Hinter dem zurückweichenden Wald öffnet sich eine breite, in stumpfes braun getauchte Kahlfläche. Gegenüber stemmen sich kantige Türme in den Bleihimmel. Sie überragen die schwarzen Wipfel der hoch aufragenden Kiefern und ihre Ähnlichkeit mit den Hochsitzen der Jäger ist unverkennbar. Sie dienen auch ähnlichen Zwecken und der Zweck bestimmt nun mal oft genug die Beschaffenheit von Dingen, die Menschen erfinden.
Diese dunklen, hoch aufragenden Konstruktionen mit den Suchscheinwerfern auf den Dächern, die vor dem bleigrauen Sommerhimmel stehen wirken bedrohlich auf jeden Betrachter. Sie sind in Sichtweite aufgereiht. Der letzte sichtbare, ziemlich weit hinten, verschwimmt im flimmernden Dunst des heißen Sommertages; seine Konturen lösen sich auf. Man ahnt, dass sich diese Reihe nahezu unendlich fortsetzen wird.
Die Lokomotive stöhnt auf und drückt sich in die widerstrebende Weiche, die jeden Zug zum angemessenen Tempo zwingt. Die Reisenden drängen sich an die verdreckten Zugfenster, starren auf die Türme, als fürchteten sie jeden Moment ins Mündungsfeuer eines Gewehres zu blicken.
Die Hochsitze, denen sie sich langsam nähern, sind aus Stahl und Beton gebaut, anders als ihre hölzernen Artgenossen, die von Jägern errichtet wurden. Sie sind perfekt. Alles ist zur Beobachtung und zur Jagd von besonderem Wild gedacht und gebaut.
Sie wurden perfektioniert für die Beobachtung von Menschen und deshalb hat man den Jägern mit einer Reihe von Glasfenstern freien Rundumblick verschafft.
Direkt unter den bleimatten Fenstern erkennt man Schlitze, die einen sicheren Schuss auf jeden erlauben, der es wagt, diesen gepflügten, geeggten und pflanzenlosen Streifen Land zu überqueren.
Die atemlos und apathisch schauenden Reisenden können sich leicht die nebelgetränkte Dunkelheit vorstellen, in deren Schutz dunkle Gestalten über den Boden kriechen, um die Sperranlagen überlisten zu wollen; sie brauchen nur die Augen zu schließen, um das atemlose Entsetzen zu spüren, das diese Flüchtenden überfallen mag, wenn ein aufflammender Scheinwerfer sie erfasst, laute Kommandos sie zur Aufgabe zwingen wollen.
Dieser geschorene, vergewaltigte Grenzstreifen ist so wider all ihre Erfahrungen, gegen all ihre Vernunft, dass sie ihn kaum mit Worten belegen, beschreiben können. Flach über den vorderen Grenzkontrollturm lassen wir noch einen Schwung Tauben streichen – geradlinig von West nach Ost; das macht ein friedlicheres Bild. Ihre Flügel bewegen sich matt in der bleiernen Hitze; sie sind ohne Visum und ohne Besuchserlaubnis, haben keine Ahnung von Selbstschussanlagen, Schnellfeuergewehren und mit Zielfernrohren bestückten Präzisionsbüchsen.

Der Zug fährt nur noch im Schritttempo, schleicht sich an hohe Zäune heran, die in der flirrenden Luft erst spät sichtbar werden. Da, jetzt, werden sie deutlich – links und rechts – dicht neben den silbrig glänzenden Bahngleisen, wachsen sie hoch.
Sie markieren den Todesstreifen auf seiner östlichen Seite, grenzen das Niemandsland ab, wachsen höher und höher, zeigen gelassen ihre Unüberwindlichkeit, lassen nur ein schmales Tor für die Gleise, laufen in großen Schwingungen durch das gepflügte und sauber geeggte Land, bis sie sich ebenfalls in der hitzeflimmernden Luft auflösen.
Gut zehn Reihen Stacheldraht spannen sich von Pfahl zu Pfahl, bieten höchstens dem heimischen Niederwild, auch den umtriebigen Kaninchen und Hasen, genügend Platz, um ihre Reviere zu wechseln, um östliches und westliches Gras auf Geschmack und Güte zu vergleichen. Auch eine ungestörte Familienzusammenführung wird so möglich; ungehindert können Ostkaninchen sich mit Westkaninchen paaren – wenn sie nicht zufällige Opfer von Selbstschussanlagen und vergrabenen Minen werden.
