halt. Es gab eine kurze, aber heftige Schießerei, dann fuhren sie weiter, überquerten den Fluss.
Die Brücke über die Desna zitterte und man musste befürchten, dass sie die schweren Lasten nicht aushalten konnte.
Dann kamen Geländewagen, Geschützlafetten und Motorräder über die Ebene gerast – dazwischen immer wieder große Gruppen von Soldaten, die hastig hinter den motorisierten Truppen herrannten, um in der Deckung der schweren Fahrzeuge zu bleiben.
Die Armee rollte nach Osten und Norden, aber sie fuhr auf beiden Seiten am Dorf vorbei. Es sah aus, als könnten sie die kleinen, unbedeutenden Häuser nicht sehen, als läge ein Zaubermantel über ihnen, der sie unsichtbar machte.
„Wir sind gar nicht da für die“, wunderten sich die Frauen und flüsterten dabei, um die fremden Soldaten nicht auf sich aufmerksam zu machen.
Es gab schon lange keine Männer mehr im Dorf; sie waren geflohen oder kämpften an der zurückweichenden Front; die deutschen Soldaten wussten das wohl, ließen deshalb das verschlafene Dorf mit den windschiefen Häusern in Ruhe.

Die Panzergruppe 2 des Generals Heinz Guderian hatte es eilig, als sie am 13. Juli am Dorf Gurka vorbei durch das tote Land pflügte; die schweren Panzer stießen von Süden her vor, wollten gleichzeitig mit der Panzergruppe 3 unter Hermann Hoth, die von Norden kam, vor Smolensk sein.
An den Desna-Übergängen gab es heftige Kämpfe, die man im Dorf Gurka während der ganzen Zeit hören konnte, aber es regte sie nicht besonders auf. Man war ja unsichtbar für die fremden Soldaten. Das Leben ging weiter, wie in den Tagen zuvor.
Bereits am 16. Juli erreichten die deutschen Truppen Smolensk und eroberten es nach hartem Kampf.
Es war der 16. Juli 1941, der dann doch noch den Schrecken und das Unglück ins Dorf Gurka brachte.
„Du brauchst keine Angst zu haben, mein Mädchen. Wir tun ihnen nichts – und sie werden uns in Ruhe lassen“, hatte Anschikaijas Mutter Olga am Morgen gesagt und war mit der Handkarre aufs Feld gezogen, um Schweinefutter zu holen.
Sie trug den alten bunten Kittel und ein rotes Kopftuch – und barfuß war sie, wie alle hier im Sommer. Dieses Bild, das Anschikaija aus so vielen Sommertagen kannte, vergaß sie nie mehr; sie sah ihre Mutter nie wieder.
In der Ferne waren die letzten braunen Staubfahnen der Front verschwunden; Gefechtslärm war nicht mehr zu hören; nur ab und zu war – sehr gedämpft – noch ein dumpfes Grollen zu vernehmen; der Westwind nahm die Kampfgeräusche mit nach Osten. Die Schlacht um Smolensk war noch nicht vorbei – sie würde noch bis zum 5. August andauern – aber hier, an der Desna schien jetzt Ruhe eingekehrt zu sein.
Aja hatte im nahen Wald trockenes Holz gesammelt und schleppte es mühsam zum Haus.
Iljitsch, ihr Cousin, der mit der Familie am Ende des Dorfes, dicht bei der alten Kirche, wohnte, trieb mit dem langen Stock die Schweine aus dem Stall.
Er winkte ihr aufgeregt zu und zeigte auf die grauen Lastwagen, die wie Ungeheuer hinter den Krüppelkiefern auftauchten.Es waren schwere und hohe Lastwagen. Sie umkreisten und umstellten das Dorf, kesselten es ein; zwei Fahrzeuge lösten sich aus dem Verbund, fuhren mit hohem Tempo in die Dorfstraße; von beiden Seiten des Dorfes kamen sie. Auf den Ladeflächen standen Soldaten mit Helmen und Gewehren auf den Rücken. Die Wagen blieben vor den ersten Häusern stehen.
In dieser Minute hatte Anschikaija gerade das Haus erreicht. Die Männer sprangen nach einem harten Kommando von den Wagen und liefen los; sie hatten grimmige, entschlossene Gesichter, die nichts Gutes verhießen. Es waren sehr junge deutsche Soldaten, die wie Sklavenhändler alles einfingen, was sich noch bewegen konnte.
„Oh Mutter Gottes! Rette uns!“ Sie sah fassungslos zu, wie sie alte Männer, Frauen und Mädchen aus den Häusern zogen und auf die Lastwagen stießen.
Aber erst, als Ludmilla Kurunowa aus dem Eingang der Schule stürzte, mit dem Gesicht in den Staub fiel, als sie die junge Lehrerin hochrissen und schließlich mit den Gewehrkolben vor sich herstießen, da wich Anschikaijas Starre, da überfiel sie Panik und sie schrie laut auf.
Es ging über ihren Verstand, diese schöne kluge Frau, die niemandem etwas getan hatte, die geliebte Lehrerin, die von allen im Dorf geachtet war, im Dreck liegen zu sehen.
Es war unfassbar für sie; es machte sie wütend und kopflos. Sie warf das Holz auf den Boden, wollte eingreifen, den Männer sagen, dass dies Ludmilla Kurunowa war, die Lehrerin, die man nicht stoßen und schlagen durfte. Aber es kam alles so schnell, viel schneller, als sie denken konnte. Anschikaija blieb wie angewurzelt stehen, als die Lehrerin losrannte.
Es waren nur wenige Meter von der Schule bis zum Fluss; sie war flink, eine gute Schwimmerin, war oft mit ihnen im Fluss geschwommen. Anschikaija begriff, dass sie sich ins Wasser stürzen und untertauchen wollte.
Die Soldaten blieben stehen, rissen gleichzeitig die Gewehre hoch, zielten ganz kurz und schossen. Die Schüsse knallten trocken, hart, verhallten sofort. Die Gewehre blieben angelegt, zielten auf den Rücken der Frau, die noch ein paar Schritte weiter lief, dann schwankend stehen blieb und langsam in die Knie brach. Als sie nach einer Ewigkeit nach vorne stürzte, lag ihr Kopf im Wasser.
Die Soldaten drehten sich weg, hängten die Gewehre auf die Schultern und wollten ins nächste Haus gehen. Plötzlich zeigte einer auf Anschikaija und sie änderten die Richtung, kamen auf sie zu.
„Lauf, Aja lauf!“ hörte sie von irgendwo her eine gellende Frauenstimme.
