Es war still auf dem Bahnhofsvorplatz; in der lastenden Mittagshitze
hielten sich nur wenige Menschen im Freien auf. Zwischen den
Straßenbahngleisen trippelten Tauben, wiegten die Köpfe und pickten in
alles, was essbar aussah.
Ein paar Meter neben dem überdachten Wartehäuschen standen zwei junge
Leute, beide in hautengen blauen Jeans. Der Junge reckte in kurzen
Abständen den Kopf vor und versuchte das Mädchen zu küssen. Sie neckte
ihn, lachte, bog meistens rechtzeitig den Kopf zur Seite, ließ den Kuss
ins Leere gehen.
Eine krumme Alte stand nicht weit von dem Liebespaar entfernt,
umklammerte eine Einkaufstasche mit beiden Händen und stierte mit
aufgerissenen Augen zu dem Pärchen.
Nur ein Mann stand im Wartehäuschen, lehnte an der Glaswand und
beobachtete starr die Uhr über der Eingangstür. Als die Zeiger klackten
und auf zwei Uhr vorrückten, quälte sich die Linie 709, die zwischen
Neuss und Düsseldorf pendelt, aus der Theodor-Heuss-Straße. Langsam bog
sie zum Bahnhof ein, quietschte und schüttelte sich und blieb vor dem
Wartehäuschen stehen.
Als die Wartenden auf die Bahn zugingen, hob der Taubenschwarm ab,
klatschte metallisch hart mit den Flügeln, schwang sich über die
Bahnunterführung und schwenkte in Richtung Neuss-Furth.
Die Türen der Bahn öffneten sich und zwei Frauen mit Kopftüchern stiegen an der hinteren Tür aus.
Der Mann wartete, bis die Frauen die Schienen überquert hatten, ging
zur vorderen Tür und zog sich an der Haltestange hoch; alle anderen
stiegen an der hinteren Tür ein.
„Hey! Frank, schön dich zu sehen. Haste heute Spätdienst?”, rief der
Mann und schlug dem Fahrer auf die Schulter, was wohl ihre Vertrautheit
betonen sollte.
„Hallo! – Nee, Bob, hab die Bahn im Depot geklaut – du Quatschkopf!”
Der Mann grinste und setzte sich auf den vordersten Einzelsitz, schlug die Beine übereinander und sah sich in der Bahn um.
„Nich viel los heute, was Frank?“.
„Kein Wunder bei der Hitze. Würde auch lieber die Beine hoch legen. –
Haste Feierabend, Bob?”, fragte der Fahrer und beobachtete die
einsteigenden Passagiere im Spiegel.
„Nee, ich bin immer im Dienst, wollte nur mal sehen, wie du fährst. –
Wie war das Wochenende, Frank? Wie üblich – saufmäßig stressig?”
„Kann man wohl sagen. Der Samstag war einsame Spitze. Mann, das war
eine Nacht! Du kennst doch – ach Quatsch – du gehst ja in keine
Altstadtkneipe in Düsseldorf, bist ja ein Pantoffelheld mit Kino im
Wohnzimmer und Kneipe im Kühlschrank.“
„Jeder so, wie er sich wohl fühlt.“
„Na ja. Mann, das war vielleicht irre. Sonntagmorgen gegen vier bin ich
in irgendein Bett gefallen. Übernachtung mit Massage und Frühstück,
sagte die Kleine, als sie mich einlud. Weiß bloß nicht mehr, wie sie
hieß – war jedenfalls super.”
„Wie du das aushältst. Bin froh, wenn ich meine Ruhe hab und mich mit
meinen Kindern beschäftigen kann. Möchte kein Junggeselle mehr sein.”
„Ist auch nur was für Spezialisten.”
„Fahr los, du Spezialist. Du vertrödelst dich.”
Mit einem Seufzer griff der Fahrer zum Mikrofon: „Nächster Halt – Kapitelstraße.”
Die Bahn glitt jetzt, fast geräuschlos, über die Schienen, tauchte ein in den Schatten der Häuser an der Krefelder Straße.
Die Kinder sahen klein aus, dürr fast. Sie drehten sich spielerisch um
die Stange mit dem Schild der Straßenbahngesellschaft. Ihre Gesichter
sahen blass und ernst aus. Das Mädchen schwenkte eine grüne Papiertüte,
in der wohl Blumen eingewickelt waren.