Trostlose Leere dehnt sich westlich und östlich der Zäune; nur auf der östlichen Seite ist bei genauem Hinsehen eine leichte Bewegung zu entdecken: Weit hinten, neben einem knorrigen Busch haben sich zwei Uniformierte aufgebaut. Sie pressen ihre Fernrohre an das Gesicht, blicken rüber nach Westen, schwenken synchron nach links, verharren kurz, schwingen gleichmäßig weiter und richten ihre glasverstärkten Augen endlich auf den schleichenden Zug, der, voll gestopft mit Klassenfeinden, das einzig lohnende Ziel bietet.
Weiter vorne, direkt hinter dem zweiten Zaun, gut sichtbar für alle Reisenden, wächst eine riesige, in tiefes Grau getunkte Tafel aus dem Boden; auf ihr streckt sich, fast drohend, ein muskulöser, unbekleideter Arm – für den wohl ein hart arbeitender Werftarbeiter Modell gestanden hat – und zeigt seine geballte Faust. Eine flatternde weiße Taube schiebt den Text „Frieden der Welt“ an der Faust vorbei. Man stockt, zögert, bei diesem Anblick, stellt sich unwillkürlich die Frage, wohin die Taube die Botschaft bringen wird.
Darunter sind zwei Waagschalen zu sehen. In der einen stapeln sich handwerkliche Güter und in der anderen beliebiges Kriegsmaterial. Tatsächlich gewinnt überraschend die Schale mit den hart erarbeiteten Früchten der Arbeit; sie ist deutlich schwerer, berührt fast den Boden, auf dem die Tafel steht.
Da muss man einfach staunen, muss nachdenken, sich fragen, warum Autos, Kräne und Motorräder sich schwerer machen können als klotzige Panzer, Raketen, Geschütze und sonstiges Kriegsgerät.
Letztlich kann man nur aufatmend schließen, dass in dem Land jenseits der stacheligen Zäune ewiger Frieden gewollt und angestrebt ist, dass man sich dieser Zuversicht mit jeder Radumdrehung des immer langsamer schleichenden Zuges nähert.
Das Wetter ist umgeschlagen in den letzten Stunden; der gleißende Sonnenschein und der blaue Sommerhimmel sind einer milchigen Sonnenscheibe und einem drückend schwülen Bleihimmel gewichen, der baldige Entladung durch ein Gewitter verheißt.
In den Zugabteilen steht die erhitzte Luft still, schmeckt metallisch und ist so mit Wasser gesättigt, dass die Körperausdünstungen sich als Wassertropfen absetzen müssen.
Der Zug wird noch langsamer, kriecht, zögert, tastet sich ängstlich einem kritischen Punkt entgegen. Die Räder drücken sich über Weichen, quietschen empört, gequält und hörbar unzufrieden mit dieser Streckenführung, die schnelles Durchfahren unmöglich machen soll.
Wir haben nun Zeit genug, bevor der Zug an seinem vorläufigen Ziel halten muss, uns die Reisenden in einem Abteil – quasi als Beispiel für andere, ähnliche Abteile dieses grenzüberschreitenden Zuges – anzusehen. Willkürlich – ganz sicher – und ohne Hintergedanken.
Am besten nehmen wir dazu aus dem mittleren Wagon das zweite Abteil. Ja, das da – das mit den verschmierten Scheiben, durch die man ein junges, blasses Gesicht unscharf erkennen kann.
Es ist heiß in diesem Abteil, wie überall in diesem West-Ost-Zug, der einmal pro Tag von Köln nach Leipzig fährt. Bis auf einen, sind alle Plätze belegt.

Da ist zunächst einmal dieser junge Mann, den wir bereits durch die schmutzige Scheibe ausfindig gemacht haben. Mark nennen ihn die Freunde und Kommilitonen und seine Familie; nur seine Großmutter besteht auf Markus, wie im Pass steht, den er gerade noch studiert hat. Lange hat er das Foto betracht, das ihn mit spitzem Ziegenbart zeigt. Und ein wenig unsicher hat sich gefragt, ob das ein Problem werden könnte.
Er sitzt mit dem Gesicht in Fahrtrichtung, starr, beeindruckt von der eindringlichen Friedensbotschaft, beobachtet die vorbeiziehenden Grenzsicherungsanlagen.
Er ist etwa Mitte zwanzig, flachsblond und schlank; sein schmales, bartloses Gesicht verleiht ihm einen jungenhaften Anstrich. Er trägt ein bunt gemustertes, kurzärmeliges Hemd und hat den Kragen weit geöffnet, um Luft an den Körper zu lassen.
Als Reiseziel hat er Leipzig angegeben, Leipzig West, um so genau zu sein, wie es die Vorschriften hier verlangen. Da wohnt – besser gesagt, da wohnte bis zur Einweisung ins Krankenhaus – seine Großmutter, die Mutter seiner Mutter.