Sie lief, wie noch nie in ihrem Leben. Die kleinen, dünnen Beine wirbelten nur so durch die Luft; sie schlug Haken und versuchte den Waldrand zu erreichen. Dort kannte sie gute Verstecke. In ihrem Kopf war ein greller Laut, ein ständiger Aufschrei; sie wusste nicht, dass es ihr eigener Schrei war.
„Lasst das Kind in Ruhe! Barbaren!“, schrie eine Frau, als sie an den Wagen vorbei lief. Aber die Soldaten verstanden sie nicht; es wäre ihnen auch egal gewesen.
Einige Meter vor dem Waldrand war die Flucht zu Ende; ein Soldat packte sie, warf sich auf sie, schlug ihr mit der harten Faust ins Gesicht, an die Schläfen, immer wieder, bis sie das Bewusstsein verlor.
Dann warf er sie wie einen Kartoffelsack über die Schulter und trabte zum nächsten Wagen. Dort schleuderte er sie einfach auf die Ladefläche. – Sie war in der Woche zuvor zwölf Jahre alt geworden.
„Wirst dich bald nach einem jungen, kräftigen Mann umsehen“, hatte ihre Mutter gesagt und verschmitzt gelacht. „Bist ja schon fast eine Frau. Das liegt in der Familie, wir wurden alle immer sehr früh zu Frauen.“
Iljitsch, ihr Cousin, war ein halbes Jahr älter, und sie hatte in ihren Träumen immer nur ihn gesehen. Sie liebte sein helles, übermütiges Lachen; er konnte so herrlich pfeifen, und sie mochte es, wenn sie im Sommer nackt in der Desna schwammen und er sie unter Wasser drückte, bis sie bunte Bilder sah.
Ihn wollte sie heiraten, das hatte sie sich fest vorgenommen. Sie hatte es am Abend ihres letzten Geburtstages der Mutter gestanden, aber die hatte laut gelacht.
„Aja, dumme Aja! Vergiss es, mein Täubchen! Es geht nicht. Er ist der Sohn meines Bruders Narjan; du kannst ihn nicht heiraten. – Und er wird nicht im Dorf bleiben; er wird kein Bauer! Sie sagen, er hätte zwei Köpfe, so schlau sei er. Du bist zu dumm für ihn. – Vergiss es und träume was anderes!“
Sie hatte geweint und wollte sofort sterben; sie hatte es überlebt und sich später geschworen, nie zu heiraten.
Erst am Bahnhof, als man sie brutal vom Lastwagen zerrte, war sie wach geworden, war das Bewusstsein ganz langsam zurück gekommen und damit der Kopfschmerz, der wie ein Hammer in ihrem Schädel wütete.
Ihr war übel, und sie weinte vor Angst und Schmerzen. Sie trug keine Schuhe und ihr dünnes Sommerkleid war zerrissen; das hatte sie trotz der Dunkelheit in dem fensterlosen Wagon gemerkt.
Iljitsch, ihr Cousin, war auf dem Lastwagen gewesen, er war nicht verletzt, weil er nicht weggelaufen war. Er hatte während der ganzen Fahrt ihren Kopf gehalten und stützte sie auf dem Bahnhof; so kam er in den gleichen Wagon wie sie.

*
Anschikaija Pawlowska blieb sitzen, als der Zug in Düsseldorf hielt, verkrampfte die Hände um die Griffe der Tasche. Sie starrte auf die Menschen, die vor dem Abteilfenster hin und her liefen. Solche Bewegungen, solche hektischen Bewegungen, solche Hast – das konnte nur bedeuten, dass Gefahr drohte, dass etwas im Gange war, das sie nicht sehen konnte.
„Wladimir! Siehst du es? Was ist das? Oh, meine Mutter Gottes, steh uns bei! Wir hätten nicht weg gehen sollen!“
„Sei nicht albern, Anschikaija! Es sind viele Menschen hier; die haben es eilig und müssen den nächsten Zug erreichen! Die haben hier nicht den langsamen Gang wie in Gurka; sie machen Geschäfte, haben viel zu tun.“
„Darum rennen sie so hastig? Sonst ist nichts?“
„Sonst ist nichts! Und wenn du nicht aussteigst, fährt der Zug gleich ab und nimmt dich mit nach wer weiß wo hin! Komm, der Anschlusszug wartet schon!“
Zögernd folgte sie ihm, hielt sich ängstlich an seinem Ärmel fest. Auf dem Bahnsteig überfluteten sie der Lärm der Züge, die Durchsagen aus den Lautsprechern, die Rufe und das Lachen der Menschen. Es vermengte sich alles in ihrem Kopf, der an die Stille des weiten Landes gewöhnt war, zu einem einzigen Brausen.
Der Anschlusszug nach Köln stand bereits auf dem gegenüber liegenden Gleis, wie Iljitsch zuvor vom russisch sprechenden Zugbegleiter erfahren hatte. Sie stiegen sofort ein, fanden ein leeres Abteil und ließen sich in die weichen Polster fallen.
„Das ist aber ein schöner Zug!“, stellte Aja fest und strich immer wieder über die grünblauen Polster.„Hätten sie besser schon ab Smolensk fahren lassen sollen, diesen Zug! Bei dem kurzen Stückchen, das wir noch fahren, könnte ich ja sogar stehen!“, sagte Iljitsch und lächelte Aja an. „Wir sind gleich am Ziel! Dann kannst du dich ausruhen, altes Mütterchen.“
„Na, du alter Mann hast es nötig! Russische Frauen sind zäh! Die russischen Männer dagegen … Oh je!“, sagte sie.
Die Fahrt dauerte tatsächlich nur zwanzig Minuten. Aja wäre fast schon wieder eingeschlafen; das geräuschlose Rollen, die kühle, sanft rauschende Luft ließen sie einnicken.
„Auf, Aja! Auf! Wir sind da!“, rief Iljitsch und rüttelte sie.
„Russische Frauen sind zäh? Na ja!“ Iljitsch grinste und zog sie hoch. Der Bahnsteig war überfüllt mit hastenden, drängelnden Menschen. Der Lärm war noch schlimmer als in Düsseldorf, und die wild flatternden Tauben, die sich direkt vor die Füße setzten, erschreckten Aja.
„Hier, hier!“, rief Professor Wladimir Iljitsch Boronow auf Russisch.
Er stand wie ein Fels in der Brandung, mitten auf dem Bahnsteig, ließ die bepackten Menschen um sich herum rennen und schwenkte dabei heftig den dürren Arm. In der Hand flatterte ein Lappen aus Stoff mit unbestimmbarer Farbe, auf dem in großen grauen Buchstaben „OST“ aufgenäht war.
Er blieb trotz der murrenden Leute, die ihn mit Trollys und Koffern anstießen, stur stehen, winkte, rief und wartete.