Als die Bahn sich näherte, stoppten sie ihr Spiel und schauten starr auf das Schild mit dem Fahrziel und der Liniennummer.
Der Junge sagte etwas zu dem Mädchen und sie nickte. Frank bremste den
Wagen so ab, dass die Kinder an der Fahrertür einsteigen konnten.
„Bei diesem kleinen Kroppzeug musste sehen, dass die vorne einsteigen,
sonst siehst du nicht ob die entwerten – die fahren gerne schwarz.”
Bob kraulte seine krausen Haare und beobachtete die Kinder. „Hab ich noch nie Probleme mit gehabt.”
„Ich sag’s ja nur. Hab genug Erfahrung mit den kleinen Gangstern.”
Der Junge zog sich hoch, blickte den Fahrer kurz an und reichte dem Mädchen die Hand.
„Hallo – Papa!”
„Was? Oh! – Hallo, Thorsten – äh – und du – du bist Maike? Was macht ihr denn hier?”
Der Pferdeschwanz des Mädchens, der von einer Biene-Maja-Spange
gehalten wurde, schlug regelrecht aus, als sie über die Schwelle
stolperte; ihr Blumenstrauß schlug auf den Boden. Sie rappelte sich
auf, ergriff die Blumen und hatte dabei nur Augen für den Fahrer,
fragte ihn maßlos verwundert ab.
„Mist!“, sagte sie schließlich und presste den Blumenstrauß vor die Brust; der Junge zog sie ungeduldig vorwärts.
„Beeilt euch, kommt rein”, rief Frank.
Das Abfahrsignal ertönte und dicht hinter Thorsten schloss sich die Tür mit einem satten Plopp.
„Bist du verrückt?”, fragte Bob, schüttelte den Kopf, als die Bahn
ruckelte und dann plötzlich vorschoss. „Kannste nicht warten?”
„Klappe, Asylant! Ich fahr hier, nicht du.”
Der Junge hielt sich krampfhaft an der Haltestange fest, während das Mädchen sich mühsam in den Sitz hinter dem Fahrer schob.
„Hallo, Papa, wieso fährst du hier Straßenbahn? Du warst doch in Düsseldorf bei der Bahn.”
„Bin ich immer noch, Thorsten. Die haben alles umorganisiert. Jetzt
fahr ich eben hier zwischen Düsseldorf und Neuss – siehst du doch. Was
macht ihr überhaupt hier – du und … Maike?
“Wir …“
„Nächster Halt – Niedertor”, rief der Fahrer und beugte sich vor zum Mikro.
„Du hast uns nicht erkannt, Papa, oder?”
„Doch, doch! – Wenigstens … Dich jedenfalls sofort. Mann, gut seht ihr
aus. Hab euch ja lange nicht gesehen. Bei Maike hatte ich allerdings
ein paar Probleme; sie ist so groß geworden.“
„Ist ja auch schon lange her, dass du …“
„Wo wollt ihr hin? Und ganz alleine?”
„Oma wohnt doch hier in Neuss.“
„Ach, stimmt ja. Ich dachte schon, ihr fahrt meinetwegen mit. Ha, ha!
Das war ein Scherz. Na, das ist ja eine Überraschung. – Lässt die Oma
euch wirklich alleine fahren?“
„Ich bin doch schon fast erwachsen – sagt Oma jedenfalls. Ich fahr hier
jeden Tag mit der Bahn zur Schule in Bilk; bin im sechsten Schuljahr –
aber jetzt sind ja Ferien.”
„Warum? Ich meine, warum fährst du von Neuss …“
„Warte! Muss eben …“, sagte Thorsten, steckte die Fahrausweise in den
Entwerter, warf einen Blick auf die wenigen Fahrgäste, die matt und
schläfrig auf ihren Plätzen hockten, und setzte sich neben Maike.
Das Mädchen starrte den Rücken des Fahrers an; ihre Stirn lag in
Falten, was den Eindruck erweckte, dass sie mit erheblichen Zweifeln
kämpfte. Ihre kleinen Finger rissen Fetzen aus dem Blumenpapier und
rubbelten Kugeln daraus, die sie achtlos fallen ließ.
„Bist du sicher, dass das unser Papa ist?”, flüsterte sie mit
ängstlichem Blick auf den uniformierten Rücken.„Ja klar! Du kannst dich
bloß nicht an den erinnern.”