Er hat ein Visum, eine Besuchserlaubnis bekommen, weil ihn seine Großmutter sehen will. Im Krankenhaus soll sie also liegen, in Leipzig-Mitte. Seine Einreisegenehmigung nennt einen festen Einreise- und Rückreisetermin; und damit hat er seine Schwierigkeiten. Es musste ja alles so schnell gehen, als ihn der Anruf erreichte.
„Dach Junge! Ich bin de Nachbarsfrau von de Grossemudder. Is nich scheen, dass de nie nich hier warscht. Ä Fläbbe würd ich ham, Junge, Junge. Un nu, weeste, is et spät, se is heite nich hibsch, gar nich hibsch isse; man gönnt sage, se is gnille. De Gerl mit de Schippe war schon da! Se is nich mehr in ihr Heischen; se is im Grangenhaus, in Mitte. Ich tat se besuchen, awer reden gonnte se nischt, erst nischt, denn de Grangheit schnierte ihr de Gähle zu. Späta hattse dann gefracht nach ihrem Ängel, dem Markus. Se tat so druflos rasseln. Un de Doktor tät sagen, wenn de nich bald gommen tätst, da warsch nadierlich zu schbaete. Gomm bald, das tät ihr machen änne Freide, de letzte wohl! Olga machts nich mehr lang – sacht dr Doktor. Und wenn de nicht gommen täts, würde se inne Höll gommen! Nu, se tut natierlich diddschen un fähnsn. Nu weeste, isch würd awer där alten Frau ä baar Bliemchen mitbringe. Oda hasste nich genuch Binunnsen? Tu nich de Zeit forblämmborn, se tut et nich mehr lang.“
So sprach die Freundin und Nachbarin seiner Großmutter Olga, die ihn vom Postamt aus anrufen musste, die nie anders als sächsisch gesprochen hat. Sie ließ sich nicht unterbrechen und legte sofort auf, als sie ihre Botschaft herunter gerasselt hatte. Nur mühsam verstand er sie und die Dringlichkeit der Nachricht ging ihm erst viel später auf.
Sie hatte, der Bitte seiner Großmutter folgend, mit Mühe seine Telefonnummer ausfindig gemacht und ihn in ihrer unbeholfenen Art bedrängt.
„Nich gerne“, wie sie Eingangs gesagt hatte. „Wo doch de Nachricht so eine traurige is. Und um de Beerdigung gümmern musste dich auch, hat de Olga, also de Grossemudder gesagt – soll ich sagen.“
Moni, seine Mutter und ihre Tochter, die hatte sie nicht sehen wollen. Ihre Flucht in den Westen damals, die konnte sie ihr nie verzeihen, die Großmutter Olga, die ihm zu Weihnachten immer ein Päckchen schickt. Seit zwanzig Jahren. Sonst schrieb sie nie, schickte nie was. Aber zu Weihnachten, das wusste man, kam dieses Lebenszeichen.
„Für den lieben Markus! Von deiner Oma Olga“, schrieb sie immer in unnachahmlich schöner Schrift. Holzspielzeug, von Hand gefertigt, mit den typischen kleinen Fehlern und Unebenheiten ließ sich aus der Zeitung „Neues Deutschland“ pulen. In zwanzig Jahren zwanzig Holzeisenbahnen. Sie glichen sich bei oberflächlicher Betrachtung – und mehr hatte er nie darauf verwendet.
Auch im letzten Jahr hatte er so eine Bahn zu Weihnachten bekommen und wusste, wie in jedem Jahr, nicht, was er damit machen sollte.
„Kannst sie ja für deine Kinder aufheben; wer weiß, ob die nicht später mal was wert sind“, sagte seine Mutter, wenn er sie in den Müll werfen wollte.

Sie liegt also im Sterben, die Großmutter Olga. Aber ob sie in den vierzehn Tagen sterben wird, die ihm das Visum genehmigt, das ist noch offen – und das ist sein größtes Problem. Lieber würde er erst nach der wohl anstehenden Beerdigung zurück fahren, aber – er wird sehen. Er hat ja Semesterferien und genug freie Zeit. Und die Genossen, da ist er sicher, werden alles tun, um ihm zu helfen. Er wird sehen.