Immer wieder drehten sich Leute um und betrachteten kopfschüttelnd die beiden Alten, die nicht nur durch die abgetragene Kleidung sondern auch durch ihr absonderliches Gebaren auffielen.
„Hallo, hier!“
Ein lang aufgeschossener junger Mann in blauen Jeans und bunt kariertem Hemd tauchte in der Menge auf. Die langen blonden Haare, als Pferdeschwanz gebunden, flatterten auf und ab, als er auf die Wartenden zulief.
Direkt hinter ihm lief eine junge, mollige Frau mit einem hübschen Gesicht, in dem die Sommersprossen um einen freien Platz kämpften.
„Hans Brosthaus, ich bin der Lehrer und Leiter des Projektes ‚Zwangsarbeit! – Entschädigung sofort!’ Herzlich willkommen in Köln!“, sagte er und bemühte sich, seinen Atem unter Kontrolle zu bekommen.
Die sommersprossige Frau übersetzte schnell und fließend. Sie stellte sich als Marita Schönen vor, die während dieser Tage ständig als Dolmetscherin verfügbar sein würde.
„Ich bin Lehrerin für Mathematik und unterrichte auch in der Klasse von Herrn Brosthaus. Wenn Sie irgendein Problem haben, dann sprechen Sie mich an.“
„Ich bin Professor Wladimir Iljitsch Boronow und das ist meine Cousine, Anschikaija Pawlowska.“
Er verbeugte sich leicht vor Brosthaus und reichte der Dolmetscherin die Hand.
„Warum können Sie so gut russisch sprechen?“
„Oh, danke schön!“, sagte Marita Schönen und errötete. „Ich komme aus Rostock, da bin ich geboren und aufgewachsen. Ich habe schon in der Schule gerne russisch gelernt. Später hat man mich zum Studium nach Leningrad – also nach St. Petersburg – delegiert. Ich mag Russland, die Menschen und die Geschichte.“
„Das ist schön! Ja, man kann unser Land lieben – nicht alles und sicher nicht jeden Menschen dort. Wir lieben unser Land trotzdem. Aber bestimmt hat jedes Land seine kleinen oder großen Schmutzflecken, für die man sich schämt.“
Er nahm den Arm der Dolmetscherin und hängte sich bei ihr ein. Anschikaija ging neben dem Projektleiter Brosthaus zur Rolltreppe; sie fühlte sich allein gelassen und bekam ein Ziehen in der Brust; trotzdem lächelte sie während der ganzen Zeit – aber ihr Lächeln wirkte unsicher, ängstlich.
Das Auto stand direkt hinter dem Bahnhof, unterhalb der Domplatte. Brosthaus legte die Taschen der beiden Russen in den Kofferraum und öffnete die Türen.
„Iljitsch, ist das ihre Kathedrale? Oh, bei allen Heiligen Russlands! Sie ist fast so großartig wie unsere Uspenski-Kathedrale und noch schöner als die Ioann–Bogoslaw–Kirche. – Es fehlt nur etwas – ja, das Gold fehlt. Aber sonst …“
„Sie nennen es ‚Dom’, Aja! Ich staune! Hast du denn je eine andere Kirche gesehen als eure zerfallene Dorfkirche? Du warst doch nie in Smolensk, seitdem es wieder so ansehnlich aufgebaut wurde!“
„Sicher, du hast Recht. Aber Ludmilla Kurunowa, unsere Lehrerin, hat uns doch damals die Bilder gezeigt. Es gäbe noch viel mehr solcher Kirchen in Russland, sagte sie. Sie hat die Bilder gesammelt – erinnere dich! Du hast sie auch gesehen, Iljitsch!“
„Ach, das ist lange her! Ich habe fast alles vergessen, was damals war.“
Marita Schönen fuhr absichtlich langsam über die gewundene Landstraße und wies immer wieder auf Sehenswürdigkeiten hin.
Die Fahrt dauerte etwa zwanzig Minuten, in denen fast nur die Dolmetscherin sprach. Einmal meldete sich Brosthaus und wollte wissen, wie lange die Zugfahrt gedauert hatte und ob sie bequem gereist seien.
„Sie können ja heute früh schlafen gehen; wir lassen Sie nach dem Abendessen – zu dem wir Sie beide herzlich einladen – ganz in Ruhe“, sagte er, als Professor Boronow ihm schilderte, dass sie seit weit über 30 Stunden unterwegs seien.

*
Im Hotelfoyer herrschte Hochbetrieb; Pagen schleppten Koffer, die Telefone klingelten, und die Gespräche der ankommenden und abreisenden Gäste vermengte sich zu einem dichten Geräuschteppich – die leise Hintergrundmusik wurde fast völlig verschluckt.
„Für vier Tage?“, fragte der nervös in den Unterlagen suchende Empfangschef, als sie endlich an der Reihe waren. Er reichte ihnen die beiden Schlüssel und wies auf den Fahrstuhl: „Page, bitte!“
„Wir haben Messe in Köln – die Herren–Mode–Woche –, dann sind wir immer voll ausgebucht. Tut mir leid, dass Sie warten müssen!“, entschuldigte er sich, als nicht sofort einer der grün gekleideten Pagen auftauchte.
Die dunkelblaue Uniform war mit goldenen Knöpfen und Achselklappen bestückt. Anschikaija beobachtete ihn, sah zu, wie er seine Mitarbeiter dirigierte, maskenhaft die Gäste anlächelte und sich immer wieder durch die glatten grauen Haare strich.
„Fast so eine schöne Uniform, wie die vom Zar Peter dem Großen auf dem Bild in Mutters Schublade!”, flüsterte Anschikaija dem Cousin zu, als der Hotelboy endlich aufkreuzte und dem Professor den kleinen Koffer aus der Hand nahm. Der Page griff auch nach Ajas Gepäck, aber sie riss die Tasche heftig an sich und hielt sie vor die Brust gepresst.
„Mann, oh Mann! Was sagst du dazu? Da haben sie aber die letzte Steinzeitfrau hinter dem Ural hervor gelockt, was?”, sagte Brosthaus und grinste Marita Schönen Beifall heischend an. Sie antwortete nicht, beobachtete irritiert die zornigen Augen des Professors, die Brosthaus verächtlich ansahen.Mit verkniffenem Gesicht führte der Professor seine Begleiterin die Treppe hoch in den zweiten Stock; sie hatte sich standhaft geweigert, den Aufzug zu nehmen.
„Hoffentlich geht das beim Bürgermeister gut! Die hat bestimmt noch nie Sekt getrunken.“
In ihrem Zimmer sank Anschikaija auf das breite Doppelbett, sprang aber entsetzt wieder hoch. Sie hatte sich matt und gedankenlos auf die weiche, glatt gestrichene Bettdecke gesetzt.