Er zeigte mit dem Kopf auf die Blumen. „Leg die besser auf den Boden. Mach!”, flüsterte er. „Zerquetschst die sonst noch.”
Maike bückte sich, schob den Strauß neben Thorstens Füße unter die Bank und lehnte sich zurück. „Ich weiß nicht …”
„Ich werd´s doch wohl wissen.“
„Nächster Halt – Niederstraße.”
„Papa, weißt …“
„Moment, Junge – gleich!”
„Papa!”
„Ja, – was ist denn, Thorsten?”
„Weißt du, was heute ist?”
„Nee. – Was meinste damit? Montag?”
„Nein – ja, doch. Heute bist du zwei Jahre weg – hat Oma gesagt.”
„So? Was die alles weiß. Hat die Alte noch was gesagt?”
„Dreckskerl!”
„Wie – was war das?”
„Oma hat gesagt, heute vor zwei Jahren hat sich der Dreckskerl aus dem Staub gemacht.”
„Eure Oma dürft ihr nicht ernst nehmen, die redet nur Stuss.”
„Oma redet nie Stuss!”, rief Maike, stierte wütend auf den Rücken des Fahrers und streckte blitzschnell die Zunge raus.
„He! Wusste gar nicht, dass du Familie hast, Frank. Mensch! Zwei so
nette Kinder und du versteckst die einfach vor allen Leuten? Und ‘ne
Schwiegermutter gibt’s auch? Toll!”, sagte Bob und lächelte Maike an.
„Halt die Klappe, Bob. Geht dich nix an.”
Bob grinste und beugte sich zu den Kindern rüber. „Wisst ihr, dass ich
der einzige Mensch in diesem schönen Städtchen bin, der schwarz fahren
darf?”
„Nein!”, staunte Maike. „Müssen Sie nie bezahlen?”
„Nein, nie.“
„Warum nicht?“
„Ha, ha! Bist reingefallen. Sieh mal mein Gesicht an. Was siehst du da?”
„Nichts”, sagte Maike und betrachtete das große Gesicht, die knollige
Nase, die runden Augen und die vollen Lippen. „Überhaupt nichts – außer
…”
„Na? Was ‚außer?“
„Außer, dass Ihre Hände innen rosa sind.“
„Mädchen sind eben doof!”, sagte Thorsten. „Mensch, der meint doch, weil er schwarz ist. Total schwarz.”
„Recht hat er. Deshalb fahr ich schwarz. Kapiert, Maike? War ein Witz!
Außerdem bin ich aber auch Straßenbahnfahrer und darf sowieso umsonst
fahren.”
„Witzbold, lass die Kinder in Ruhe, Bob.”
„Halt dich raus, Frank. Du darfst während der Fahrt nicht reden, klar?”
„Sie fahren auch eine Straßenbahn? Oder kontrollieren Sie unseren Papa?”
„Der und mich kontrollieren, Thorsten? Der Kameltreiber hat bei mir das
Fahren gelernt, dieser Asylant aus dem hintersten Afrika.”
„Dürfen Neger überhaupt Straßenbahnen fahren?”, fragte Thorsten mit ernstem Gesicht.
„He, junger Mann! Schwarzer heißt das, verstanden? Kannst aber ruhig du
sagen. Eigentlich heiße ich Negasso, aber hier sagen einfach alle Bob
zu mir. – Ich bin also der Bob.”
„Okay! Darfst du?”
„Natürlich! Warum denn nicht? Bin ein Anerkannter, hab eine deutsche
Frau geheiratet und wir haben zwei niedliche Mädchen – Zwillinge.”
„Sind die auch schwarz?”
„Nein, Maike. Pass mal auf! Wenn du in ein Glas heiße Milch ein großes
Stück Schokolade rein tust und kräftig umrührst, was passiert dann?”
„Kakao wird das”, rief Thorsten.
„Mann, der sagt immer vor. Oma schimpft ihn deshalb auch ständig aus. Super-Blödmann!”
„Thorsten, Thorsten! Aber er hat Recht, Maike. Hellbrauner, leckerer
Kakao. Und so sehen meine Mädchen auch aus; hellbraun und süß wie
Kakao”, sagte Bob, rollte die Augen und lachte.
„Bist du wirklich aus Afrika?”, fragte Maike, und Thorsten blickte gequält an die Wagendecke. „Blöde Frage!”, murmelte er.