„Mann! Das ist doch die Gelegenheit! Du kannst rüber! Guck dich um, sprich mit den Genossinnen und Genossen. Mach dir ein Bild! Und dann, nach den Semesterferien, hältst du unserem Kader einen Vortrag. Du musst aus eigener Anschauung berichten, den Frieden herausstellen, die soziale Gerechtigkeit, die Brüderlichkeit und die Fürsorge des Staates für seine Bürgerinnen und Bürger. Arbeitslose? Ha, wirst du sagen. Doch nicht da drüben! Der Unterschied muss raus kommen, verstehst du? Hier die totale Unfreiheit, die Knechtung durch das übermächtige Kapital, den übermächtigen Kapitalismus, und da drüben die erstrebenswerte Freiheit und Gleichheit. Aufatmen wirst du, wenn du erst über die Grenze bist; da atmest du frei und leicht. – Und das musst du hier erzählen.“
Gerd, sein Kommilitone und Vorsitzender des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes SDS, hat ihm versprochen, eine „Großveranstaltung“ zu organisieren.
„Und dann! Unsere Überraschung! Wir laden die beschissenen schwarzen, gelben und rosafarbenen Politiker ein, diese Ignoranten und Dummschwätzer. Du wirst es ihnen zeigen. Und bring genügend selbst Erlebtes mit – auch massig Prospekte und anderes Material.“
Sein schmaler Koffer aus Pappmaschee, mit Kratzern und Dellen auf den Flächen, der da oben auf den anderen Gepäckstücken liegt, ist halb leer, hat noch genug Platz für solches Material.
Mit seinem kleinen braunbeigen Muster, den Plastikbeschlägen und dem ebenso gearbeiteten Griff hebt er sich deutlich von den schwarzen, wuchtigen und großartigen Koffern ab, auf denen er sich klein macht. Er ist noch nie außer Landes gewesen, dieser Koffer, den seine Mutter ihm geliehen hat; mit ihm ist sie damals rüber, wie sie mit Wehmut in den Augen gesagt hat.
„Vielleicht freut er sich ja, wenn er seine Heimat wieder sieht“, hat sie gesagt und sich eine angeblich herausquellende Träne mit dem Handrücken abgewischt. Er hasste ihre Sentimentalität. Ihre selbstmitleidige Art. Manchmal schämte er sich, von so einer abzustammen. Da war er doch aus anderem Holz geschnitzt.
„Kommst auf deinen Vater. War wie du, so gefühllos und hart. Ach ja“, stöhnt sie, wenn er ihr Vorwürfe wegen ihrer weinerlichen Art macht und er sieht ihr an, dass sie sich Bilder aus der Vergangenheit in den Kopf holt.
„Das Schwein!“, sagt sie manchmal, abschließend sozusagen, bevor sie sich wieder anderen Sachen zuwendet. Und er weiß, dass sie ihn, seinen Erzeuger meint, der schon kurz nach dem „Rübermachen“ ein junges „Westflittchen“ netter fand als sie.

Der Fensterplatz, Mark gegenüber, ist leer. Eine verbiestert ausschauende Alte, die ohne Unterbrechung zuerst eine Zeitung und dann einen Roman gelesen hat, ist in Wolfsburg, dem letzten Halt vor der Grenze ausgestiegen. Das Buch, in das sie sorgfältig ein Stofflesezeichen gelegt hat, nahm sie mit. Die Zeitung blieb auf dem Sitz zurück.
Mit übergroßen Buchstaben, auffallend roten und schwarzen, und einem Foto, macht sie sich wichtig, animiert zum Lesen – ob man will oder nicht.
Er hat das Blatt zunächst gedankenlos, dann misstrauisch, verächtlich auch, angesehen. Zuletzt aber hat er es doch mit spitzen Fingern an sich gezogen. Er hat die Überschriften mit Abscheu und Verachtung überflogen, nur wenige Artikel ganz gelesen. Jetzt hält er sie, zusammengerollt, in der linken Hand, klatscht damit gedankenverloren auf seine Knie.

Neben Mark sitzen die Besitzer der großartigen schwarzen Koffer. Die Frau, von ihrem Mann schon mehrfach als Odilia angesprochen, ist um viele Jahre jünger als ihr Mann. Sie trägt trotz der Hitze einen zierlichen schwarzen Hut, der das hochgesteckte Haar krönt. Ihr Gesicht ist schmal, ebenmäßig und gepflegt, zeigt eine sanfte Bräune. Ihre Augen blicken streng, analysieren ohne Mühe die Mitreisenden, betrachten nachdenklich den Dreck auf den Fenstern und die zerschlissenen Polster.
„Theo, wenn du dich bemüht hättest, würden wir erster Klasse reisen“, hat sie bei ihrer Ankunft vorwurfsvoll gesagt und nicht verstehen wollen, dass es bei den Zügen, die in den Osten fahren, keine erste Klasse gibt.