Sie betrachtete die dekorativ aufgebauten Oberbetten und Kissen, in deren Mitte ein glänzendes, rotes Pralinenherz prangte. Und dieses Kunstwerk hatte sie gedankenlos zerstört, hatte mit dem Hinterteil eine tiefe Kuhle hinterlassen, das Betttuch sah ziemlich zerdrückt aus.
Sorgfältig strich sie die schneeweißen, leicht duftenden Tücher wieder glatt, seufzte und setzte sich auf den Stuhl, der direkt vor dem Fenster stand. Da blieb sie sitzen, die Tasche auf dem Schoß, betrachtete das dunkelbraune, glänzende Mobiliar, bis es an der Tür klopfte und Iljitsch herein kam.
„Was machst du da, Aja? Träumst du? Zieh dich um, wasch dich, kämm dich! Sie warten auf uns; du weißt, dass wir zum Abendessen eingeladen sind! Es ist herrlich hier; schau doch nur mal raus – du musst dir das Leben da draußen ansehen!“, rief er und schob die schweren Vorhänge an die Seite.
„Da drüben ist eine alte Kirche – und die Häuser sehen alle aus, als wären sie aus dem Bilderbuch; sauber gestrichen sind sie. Fachwerkhäuser nennen die das hier – sagt diese Frau Schönen!“
„Ich will keine fremden Häuser sehen; ich will nichts sehen; ich will zurück! Ich will in mein Haus! Hier darf man nichts anfassen, viel zu kostbar alles; das ist nichts für mich! Wofür ist ein Bett, wenn man es nicht benutzen darf? Sie machen es wohl nicht so schön, damit ich es zerdrücke! Das ist nicht für Leute wie mich gedacht!“
„Für wen denn sonst, du Gans? Los, mach dich frisch!“
Mit missmutigem Gesicht schlich sie ins Bad, befühlte die blitzenden Armaturen, strich über den glatten Wannenrand und besah sich im goldumrandeten Spiegel. In ihrem Haus gab es keinen Spiegel.
„Wozu sollen wir einen Spiegel aufhängen?“, hatte ihre Mutter gesagt, als sie den ersten Spiegel bei der Mutter von Iljitsch gesehen hatte und auch einen haben wollte. „Spiegel machen blind! Nicht lange, und du schaust ständig hinein; du gehst in den Garten und betrachtest dich vorher; du gehst zur Nachbarin und willst vorher deine Haare sehen. Dann wirst du bald nur noch dich sehen; deine Familie, die Nachbarn und Freunde kennst du nicht mehr. Also, bleib, wie du bist und vergiss die Spiegel.“
Das klare, kalte Wasser erfrischte sie, und sie strich sich die Haare bedächtig aus dem Gesicht – ohne in den Spiegel zu sehen.
„Fertig!“, sagte sie zu Iljitsch, der nervös auf dem Stuhl wippte.
„Und das andere Kleid? – Shenski – Frauen“, sagte er und schüttelte seinen schmalen Kopf.
„Du musst ihnen zeigen, dass wir nicht dumm sind, dass wir nicht aus dem Urwald kommen. Wir sind Russen, lieben unser fortschrittliches und modernes Land. Wenn du ängstlich bist, dann glauben sie, du hättest noch nie eine Stadt, niemals ein Auto gesehen. Zeig ihnen, dass du eine stolze Frau bist, Aja!“
Arm in Arm gingen sie aus dem Zimmer und diesmal ließ sie sich widerstandslos in den Aufzug ziehen. Während der Fahrt hielt sie die Augen geschlossen und lauschte auf die leise Musik.
Die große Pause hatte gerade angefangen; auf dem Schulhof rannten lärmende Kinder, stießen und boxten sich. Jugendliche standen in Gruppen zusammen, beachteten die jüngeren Schüler nicht, hatten nur Augen und Ohren für ihre Gesprächspartner.
Hans Brosthaus führte die Gäste in Schlangenlinie durch die Schülergruppen, ignorierte die flapsigen Fragen einiger Jungen; selbst ihr Lachen nahm er offensichtlich nicht zur Kenntnis.
„Sind das die Russen, Brosthaus? He, Russki! Willste ´ne Mark?“, rief ein junger Mann, als Anschikaija an ihm vorbei ging. Sie lächelte ihn freundlich an und nickte ihm zu.
„Nicht übersetzen, hören Sie!“ Brosthaus schob sich energisch durch das Gedränge.
In der Aula standen ein großer Tisch und fünf Stühle auf dem Podium. Jeder Platz war mit einem Mikrofon bestückt. Das Licht in diesem schmucklosen Saal fiel durch raumhohe Fenster. Die Wände waren in surrealistischen Mustern weiß und grün gestrichen; es gab kein einziges Bild im Raum. Anschikaija fröstelte in dem dünnen Kleid.
„Wir warten auf den Leiter unserer Schule, Dr. Erwin Kullog. Er müsste gleich kommen; wir sind schon angemeldet, nicht wahr Frau Schönen?“
„Ja, es dauert nicht mehr lange – sagte die Sekretärin.“
„Sie stellen sich bitte nachher, wenn die Schülerinnen und Schüler Platz genommen haben, kurz vor und erzählen, was Sie in ihrer Heimat so machen. Dann werden die Schüler Fragen stellen. Frau Schönen wird alles übersetzen; lassen Sie sich bei den Antworten ruhig Zeit.“
Boronow nickte zustimmend und schlug vor, als erster zu berichten.
Anschikaija Pawlowska schaute wie gebannt auf den Mund der Dolmetscherin und spürte, wie sich zu der Unsicherheit auch eine wachsende Angst gesellte.
„Siehst aus, als solltest du hier wegen Diebstahl angeklagt werden, Aja. Mach ein anderes Gesicht! Es sind unsere Freunde; sie wollen uns helfen. Du wirst sehen, wir können gleich lachen! Denk daran, was ich dir gestern gesagt habe.“
„Ja, Iljitsch, ich gebe mir Mühe!“
Sie nahmen Platz und warteten. Von draußen hörte man den auf– und abschwellenden Lärm, den die Schüler verursachten; die Pause ging dem Ende zu. Die bedrückende Stille im Raum – nur vom nervösen Hüsteln des Lehrers Brosthaus unterbrochen – wurde dadurch noch deutlicher.
Anschikaija sah sich hilflos im kahlen Raum um, fand keine Ablenkung; sie wollte ihre Gedanken beschäftigen, sie aus der klammernden Angst befreien.