„Na klar! Aus Äthiopien. Hab früher Kamele über das Hochland geführt.
War nicht viel anders als heute. Jetzt führe ich eben eine Straßenbahn
– vollgestopft mit Kamelen. Ist etwas bequemer als barfuß durch den
heißen Sand zu laufen.”
Als er lachte, sah man seine großen, weißen Zähne und Thorsten sah aus, als dächte er an Krokodile.
„Erzähl den Kindern keinen Quatsch, Bob.”
„Willst du wieder zurück nach – wie hieß das?”, fragte Thorsten.
„Äthiopien? Nein, nie mehr. Vom Kameltreiber zum Straßenbahnfahrer und
dann wieder diese stinkigen, beißenden Ungeheuer? Nee, nicht mit mir.”
„Nächster Halt – Rathaus.”
„Ich begreif das nicht, Frank”, sagte Bob, als sich die Bahn wieder in
Bewegung setzte. „Du hast Kinder, hab ich gerade gelernt. Was, zum
Teufel, sagt deine Frau dazu, dass du dich jede Nacht in einem anderen
Bett wälzt?”
„Nicht hier, du Kameltreiber. Halt die Klappe.“
„Wieso? Mann, gehst du etwa heimlich? Betrügst du sie?“
„Quatsch! Nichts sagt die dazu. Das hat sich vor zwei Jahren erledigt.
Haste doch gehört. Heute ist Jubiläumstag der Befreiung aus dem
Eheknast. Muss nachher noch einen drauf trinken gehen; das gehört
gefeiert.”
„Oma hat gesagt, der Papa hat sich damals verlaufen. Oma sagt, er ist
mit einer Frau eine fremde Straße lang gegangen und nicht mehr zurück
gekommen”, sagte Maike mit ernsthaftem Gesicht zu Bob.
„Was?”
„Oh Mann! Die versteht immer Bahnhof“, stöhnte Thorsten. „Maike meint,
Papa wär fremdgegangen. So heißt das doch, oder? Oma sagt das immer
dazu. Deshalb hat Mama ihn verlassen; ich weiß, was das ist. Bloß die
da nicht, die ist noch ein Baby. Ich hab’s genau mitgekriegt, wie Mama
gesagt hat, dass sie von dem keinen Pfennig haben will. Er soll
hingehen, wo der Pfeffer wächst.”
„Wächst in Äthiopien Pfeffer? War Papa auch bei den Kamelen?”, fragte Maike.
„Ihr werdet da hinten jetzt gefälligst eure Klappe halten, ja? Maike! Thorsten! Jetzt ist Schluss! Verstanden?”
„Freut mich, dass du so über alles sprechen kannst, Thorsten. Meine
Mädchen bekommen bei Fremden den Mund nicht auf”, sagte Bob betont
leise.
„Ja?”, fragte Thorsten nachdenklich. „Warum? Man soll doch alles sagen,
was man da drin hat – sagt Mama immer.” Er zeigte mit seiner Hand
dahin, wo er sein Herz vermutete und sein Blick drückte Verwunderung
aus.
„Wird dir noch viel Kummer machen – und manche Beratung beim Psychiater
ersparen”, flüsterte Bob und warf einen besorgten Blick auf den
Hinterkopf des Fahrers, der sich nur mit Mühe auf den Schienenweg
konzentrierte.
„Hört das noch immer nicht auf? Was tuschelt ihr da?“, sagte er und blickte streng in den Spiegel.
„Wir wollen dich nicht stören; fahr ruhig weiter.“ Bob zwinkerte Maike mit beiden Augen zu und sie lachte hell auf.
„Ende der Klatschrunde! Verstanden, Thorsten?”, sagte Frank und warf einen Blick über die Schulter.
„Ja, verstanden schon. Aber warum?”, fragte Thorsten. „Mama hat nämlich
gesagt, du sollst es bloß wagen, dich noch einmal in unser Leben
einzumischen.”„Scheißweib! Es reicht! Ich schmeiß euch gleich alle
raus.”
„Also, Frank! Soll ich dich aufklären, was du darfst? Du kannst hier
keinen rausschmeißen. Das sind ja tolle Sachen, die ich höre. Hast du
deine Kinder etwa seit damals nicht mehr gesehen? Bist du nie mehr zu
Hause gewesen?”
„Klappe! – Nächster Halt – Am Büchel.”