Ihr zugespitzter Mund sieht aus, als wäre er allzeit bereit für Kommandos an Bedienstete oder Lieferanten, die sie mit kalter, geschäftsmäßiger Stimme anleiten möchte. Sie ist sehr schlank, hat gerade eine dreiwöchige Kur in Baden-Baden hinter sich gebracht, um drei Pfund Übergewicht mit sanfter Anleitung angenehm weg zu machen. Ihr Kostüm ist danach, maßgeschneidert, angefertigt worden und lässt keine Luft zwischen Körper und kostbarem französischem Stoff.
Die Finger werden von zwei Perlenringen geschmückt; die dazu passenden Gegenstücke schaukeln bei jeder Bewegung des Wagons sanft an den Ohren und die zugehörige Kette schmiegt sich an die hitzefeuchte Haut.
Sie presst schon seit Düsseldorf eine schwarze Krokodillederhandtasche an die Brust, in der sich ein Spitzentaschentuch, ein tiefroter Helen-Rubinstein-Lippenstift, ein Puderdöschen aus Schildplatt, ein ebensolcher Kamm, ein Silberspiegel mit Schildplattrücken, ein ledergebundenes Büchlein mit den Anschriften der unzähligen Freunde und Freundinnen, ein Pass, das DDR-Visum, ein Täschchen mit Ersatzschmuck und eine Geldbörse aus Schlangenleder mit genügend Bargeld für die zwei Wochen in der Messestadt Leipzig den Platz teilen.
Wie ein Heiligtum hütet sie ihren Besitz, was die angespannte Haut über den verkrampften Handknöcheln weiß leuchten lässt.
In der Reisekostenabrechnung ihres Mannes wird sie – wie üblich – als Sekretärin mitreisen. Das wird ihm, der Vorträge über Warentauschgeschäfte und deren Risiken halten wird, keinerlei Gewissenbisse machen.
„Schließlich leiste ich ja auch was. Wenn du wüsstest, was der Ankermann, unser Vorsitzende, sich in dieser Beziehung alles erlaubt! Und nicht nur mit seiner Angetrauten!“, hat er seiner Odilia erklärt. – Sie wird außerdem erstmals die Schwester ihres Mannes sehen.
„Das ist Hermine, meine Schwägerin – eine Proletin, wie sie im Buche steht“, pflegt sie ihren Gästen gerne zu erklären, wenn die sie nach der Fotografie auf dem Kaminsims befragen.
„Entschuldigt. Aber Theo meint, wir müssten es da … Na ja! Ach Gott! Die ist in einer Fabrik beschäftigt. Hüte machen die da – stellt euch vor – ungefähr wie zu Adolfs Zeiten – wenn ihr wisst, was ich meine. Und natürlich ist sie in der Partei, aktive Betriebskampftruppen-Angehörige – und überzeugte Kommunistin!“
An dieser Stelle können – nein, müssen – die Freundinnen meistens lachen. Und so, aufgelockert und zufrieden mit dem eigenen guten Leben, gibt es dann eine heitere Konversion, bei der auch ein wenig Mitleid mit den „Armen im Osten“ gezeigt wird.
„Ich werde der den Unterschied zwischen Kommunismus und Kapitalismus klar machen. Ich bring ihr dafür ein ganzes Fotoalbum mit. Wenn die uns besuchen dürfte! Wenn die mal unser Haus und den Pool sehen könnte! Dann wär die Ernüchterung da; dann könnte Lenin einpacken mit seinen Klassenkampfparolen“, hat sie Theo, ihrem Mann, versprochen.
Der hat nur nachdenklich, mit gekrauster Stirn zugehört. Er war schon häufiger im Osten und hat seine eigenen Erfahrungen gemacht.
Theo ist so schmal wie seine Frau; das Alter steht ihm gut. Immerhin hat er schon die siebzig überschritten, trägt die Kleidung eines seriösen Geschäftsmannes, von den schwarzen Lackschuhen, über den dunkelgrauen Maßschneideranzug, bis hin zum weißen Hemd mit eng gebundener, dunkelroter Krawatte.
In seinem energischen Gesicht, das von silbrigen Haaren umkränzt wird, kann man mühelos die gelungenen Geschäftsabschlüsse lesen. Jetzt ist er Berater eines großen Chemieunternehmens; seine Erfahrungen sind gefragt – und seine guten Ostkontakte.
Er spielt gerne mit seinem Terminkalender, den er etwa alle dreißig Minuten aus der Brusttasche zieht, vor- und zurück blättert, wichtige Eintragungen überdenkt und andere auf ihre Berechtigung überprüft.
Den goldenen Füller, der seinen Namen trägt und ihn ständig an die Dankbarkeit seines großen Konzerns für geleistete Verdienste erinnert, nimmt er allerdings nur etwa stündlich zur Hilfe, macht sich dann und wann eine Notiz im Kalender, legt dabei einen geschäftigen, wenn auch nachdenklichen, Ausdruck auf sein Gesicht.