„Was mache ich hier? Es ist nicht so ein Spaß, wie der Petrovitsch gemeint hat. Er weiß nichts davon.“
Die unruhigen Hände von Hans Brosthaus, die nervös mit dem Schreibstift spielten, machten die Angst noch stärker. Sie verstand diesen jungen Mann nicht, fand keinen Zugang zu ihm, zu seinem Wesen. Mal war er liebenswürdig, zuvorkommend, dann wirkte er so überheblich, schweigsam, zurückhaltend.
„Du bist so – oder so“, hatte ihre Mutter ihr beigebracht. „Wechsle nicht dein Wesen, du bist keine Schmetterlingsraupe!“
Sie dachte an den gestrigen Abend. Sie hatten im Hotel gegessen und Mineralwasser getrunken. Während der ganzen Zeit hatte Brosthaus auf die Uhr gesehen. Sie hatte keine Uhr und verstand seine Unruhe nicht.
Die Vielfalt auf der Speisekarte hatte Iljitsch und sie verwirrt. Sie konnten nichts lesen, hatten die Übersetzung durch die Dolmetscherin, die mühsam nach den passenden Ausdrücken gesucht hatte, nur teilweise begriffen.Iljitsch hatte dann einfach auf die erste Position gezeigt und zwei Finger erhoben. Es gab Wiener Schnitzel mit Pommes frites; sie hatte nur das Fleisch gegessen und ein paar der eigentümlichen, langen und dünnen Kartoffeln probiert.
Es war voll gewesen in dem Restaurant, und sie hatte die Blicke der Menschen gespürt, die von den Nebentischen zu ihnen hin sahen.
„Mein Kleid! Sie sehen immer mein Kleid an. Sollen sie doch, es ist mein bestes Stück“, hatte sie trotzig gedacht und war doch so unsicher gewesen.
Brosthaus hatte sie während des ganzen Abends nicht einmal angesprochen. Iljitsch hatte er zunächst ein wenig ausgefragt und wissen wollen, wie Smolensk aussehe, ob es eine typisch russische Stadt sei, wie man dort lebe. Er hatte nichts von ihnen selber, von ihrem Leben und dem Alltag wissen wollen.
Iljitsch hatte geredet; sie war einfach zu müde gewesen, und Smolensk kannte sie nicht. Iljitsch war bestens informiert über Smolensk, streifte er doch den ganzen Tag durch die Stadt, besichtigte die historischen Gebäude.
„Wissen Sie, dass man Smolensk immer das ‚Tor Russlands’ genannt hat?“, hatte er gefragt und Marita Schönen hatte wissend gelächelt.
“Meine Stadt“, hatte Professor Boronow gesagt und sich sofort selber korrigiert. “Diese Stadt könnte man auch den ‚Hafen des Schwarzen Meeres’ nennen, denn die Schiffe, die vom Schwarzen Meer kommen und den Dnepr hoch fahren, bis nach Smolensk, die brachten der Stadt schon immer Reichtum. Unsere Altstadt ist schön, sehr gut restauriert und von einer prächtigen Stadtmauer umgeben. Wir Russen suchen gerne nach poetischen Namen und so sagen wir, sie sei ‚Die Schatzkette Russlands’ – was an den vielen Türmen liegt, die wie Perlen um die Stadt gereiht sind.“
Ihr waren immer wieder die Augen zugefallen; sie hörte die Stimmen wie durch einen dicken Nebel, wie er so oft über dem Ufer der Desna aufstieg. Schließlich bemerkte Iljitsch ihre nicht mehr zu unterdrückende Müdigkeit.
„Entschuldigen Sie uns bitte! Wir sind ziemlich erschöpft von der Reise. Dürfen wir uns verabschieden?“, hatte er gefragt, war aber, ohne eine Antwort abzuwarten, demonstrativ aufgestanden.
Auf dem Weg zum Zimmer war sie auf den gefühllos gewordenen Beinen mehr gewankt als gegangen. Sie hatte sich auch diesmal nicht gewehrt, als Iljitsch sie zum Fahrstuhl schleppte.
Den kunstvollen Bettenbau ignorierend, war sie angezogen aufs Bett gesunken und in tiefen traumlosen Schlaf gefallen

*
Die Tür der Aula wurde aufgerissen und ein kantiger Riese stürmte herein, als würde er verfolgt. In dem breiten, roten Gesicht leuchteten Hektikflecken, und die Stirn glänzte vom Schweiß.
Sein zu enger, dunkelblauer Anzug musste ihn an allen möglichen Stellen kneifen und zwicken. Das Jackett war weit geöffnet und auf dem hellblauen Hemd, dessen oberster Kragenknopf trotz der Krawatte offen stand, zeigten sich dunkelblaue Schweißflecken.
„Hallo! Und herzlich willkommen, liebe Freunde in unserer Friedens–Gesamtschule. Ich hoffe, Sie hatten eine gute Anreise?“
Er hatte mit dem Sprechen schon an der Tür begonnen und erreichte beim letzten Wort das Podium. Mit ausgestreckten Händen, strahlendem Lachen und glänzenden Augen, stürmte er auf Anschikaija zu, umfasste mit beiden Händen ihre Rechte, drückte und schüttelte sie heftig.
„Sie sind Anschikaija Pawlowska, nicht wahr? Wunderbar, dass Sie sich frei machen konnten, liebe Frau Pawlowska!“, rief er. Er hörte nicht auf, ihre Hand zu schütteln, lachte und schwitze.
„Entschuldigen Sie, liebe Frau Pawlowska, dass ich mich verspätet habe! Der Stress! Also, ich bin Dr. Erwin Kullog, Leiter dieser Gesamtschule!“, sagte er, drehte sich suchend um die Achse, fand Professor Boronow und strahlte ihn an.
„Und Sie – Sie müssen dann ja wohl der berühmte Professor Wladimir Iljitsch Boronow aus Moskau sein! Eine Ehre für unsere Stadt, für unsere Schule – und natürlich für mich! Herzlich willkommen, lieber Professor! Herzlich willkommen in unserer Schule!“, rief er und schüttelte noch länger als bei Anschikaija die zögernd ausgestreckte schmale Hand des Professors.
„Aus Smolensk!“
„Wie?“
„Nicht aus Moskau, aus Smolensk, sind wir angereist!“, sagte Professor Boronow und lächelte bitter.
„Ahh! Nun ja, das macht nichts, oder? Eine Stadt ist wie die andere. Hauptsache, Sie haben gut hergefunden.“
Er drehte sich zu Hans Brosthaus, der beobachtend im Hintergrund stand; er hatte Marita Schönen den Vortritt gelassen, die schnell und flüssig übersetzte.