Ein älteres Ehepaar stieg ein, betrachtete lange jeden freien Platz, bevor es sich setzte.
„Entwerten!”, rief Frank und der Mann wurde rot. „Entschuldigung! Hab’s vergessen!”
„Ja, ja; sagen sie alle. – Okay, sie hat einen einmaligen Fehltritt von
mir als Anlass genommen, um mich rauszuschmeißen. Hat’s wohl nicht
abwarten können, mich los zu werden.”
„Einmaliger Fehltritt – he? Und du bist abgehauen und hast sie nie mehr besucht?”
„War schon mal wieder an der Wohnung, das schon, aber da war sie
bereits weg. Ist umgehend zu ihrer Mutter gezogen; verstanden sich ja
so toll. Da würde ich nie hingehen; nie! Konnten sich endlich so
richtig über den bösen, bösen Frank auskotzen – von morgens bis abends.
Die haben ständig was an mir auszusetzen gehabt, die Weiber. Mann, Bob,
ich sag’s dir. Weiber! Vergiss es!”
„Das stimmt nicht! Mama hat gesagt, sie hätte nicht genug Geld für die
große Wohnung, deshalb mussten wir ausziehen. Und außerdem musste sie
arbeiten gehen. Da sind wir zur Oma gezogen. Ist aber schön bei Oma;
doof ist bloß, dass ich mit der da in einem Zimmer schlafen muss. Um
acht will die schon immer das Licht ausmachen; wenn ich lesen will,
dann macht sie Ärger.”
„Und du machst immer Krach, wenn ich müde bin.”
„Tragt euren Streit bei der Mama aus, nicht hier in der Straßenbahn.
Und jetzt ist wirklich Schluss mit der Familienquatscherei. Bob, du
hältst dich hier raus. Ist das klar?”
„Okay! Okay! Frag mich nur, wie du das aushältst. Zwei so niedliche
Kinder und dann haust du einfach ab. Mann, oh Mann. Du bist ein Typ!
Also, ich finde, nichts ist schöner, als mit der Familie die Freizeit
zu verbringen. Kein Stress mit Barmädchen oder anderen Tussis. Mann, du
musst bekloppt sein. Und wie viel Geld dich das kostet!”
„Thomas und Maike? Geht ihr mal weiter nach hinten? So ungefähr bei der
Tür könnt ihr euch setzen. Los! Platz ist genug. Ich muss mit Onkel Bob
was besprechen – etwas unter Männern.“
Maike maulte, Thomas verzog das Gesicht, aber sie standen auf, dachten
sogar an die Blumen und setzten sich weit weg, dicht bei der hinteren
Tür.
„Na, nun kannst du es ja sagen. Die Luft ist rein. Warum machst du den Scheiß? Das kostet dich nicht nur Geld.“
„Halt dich geschlossen, ja? Du hast eh keine Ahnung. Die hier kosten
mich auch ‘ne Stange Geld. Jeden Ersten geht per Dauerauftrag rund ein
Drittel vom Gehalt auf ihr Konto; damit die Kinder was Ordentliches
anzuziehen haben, hat sie gesagt. Aber ich will von dir nichts, sagt
sie; weiß ich, was die mit dem Geld macht.”
„Weißt du, was zwei Kinder in dem Alter kosten? He, das rauscht nur so raus, und du fragst dich, wie das möglich ist.”
„Bin’s ja selber Schuld. Ich hab’s eben nicht mehr ausgehalten mit
denen. Bin jetzt gerade fünfunddreißig geworden. Als der Junge kam,
okay, da war noch alles klar, da war ich gerade zweiundzwanzig. Den
wollten wir ja beide. Mann hatte ich Pläne! Dann, drei Jahre später,
kam diese Göre und dann ging’s los.”
„War das eine … also eine unbefleckte Empfängnis? Ich meine, ist die
vom Himmel gefallen, oder haste daran mitgewirkt? Du weißt schon …”
„Bin ich für die Verhütung zuständig? Hab vorher klar gesagt, ‚Kein
Kind mehr! Nicht mit mir, ist das klar?’, hab ich gesagt. Und prompt
ging die Scheiße los. Ständig war was; immer gab’s Gequengel und
Schimpfereien. ‚Musst du schon wieder in die Kneipe? Habt ihr schon
wieder Skatabend? Warum können wir nicht am Wochenende gemeinsam ins
Grüne fahren? Hast du noch Geld für dies und das? Denkst du nie an
deine Familie?’ Und ständig brüllte die Göre. Mann, das war Stress pur!”