Diesem gut situierten Paar gegenüber sitzen Rosamunde und Karl.
„Mausgraue Proleten! Dick und fett! Die hätten beide eine Abmagerungskur nötig!“, hat Mark gedacht, als sich die stöhnend und schwitzend ins Abteil schoben – und hat sich wegen des ‚Proleten’ gehörig geschämt.
Die verschrammten schweren Koffer hat Karl ächzend hochgestemmt und dabei über seine Frau gemurrt, die keinen Finger gerührt hat.
Rosamunde ist korpulent, fließt auseinander und füllt Kleidung und Platz vollständig – sozusagen lückenlos – aus. Man sieht der Kleidung an, dass sie schon längere Zeit getragen wurde. Trotz der Hitze hat sie ein hoch geschlossenes graues Kostüm und darüber einen grauen Staubmantel angezogen.
Sie hat ein faltenloses Gesicht auf prallem Hals, etwas anderes lässt ihre Fülle nicht zu. Sie ist grau, mausgrau, von den Haaren über das Gesicht bis zu den grauen Strümpfen und Schuhen; sogar die Augen sind grau. Und ihre Stimme passt sich diesem Grauton an, ist farblos und ohne Emotionen.
Auch sie presst ihre Handtasche, die aus grauem Gummi gemacht wurde und mit Messingkanten besetzt ist, an die Brust. Und auch ihre Knöchel sind angespannt, leuchten weiß unter der Haut durch.
Das Innere der wohlbehüteten Tasche gleicht fast aufs Haar der Tasche von Odilia, nur müssen wir auf Schildplatt, Silber und Leder verzichten; das Taschentuch ist zerknittert und hat einen dicken, wulstigen Häkelrand – ein Weihnachtsgeschenk ihrer Mutter. Ein Adressbüchlein sucht man vergeblich; die Anschriften ihrer wenigen Bekannten lassen sich mühelos aus dem Gedächtnis abrufen.
Ihr Mann, Karl, kommt braun gekleidet daher; es ist sein bester Anzug, für besondere Gelegenheiten unter Folien weggehängt. Seine Hose ist schon knitterig, die Bügelfalten sind flach und die Knie ausgebeult. Er ist haarlos, rot vom Kopf bis zum Hals; sein Blutdruck gibt ständigen Anlass zur Sorge und zum Arztbesuch; bisher haben alle Medikamente versagt.
„Sie müssen abnehmen“, hat sein Arzt kürzlich resignierend gesagt und dies als einzigen Ausweg erkennen lassen.
Seitdem geht er nicht mehr hin zu diesem „Kurpfuscher und Fachidioten“. Dicke Wülste quetschen sich über den schmuddeligen Hemdkragen, lassen den ausgefransten, vom Bartwuchs aufgerauten Rand nicht sehen.
Er hat jetzt seine blauen, kreisrunden Augen geschlossen, leidet an Enge und Hitze – still und ausdauernd. Seine Frau dagegen hat ihre grauen Augen wachsam und sichernd ständig in Bewegung. Längst sind Wert und Aussehen der Schmuckstücke ihrer Gegenüber taxiert, haben sie sich Gedanken über diese Leute gemacht, sie in Schubladen gelegt, von denen sie eine Menge pflegt und ständig neu auffüllt.
Diese hier kamen in die ganz unterste, benannt: Eingebildete Neureiche! Großprotze!
„Man muss sich nur mal die Kleidung und den Schmuck angucken. Wer trägt so was schon bei einer Bahnfahrt“, dachte sie und schloss zufrieden die Lade. In der sich schon etliche dieser Sorte befanden. Oh ja, sie hatte ihre Erfahrungen. Viele, und nur wenige waren erfreulich.
Karl stammt aus Leipzig, ist seit dem Krieg nicht mehr in seinem Elternhaus gewesen. Er hatte, als gelernter Buchdrucker, eine Anstellung in Düsseldorf gefunden; nun, nach der Pensionierung, müssen sie mit einer kleinen Rente zurechtkommen.
Zum Eigentum hat´s nie gereicht, aber man fährt an den Sommertagen raus zum Campingplatz nach Dormagen-Stürzelberg am Rhein. Bei ‚Pitt-Jupp’ steht ihr Wohnwagen und inmitten ihrer Campingfreunde fühlen sie sich wohl.
Karls Bruder wird siebzig und da gilt keine Ausrede. Bei dieser Feier soll erstmals seit dem Krieg die ganze Familie zusammen kommen, da soll zurück geschaut und ein wenig Wehmut geweckt werden; da soll Bilanz gezogen und das Erreichte verglichen werden.