„Nun, Hans – äh – Brosthaus? Ich kann davon ausgehen, dass Sie alles geregelt haben? Hotel, Presse und was sonst noch. Natürlich, wie immer, alles bestens geregelt, was?“
„Ja, Herr Dr. Kullog, es ist alles in Ordnung.“
„Wunderbar! Dann wollen wir loslegen. Holen Sie die Schüler rein, Frau Schönen, ich habe – leider, leider – nicht viel Zeit. Ich muss gleich zur Kreisschulleiterkonferenz. Aber die offizielle Begrüßung will ich mir doch nicht nehmen lassen.“
Die Schüler schlurften lässig durch die breite Tür und begannen ohne Eile, die Reihen von hinten zu füllen. In der Mitte des Raumes blieben alle Plätze frei.
Nur eine kleine Gruppe von Jungen und Mädchen ging sofort nach vorne, besetzte die ersten drei Reihen; es waren die Mitglieder der Projektgruppe, die alle einen gelb schwarzen Sticker auf der Brust trugen: „Projekt Zwangsarbeiter–Entschädigung sofort“; sie kamen geschlossen herein, blickten sich nicht zu den Mitschülern um.
„Ruhe, bitte!“, rief Brosthaus mit mahnender Stimme, als der Lärm in den hinteren Reihen nicht abnehmen wollte; seine Blicke spießten gezielt drei oder vier besonders laut lachende Jungen auf.
Als der Lärm etwas abschwoll, stellte sich Dr. Kullog vor den Tisch, federte auf den Zehenspitzen, fixierte die Schüler in der ersten Reihe.
„Ähm! Liebe Frau Anschikaija Pawlowska, sehr geehrter Herr Professor Boronow, ich begrüße Sie hier im Namen unserer Schule, des Lehrerkollegiums und der Schüler sehr herzlich. Wir wollen Ihnen hier einige angenehme Tage bereiten. Die gesamte Leitung dieser Aktion hat unser bewährter Kollege Hans Brosthaus, der mein vollstes Vertrauen besitzt. Da ich gleich weiter muss – dringende Termine lassen mir keine Wahl –, wird Herr Brosthaus alles Weitere mit Ihnen besprechen.“
Dr. Kullog machte die eingeplante Klatschpause, die aber nur sehr zögernd, fast ausschließlich von den Schülern in den ersten Reihen, genutzt wurde.„Ich darf an dieser Stelle anmerken, dass es zahlreiche Spenden gegeben hat, die Ihre Anreise, liebe Gäste aus Russland, erst ermöglicht haben. An erster Stelle nenne ich da die Gewerkschaften, unsere Volksbank, dann die hiesigen, im Rat vertretenen Parteien, den Stadtrat und – last, but not least – unsere Firma Briller, die sich als Nachfolger der damaligen Textilfirma sieht, die Sie, verehrter Herr Professor, ja leider kennen lernen mussten.“
Wieder wurde die Kunstpause sehr dürftig durch Klatschen überbrückt. Frau Schönen ließ bei der Übersetzung einfach den letzten Teil weg; sie hatte dabei keine Gewissensbisse.
„Ich mussen arrrbeiten in Lager von Faabrrick. Ich sonst nix kennen von Faabrrick. Man nicht durrfte gä–hen, wo man wollte hiin!“, sagte Boronow, der alles verstanden hatte.
Die Überraschung war perfekt. Marita Schönen lief puterrot an, Brosthaus rollte verzweifelt mit den Augen und Dr. Kullog blieb für einen Moment der Unterkiefer hängen. Doch dann hatte er sich wieder in der Gewalt.
„Oh, lieber Professor! Sie sprechen unsere Sprache? Das wird den Meinungsaustausch erleichtern, nicht wahr? Was Sie eben sagten, gehört ja ohnehin schon zu ihrem Erfahrungsbericht; den wir ja gleich hören werden.“
Und an die Schüler gewandt, fuhr er fort: “Nun, wie ihr wisst, haben wir uns diese Gäste eingeladen, damit sie uns zu unserem Projekt etwas erzählen, damit wir hautnah begreifen, wie berechtigt die Forderungen der ehemaligen Zwangsarbeiter sind.“
Er warf einen Aufmerksamkeit fordernden Blick auf die Schülerinnen und Schüler in den hinteren Reihen, die sich jedoch nur gelangweilt auf den Plätzen rekelten.
„Der Herr hier links“, er zog einen verknitterten Zettel aus der Rocktasche, „Professor Wladimir Iljitsch Boronow und rechts seine Cousine – Anschikaija Pawlowska – waren ja Zwangsarbeiter in unserer schönen Stadt. Beide wurden fast vier Jahre lang, während des 2. Weltkrieges, von 1941 bis 1945, – sie waren noch Kinder, etwa in eurem Alter – hier festgehalten und mussten als Zwangsarbeiter schwer arbeiten. Was sage ich da! Sie wurden vier Jahre lang ausgebeutet und gequält. Sie erhielten nie eine Entschädigung für ihr erlittenes Unrecht! Und darum geht es hier! Wir wollen an alle betroffenen Firmen appellieren, endlich das versprochene Geld auszuzahlen. Ihr seht, wie alt diese ehemaligen Zwangsarbeiter schon sind! – Äh! – Ich meine, man darf es nicht länger hinauszögern!“
Die Jungen und Mädchen, alle etwa dreizehn Jahre alt, saßen still, starrten die Fremden ohne sonderliches Interesse an.
Von den mehr als dreißig Jugendlichen waren nur wenige bereit gewesen, sich diesem Thema zu stellen und bei dem Projekt mitzuwirken. Besonders in den hinteren Reihen drückten die Gesichter Langeweile, offen zur Schau getragenes Desinteresse, ja sogar deutliche Ablehnung aus.
Man saß da, die Beine lang ausgestreckt, die Hände tief in den Taschen vergraben, und schob die Kaugummis von einer Backe in die andere.
Einige Mädchen spielten gelangweilt mit den Haaren, andere starrten sinnlos auf die Notizblöcke oder tuschelten mit den Nachbarn.
Dr. Kullog nutzte die völlig ohne Beifall verstreichende Pause, um den heftig rinnenden Schweiß abzuwischen und damit den Abgang vorzubereiten.
„Nun, meine lieben Gäste, muss ich mich leider verabschieden. Wir sehen uns ja heute Abend beim Bürgermeisterempfang wieder. Bis dahin – viel Vergnügen!“
Mit großen Schritten verließ er das Podium, nahm den kleinen Absatz mit Schwung und warf die Tür mit einem Knall hinter sich zu.
„Uff!“, sagte Frau Schönen leise und Brosthaus stand auf.
„Nun, ihr habt ja gehört, was der Schulleiter gesagt hat. Hört genau zu, merkt euch, was gesagt wird. Wir werden in der nächsten Woche eine Klassenarbeit zu diesem Thema schreiben“, sagte er.