„Du armer Kerl! Mann, was hat’s deine Frau doch gut gehabt, was?”
„Wie meinste das? – Nächster Halt – Stresemann Allee!”
„Nur so.”
„Oma sagt immer, der Kerl wär’s nicht wert, so eine prima Familie zu haben. Der würde noch im Knast landen”, erklärte Thorsten.
„Was fällt euch ein? Ihr sollt da hinten sitzen, habe ich gesagt,
verdammt!“, schrie Frank und bremste so abrupt, dass eine ältere Dame
in der vorletzten Reihe einen spitzen Schrei ausstieß.
„Und ich bin keine Göre!”, empörte sich Maike. – „Was ist Knast, Thorsten?”
„Ich halt´s nicht mehr aus! Entweder setzt du dich woanders hin, Bob,
meinetwegen mit dieser Lausebande, oder ich schmeiß dich wegen Störung
des Betriebes raus.”
„Bin ja schon ruhig. – Aber das muss ich noch sagen: Dein Verhalten
stinkt stärker als die Fürze der Kamele, wenn sie mit Blähungen im
heißen Sand liegen. – Und die stinken wirklich ungeheuerlich! Das muss
ich dir sagen. Dachte immer, du wärst ein richtig guter Kumpel. Wenn
ich das meiner Frau erzähle, die glaubt´s nicht.”
„Ist mir egal, wem du was erzählst, aber halt endlich deine Klappe.”
„Das sagt meine Frau auch manchmal – und hat keinen Erfolg. Meine
Klappe kriegst du nicht geschlossen. Besonders nicht, wenn’s was zu
sagen gibt, was wichtig ist.“
„Nächster Halt – Südfriedhof.”
„Da müssen wir raus, Maike. Wir sind gleich da. Nimm die Blumen.”
„Nimm du doch!”
„Bist du blöd? Jungen tragen keine Blumen.”
„He! Wen besucht ihr denn auf dem Friedhof?”, fragte Bob leise und schielte zum Fahrer, der angestrengt in den Spiegel schaute.
„Mama”, flüsterte Maike und hob die Blumen hoch.
„Ah! Arbeitet die da? Im Laden? Da vorne im Kiosk?”
„Nein. Mama ist doch tot; sie ist heute vor einem Monat gestorben.
Darum wollen wir ihr doch die Blumen bringen und ein bisschen erzählen.
Alles, was so war: in der Schule, mit Oma, dass wir brav waren und dass
Maike ihr ein schönes Gedicht abgeschrieben hat. Das lesen wir ihr vor.
– Ach ja, und dass wir Papa heute gesehen haben, das auch”, sagte
Thorsten und stand auf.
„Weiß euer Vater das denn nicht?” Bobs Stimme war so leise, dass Thorsten sie gerade noch verstehen konnte.
„Nein, glaub ich nicht”, sagte Thorsten und schielte zum Fahrer. „Mama
wollte nicht, dass er was erfährt, als sie krank war. Und als sie
gestorben ist, hat Oma gesagt, der soll bleiben, wo der Pfeffer wächst;
nachher will der euch noch haben – wegen dem Kindergeld. Der versäuft
und verhurt das bloß, sagt Oma.”„Mann, du redest ja schon wie ein
Großer.”
„Bin seit Mamas Tod auch für alles zuständig”, sagte Thorsten laut, mit Stolz in der Stimme.
Er sprach tatsächlich so laut, dass man ihn noch auf der letzten Bank im Wagen hören konnte.
Mit einem grellen Kreischen schliffen die Räder über die Schienen. Es
war eine Vollbremsung, wie sie sonst nur bei höchster Gefahr vorkam.
Thorsten schoss nach vorne, fiel auf den Rücken seines Vaters; die alte
Frau schrie schon wieder, eine Coladose rollte den Gang entlang,
polterte an der Tür die Stufen herunter.
„Ich melde Sie!“, schrie die Frau und ein Mann fluchte.
„Scheiße!”, schrie Frank. „Scheiße!”
Als er sich umdrehte, sah man seine geprellte Nase; das Blut tropfte
auf das Uniformhemd. Thorsten rieb sich die Stirn, er war mit dem Kopf
auf den Rücken seines Vaters geprallt, hatte ihn auf das Armaturenbrett
gestoßen.