Den jungen Mann am Fenster mag Rosamunde überhaupt nicht; seine verschlossene Art und die überheblichen Blicke haben längst ihren Argwohn geweckt.
„Vielleicht ein Spion? Oder ein Kommunist, der seine Heimat – seine geistige Heimat – besucht, um seine Genossen zu treffen?“
Er ist ihr einfach zu „stiekum“, wie sie in solchen Fällen sagt; und für sein Alter schaut er seine Mitreisenden zu forschend an.
Keiner der Reisenden in diesem Abteil hat seit der Abfahrt in Düsseldorf ein Wort zu den Mitreisenden gesprochen. Nur geflüsterte Bemerkungen der Ehepaare untereinander hat es hin und wieder gegeben.

„In Kürze erreichen Sie das Territorium der Deutschen Demokratischen Republik. Bitte halten Sie unaufgefordert Ihre Einreisepapiere zur Kontrolle bereit. Ab sofort, auch auf dem Grenzübergangs-Bahnhof Oebisfelde, ist die Benutzung der Toiletten untersagt. Verlassen Sie in keinem Fall unaufgefordert den Zug! Bleiben Sie in Ihrem Abteil! Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt im ersten sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat.“
Die Stimme, verzerrt und mit Knacken stark unterlegt, hat ihre Köpfe hochgerissen, hat Spannung und ängstliche Erwartung auf einen vorläufigen Höhepunkt gebracht. Aber sie können sich nicht Luft machen, sich nicht anlächeln. Es ist zu spät für ein erleichterndes Gespräch, eine flapsige Bemerkung. Rosamunde fällt ausgerechnet beim Abschlussknacken des Lautsprechers ein Witz über den Arbeiter- und Bauernstaat ein, den ihre Nachbarin ihr mitgegeben hat. Was haben sie gelacht! Alle Schweigen. Es ist schon lange nicht mehr überbrückbar.
Rechts, durch die Fenster der Flurseite, sieht man graue Gebäude. Wände mit abgeplatztem Putz, schimmelige Schlieren auf rauem Grund. Sie wandern langsam vorbei und dann folgen Fenster mit zerbröckelnden Rahmen, die den Lack aus der Vorkriegszeit durch Hitze, Nässe und Frost längst abgestoßen haben, danach schiebt sich eine breite grüne Tür, leicht in den Angeln schwingend, an den Fenstern vorbei. Die westdeutsche Diesellokomotive, die sie hier am Grenzpunkt übergeben muss, hält ruckartig an – sie hat keine Besuchserlaubnis.

„Ja“, denkt Karl: „Spätestens jetzt wäre der Zeitpunkt für eine Durchsage gekommen, die uns aufmerken, unsere Köpfe anhebt lässt: ‚Oebisfelde! Sie haben Anschluss an den Zug nach Magdeburg um 14.30 Uhr. Um 14.45 Uhr fährt der Nahverkehrszug nach Stendal und um 14.50 Uhr haben Sie Anschluss an den Zug nach Salzwedel.’ – Aber nicht hier!“
Gespenstische Stille herrscht. Die Insassen des Abteils warten auf etwas, lauschen angestrengt, lauern auf Stimmen, die Anweisungen geben – und plötzlich macht sich bei allen das Gefühl breit, völlig ausgeliefert zu sein. Einer unsichtbaren, unnahbaren Macht; sie können nur noch abwarten.
Mark lehnt sich ans Fenster, betrachtet die jungen Soldaten der Nationalen Volksarmee, die jetzt auftauchen, in langer Reihe aufmarschieren. Man hört Türen knallen und dann Schließgeräusche.
„Sie schließen uns ein!“, flüstert die Rosamunde, die graue Frau.
Theo und Karl, sein Gegenüber, stehen fast gleichzeitig auf; ihre Gesichter zeigen versammelte Aufmerksamkeit und der Ernst der Lage lässt ihre Lippen schmal werden. Sie gehen auf das Abteilfenster zu, drücken Marks lange Beine an die Seite. Karl setzt sich auf den freien Platz; Theo versucht mit heftigen Bewegungen das Fenster zu öffnen.
„Nicht! Lassen sie das lieber. Die schießen womöglich“, schnauft Karl.
Sein Kopf ist rot angelaufen, die Lippen blass, und einige Schweißperlen glänzen unter der Nase.
„Klemmt sowieso“, verkündet Theo und gibt auf.