„Ich weiß aus der Vorbereitung, dass einige unter euch nicht einverstanden sind mit diesem Projekt. Wir haben das ja ausführlich besprochen – und ich akzeptiere auch diese Sicht. Die Mitglieder der Projektgruppe haben sich gefunden, weil sie alle – wie ich – der Meinung sind, dass das, was unsere Industrie im Augenblick veranstaltet, nicht gut und keinesfalls anständig ist. Die anderen Klassenmitglieder bitte ich jetzt, aufmerksam zu lauschen. Vielleicht ändert der eine oder andere nach dieser Stunde noch seine Meinung.“
Er setzte sich und zeigte auf die Gäste, die aufmerksam auf die Übersetzung gelauscht hatten.
„Wir wollen nun aber endlich unsere Besucher aus Russland hören. Sie sind nicht hier, um von uns zu lernen, sondern wir wollen von ihnen etwas erfahren. Es beginnt Professor Wladimir Iljitsch Boronow. – Bitte!“
„Oh doch, Herre Brrosthaus! Ich lerrne gerrade – viel sogarr“, sagte Professor Boronow und lächelte leise.
Er redete, nachdem er sich mehrfach geräuspert hatte, routiniert, fließend, ließ Marita Schönen an genau der richtigen Stelle Zeit für eine Übersetzung.
Das hier kannte er, konnte auf jahrelange Erfahrung zurück blicken. In der Zeit am Moskauer Institut hatte er ständig referieren und diskutieren müssen; seine Gäste waren meistens hohe Funktionäre gewesen, bei denen nur ein selbstsicheres Auftreten genügend Schutz gab.
Von seinem Werdegang in der Armee als Offizier, der speziellen Ausbildung, der hohen Stellung in der Wissenschaft – von allem erzählte er ausführlich. Die Zeit seit der Pensionierung bedachte er mit einem kurzen Satz.
„Danach habe ich mich zur Ruhe gesetzt, bin nach Smolensk gezogen, in die Nähe meiner alten Heimat.“
„Nun, es geben Fraggen?“, sagte er auf Deutsch, mit weicher Stimme und einem starken, aber gefälligen Akzent.
Es gab keine, und alle Augen richteten sich auf Anschikaija. Die Stille war beachtlich, man konnte es hören, als in der zweiten Reihe ein Blatt gewendet wurde.
„Also, ich bin Anschikaija“, sagte sie leise und sah Marita Schönen an, die aufmunternd lächelte und übersetzte.
Wieder dauerte es, bis Anschikaija sich durchringen konnte.
Sie schloss die Augen, sah ihr Dorf, die Gänse, Hühner und Schweine. Was sollte sie den Kindern sagen? Lange dachte sie an die Kinder im Dorf, überlegte, woran sie Spaß hatten. Sie dachte lange nach und dann war ihr klar, dass sie etwas Hübsches aus ihrem schönen Dorf berichten musste.
„Meine Gänse sind in diesem Jahr besonders fett geworden. Ich weiß nicht warum. Es war so trocken im ganzen Sommer. Die älteste Sau, meine Saranka, wird bald werfen.“
Hier machte Anschikaija eine Pause; Marita Schönen übersetzte mit hoch rotem Kopf.Das brüllende Gelächter der Schüler dröhnte Anschikaija in den Ohren; die Jungen klatschten sich vor Begeisterung auf die Oberschenkel, während die Mädchen hochmütig grinsten.
„Eh, Udo! Wie heißt eure Sau eigentlich?“, schrie ein dicker Junge aus der letzten Reihe. Das ließ erneut alle laut losprusten.
„Ruhe!“, rief Brosthaus und stand auf. Anschikaija lächelte; sie verstand die Heiterkeit nicht, aber sie lachte auch gerne, und Menschen, die lachen, hatte ihre Mutter gesagt, die tun nichts Böses.
„Meine Nachbarn sind nette Leute. Sie helfen mir auf dem Feld; ich kann mich nicht mehr so gut bücken, seit damals. Sie haben mir mit einem Knüppel den Rücken“ – sie stand mühsam auf, zeigte mit der rechten Hand auf die Mitte des Rückens – „da, ungefähr da, die Rückenwirbel zerschlagen. Ich hatte gestohlen. Ja, sonst weiß ich nicht viel zu sagen.“
Einige Schüler lachten verlegen über die Bemühungen von Anschikaija, den kaputten Rücken zu zeigen. Aber es wurde still, als die Dolmetscherin, mit verzweifeltem Blick zur Decke, die Erzählung wiederholte.
„Habt Ihr auch ´ne Disko im Dorf?“, fragte eine brüchige Jungenstimme aus dem Hintergrund und löste ein befreites Lachen aus.
„Börger, das reicht! Das werden wir nicht übersetzen und du stellst heute keine Frage mehr, verstanden?“
„Jawohl, Herr Brosthaus“, kam es mit einem sehr süffisanten Unterton zurück.
„Wer hat Fragen zu der Erzählung von Frau Pawlowska?“ Brosthaus sah sich fragend und gleichzeitig drohend um
Zwei Arme streckten sich steil in die Luft. Ganz vorne in der ersten Reihe, aus der Projektgruppe, war es ein hübsches schwarzhaariges Mädchen und in der Mitte ein schlaksiger Junge mit einem verbogenen Lächeln, das Vertrauen wecken sollte.
„Sind Sie Kommunistin? Oder waren Sie es vorher?“, fragte das schwarzhaarige Mädchen und schaute sich beifallheischend um, stolz über die wichtige Frage, die sie auf dem Notizblock stehen hatte.
„Nein – ich weiß nicht. Kommunisten, nicht Kommunisten; wir hatten heiße Sommer ohne Regen, die waren schlecht, und warme Sommer mit Regen, die waren auch schlecht. Wir hatten Kommunisten, die waren schlechte Menschen, und wir hatten Kommunisten, die waren gut. Ich bin nichts; ich bin nur die Anschikaija, die ihr Haus ordentlich hält – und jeden Abend, für alle Menschen, die sie kennt, betet. Ich weiß nicht genau, was Kommunist ist. Ich weiß nichts über Politik.“
Jetzt entstand wieder Unruhe; Füße scharrten, Köpfe drehten sich zueinander, es murmelte, raunte, brabbelte quer durch die Reihen.
„Ruhe!“, rief Brosthaus erneut. „Ich bitte euch, benehmt euch gegenüber unseren weit gereisten Gästen anständig!“
„Ich war in den letzten Weihnachtsferien in Kapstadt, das ist doch wohl weiter weg!“, ertönte eine piepsige Stimme aus der letzten Reihe. Ein kleiner drahtiger Junge mit militärisch kurzem Haarschnitt schaute sich grinsend um, ließ sich von den begeisterten Kameraden auf die Schultern klopfen.