„Entschuldigung“, sagte Thorsten und rubbelte seine Stirn.
„Was – was habt ihr gerade gesagt?” Frank stierte Thorsten an, der erschrocken in den Sitz zurück fiel.
„Habt ihr euch weh getan?”, fragte Bob besorgt.
„Nein, nein, nur erschrocken”, flüsterte Thorsten, rieb sich weiter die Stirn und sah seinen Vater ängstlich an.
„He! Frank! Wusste nicht, dass deine Frau gestorben ist. Äh –
eigentlich wusste ich ja nicht mal, dass du eine hattest. Wo du doch
immer in den Kneipen rum hängst, da dachte ich, Mann, dachte ich, der
ist Junggeselle, auf den wartet keine. Dachte ich immer.”
„Halt deine verfluchte Klappe!”, schrie Frank und hämmerte auf das Armaturenbrett.
„Können wir hier aussteigen?”, fragte Thorsten.
„Tina ist tot?”, fragte Frank und sah jetzt ziemlich verwirrt aus.
„Wer ist Tina?”, fragte Maike.
„Papa meint unsere Mama.”
„Warum sagte er das nicht?”
„Weil er sie so nennt, darum. Oma sagt doch auch Martina zu ihr.”
„Das darf nur die Oma, sonst keiner, hat Mama gesagt. Für uns wär sie die Mama.”
„Ist Tina tot? Verdammt, bin ich hier in einem Irrenhaus?”, brüllte
Frank, schlug mit der Faust noch einmal auf die Armaturen und sah die
Kinder abwechselnd an.
„Du bist irre, Frank – nur du!”, rief Bob. „Komm, mach die Tür auf. Ich steige aus; ich brauche frische Luft.“
Er stand schon vor der Tür – dann besann er sich und drehte sich zu den Kindern um.
„Ach! Geht ihr mit mir – oder besser – nehmt ihr mich mit? Ich möchte
eure Mama auch besuchen. Bestimmt gibt’s da vorne am Kiosk Blumen.
Welche Blumen mochte sie denn?”, fragte er und war schon draußen. „Das
ist gut. – Tulpen, sagt ihr? – Welche Farbe …”
„Halt! Halt!“, schrie Frank und stand auf.
Die Kinder drehten sich nicht um, gingen über die Schienen, liefen ein
Stück die Straße entlang und rannten in einer Verkehrslücke über die
Straße.
„Was ist?“, fragte Bob. „Was willst du, Frank?“
„Kannst du für mich übernehmen? Ich muss …“
„Ach? Du musst? Was musst du denn, Frank? Meinst du, dass sie sich
freut, wenn du jetzt an ihrem Grab auftauchst? Sie schaut von da oben
zu, denk dran.“
„He! Was gibt das hier? Streiken Sie? Verdammt! Ich hab einen Termin“,
rief ein Mann aus der Bahn und die alte Frau ergänzte: „Mann sollte
sich beschweren. Unglaublich!“
„Was weißt du, wer von oben zuschaut. Ich dachte du bist Moslem.“
„Unser Paradies ist auch oben. Hölle ist immer unten.“
„Übernimmst du?“
„Na, meinetwegen. Nur für die Kinder, nicht für dich, du Höllenhund.
Bin nur froh, dass ich dich nach unserem Ableben nicht im Paradies
begrüßen muss“, sagte Bob und stieg wieder ein.
Die Tür schloss sich und Bob sah, wie Frank, nach sicherndem Blick, die Schienen und die Straße überquerte.
Frank drehte sich nicht mehr um; blickte nur rüber zum Tor des
Friedhofs, der nur noch wenige Meter entfernt war. Thorsten und Maike
verschwanden gerade unter dem Schatten der Bäume.
„Wann geht’s hier endlich weiter, verdammt!”, schrie der Junge und schaute sein Mädchen beifallheischend an.
Bob fiel in den Fahrersitz zurück und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn.
„Ja, ja! Entschuldigung. Sofort. – Dem Fahrer war nicht gut. Ich habe ihn abgelöst.“
„Dachte ich mir doch. Wie der gefahren ist!“, sagte die Alte.“
„Nächster Halt – Fährstraße”, sagte Bob und als er zurückschaute war auch Frank verschwunden.