Wieder füllte dröhnendes Gelächter den Raum, ließ Brosthaus vor Wut rot werden. Anschikaija blickte verlegen, unsicher umher und Iljitschs Augen funkelten zornig.
„Ich mussen saggen, dass ich verstehe alles. Ich nicht gutt sprechen, abber gutt hörren! Danke!“, sagte Iljitsch messerscharf und sehr laut.
Er stand dabei auf, sah den Sprecher und die lachenden Schüler streng an; trotz der Kleinwüchsigkeit beherrschte er sofort die Lage; es wurde endlich still.
„Es reicht!“, rief Brosthaus noch einmal und stand ebenfalls auf. „Wuttke, du bist dran mit deiner Frage. Ich warne dich!“
„Anschikaija, so heißen Sie doch, oder? Sind Sie arm? Würden Sie sich selber als arm bezeichnen?“
Brosthaus spürte instinktiv die Vorbereitungen für einen Angriff. Er runzelte ärgerlich die Stirn, wusste aber keinen Ausweg; die Fragen schienen harmlos zu sein.
Auch Professor Boronow erkannte die Falle, ahnte die mögliche Attacke.
Die Dolmetscherin, Marita Schönen, musste lange überlegen, ob sie die Fragen so übersetzen sollte; ihr war sofort klar, dass es mehr werden würde – dafür kannte sie Wuttke zu gut.
„Ich arm? Warum soll ich arm sein? Ich habe sieben fette Gänse, einen Stall voller Hühner, acht Schweine, eine trächtige Saranka, die viele Ferkel werfen wird, ein gutes Stück Land, ein Haus und sehr liebe Nachbarn. Allerdings bekommt der Petrovitsch immer einige von den Ferkeln, weil ihm gehört der Eber Gogol.“
Marita Schönen übersetzte sichtlich gequält, brachte mit Anstrengung sogar den Eber Gogol des Petrovitsch heraus. Dann ging es wieder los, das Lachen nahm kein Ende. Man hätte meinen können, in einem Lustspiel zu sitzen.
Anschikaija begriff endlich, dass die Schüler sie verlachten, sie und die Tiere, sie und die geliebte Heimat. Trotzig raffte sie sich auf, dehnte den schmerzenden Rücken, um größer zu erscheinen.
„Ja, lacht nur; ich freue mich auch. Das ist meine Heimat und ich liebe sie. Ich liebe meine Tiere und meine Nachbarn. Ich habe doch sonst nichts! Die Arbeit ist so schwer; jeden Tag vom Hellwerden bis zur Dunkelheit muss ich arbeiten. Unser Land ist arm, unsere Böden sind schlecht. Aber ich klage nicht! Meine Nachbarn sind gut; wir mögen uns; es gibt keinen Streit. Sie helfen, ich helfe. Sie lachen, ich lache. Wir erzählen alle eine Geschichte und dann lachen wir. Ich bin gesund, alle meine Cousinen und Cousins sind gesund. Alle Leute aus meinem Dorf sind gesund. Deshalb sage ich: Ich bin reich, sehr reich!“ In ihrer Stimme mischten sich Stolz und Trotz.
Schon während der Übersetzung lachten einige in den hinteren Reihen, nur Wuttke lachte nicht. Er stand wieder auf, sah sich um, fragte die Kameraden still ab. Dann drehte er sich Anschikaija zu.
„Wenn Sie nicht arm sind, wenn Sie so viel haben, wie Sie selber sagen, warum kommen Sie dann zu uns, um Geld zu erbetteln? Ein eigenes Haus hat hier noch lange nicht jeder. So viele Tiere wie Sie hat mancher Bauer bei uns nicht. Sie sind reich, sagen Sie – also, was wollen Sie dann hier?“„Wuttke, jetzt reicht´s! Ich hätte es wissen müssen! Raus! Sofort raus! Kein Wort mehr – und du kommst nach der Pause ins Lehrerzimmer!“
„Das ist diese Gruppe um Wuttke! Die haben das abgesprochen und vorbereitet! Wirf sie alle raus – alle!“, sagte Marita Schönen zornig zu Brosthaus; sie übersetzte nicht, saß wie versteinert und ihr sommersprossiges Gesicht war grau.
„Vier Mann ziehen fast die ganze Klasse mit! Keiner ist dabei, der sich dagegen stellt!“, flüsterte Brosthaus resigniert zurück.
Professor Wladimir Boronow stand langsam auf, trat hinter Anschikaija und fasste ihren Arm.
„Komm Aja, es ist genug an Hohn und Spott. Du musst das nicht ertragen. Ich hatte Unrecht; der Krieg ist noch nicht vorbei. – Und ich hatte Recht; es ist noch in den Köpfen, sie haben es ihnen vererbt. Komm, wir müssen gehen.“
„Warum? Was ist denn? Die Kinder wollen von uns hören. Lass sie doch fragen; ich habe keine Angst vor den Fragen und dem Lachen. Ich habe nie etwas Böses getan, außer einmal stehlen, ich kann immer antworten. Lass sie lachen! Sie wissen nichts, nichts wissen sie. Ich werde es ihnen sagen.“
Genau das übersetzte Marita Schönen, wortgetreu und sehr betont. Professor Wladimir Boronow setzte sich, mit zweifelndem Blick den Projektleiter Brosthaus fixierend.
„Ich wollen nicht, dass man beleidigt diese Frrau. Sie sein werrtvoller als alle hierr zusammen! Diese hierr …“ Er betrachtete die Schüler einzeln und beendete den Satz nicht.
„Was sprichst du, Iljitsch?“
„Ich habe ihnen gesagt, dass wir nur noch wenig Zeit haben, sie sollen uns fragen.“
„Bevor wir weitermachen, verlassen alle Schüler diesen Raum, die nicht Mitglieder der Projektgruppe sind. Ihr geht in euren Klassenraum und schreibt eine Einschätzung – und Begründung – eures Verhaltens. Ich will die fertige Arbeit nach der Pause sehen“, rief Brosthaus in die wieder aufkommende Unruhe hinein.
Sie lachten, schubsten sich, machten launige Bemerkungen; zeigten nicht das geringste Schuldbewusstsein. Zurück blieben nur die Mitglieder der Projektgruppe – fünf Mädchen und vier Jungen. Keiner von ihnen hatte sich zu den Klassenkameraden umgesehen, niemand aus dieser Gruppe hatte mitgelacht.
Brosthaus wollte sich gerade wieder den Gästen zuwenden, als sich die Tür erneut öffnete und vier Männer eintraten.
„Die Presse! Mist!“, sagte er leise zu Marita Schönen.
„Aha! Die Presse gibt sich – etwas spät, meine Herren – die Ehre. Bitte nehmen Sie Platz“, rief er.