Auf den Rücken der Soldaten hängen Maschinenpistolen; die blassen Gesichter zeigen harten Ernst und bedrohliche Gefühllosigkeit. In ihrer Linken halten einige NVA-Männer Lederriemen, an denen Schäferhunde ungeduldig ziehen und zerren. Die Hunde blicken aufgeregt unter die Wagons, stoßen ihre Nasen auf die Schottersteine oder heben sie sichernd in die flirrende Luft.
Die Stiefel der Soldaten schieben den Schotter beiseite, wenn sie sich tief bücken, um das Gestänge unter den Wagons aufmerksam zu mustern.
„Die haben Routine“, denkt Mark. „Wer weiß, wie oft hier schon Klassenfeinde und Spione versucht haben, unbemerkt in die Republik zu gelangen.“
Sie heben die Köpfe nicht; sie müssen wissen, dass sie von den Reisenden beobachtet werden, aber sie zeigen keine Regung, machen mit erschreckender Gleichgültigkeit ihren Dienst.
„Wenn einer darunter hängt, dann ballern die los. Die putzen dem die Rübe weg, bevor der Papp sagen kann“, flüstert Karl, als könnten ihn die NVA-Männer hören.
Es bilden sich noch einige Schweißperlen auf den spiegelglatten Kopf, die sich aber ordentlich halten, nicht ins Rutschen kommen.
„Kann gar nicht sein! Wenn da einer drunter gehangen hätte, den hätte es längst abgestreift“, belehrt ihn Theo. „Der hätte ja schon in Wolfsburg unter den Zug gemusst. Stellen Sie sich das mal vor!“
„Es ist also doch ein Gespräch möglich“, denkt Mark, der immer noch die misstrauischen Hunde beobachtet, denen der Geifer aus den Mäulern tropft. „Komisch, wie die das plötzlich können.“
„Setz dich hin, Theolein!“
Odilias Gesicht zeigt ein Gemisch aus Furcht und Ärger. Ihr Mann sieht sie kurz, prüfend an. Dann blickt er wieder raus zu den Soldaten. „Da ist keine Gefahr, keine Bange Odilia. Ich hab’s oft genug erlebt.“
„Karl! Komm da weg! Was musst du so glotzen? Komm lieber zu mir. Wenn die dich sehen, gibt’s Ärger.“
„Quatsch Mutter! Kann doch nix passieren. Die können uns nicht sehen, bei dem Dreck hier.“
„Ich sagte: Setz dich, Karl!“
„Nein! Wann sieht man das mal wieder? Das musste sehen, Mutter! Komm du mal lieber her. Guck dir das an. Du wirst staunen. Du denkst, du wärst um gute fünfzig Jahre zurück versetzt. Das sind noch Soldaten! Und die Uniformen! Wie damals. Die Schirmmützen und die Stiefel! Guter Gott! Du wirst sie wieder erkennen – du wirst dich erinnern, Rosamunde.“
Karl sieht Mark herausfordernd an, will eine unterstützende Bemerkung hören. Aber der blickt starr aus dem Fenster, hat den Blick eines Offiziers eingefangen, der die Zugfenster mustert. Seine steingraue Uniform trägt vier große, aufgesetzte Taschen. Die tief sitzende Schirmmütze hat einen Mützenbund, der aus hellgrünem Besatztuch gearbeitet ist. Die Biesen am Uniformrock weisen ebenfalls die Waffenfarbe hellgrün auf.
„Da muss man vergleichen können. Sie können doch sicher bestätigen, haben wohl ebenfalls gedient?“, fragt Karl aufgeregt den sich wegdrehenden Theo. „Ach nein, sind wohl noch zu jung dafür, was?“
Aber der will nicht zustimmen, macht eine unklare Kopfbewegung, die alles offen lässt.
Die mausgraue Rosamunde beugt sich herausfordernd vor, sieht aufgesetzt gequält zu Odilia rüber, deren Augen die Luft im Abteil betrachten.
„Typisch Männer! Wenn die Militär sehen, sind die weg. Stundenlang möchte Karl von seiner Zeit als Volkssturmmann erzählen; ich kann’s schon nicht mehr hören.“
Aber das bringt ihr keine Aufmerksamkeit und sie sackt enttäuscht, fast wütend, in den Sitz zurück.
„Ich bleibe sitzen, Karl.“
„Du solltest dich auch besser setzen, Theolein. Die Dame hat schon Recht. Sie werden gleich kommen.“
Das genügt, um Rosamundes Kopf lauschend anzuheben; ihre Hände müssen noch krampfhafter die Bügel der Tasche umfassen. Die Männer gehen endlich auf ihre Plätze zurück, recken sich und strecken die Beine, als hätten sie ewig lange stehen müssen.
Mark starrt noch immer auf den Offizier, dessen wacher Blick über die geschlossenen Fenster streicht. Jetzt erreicht er wieder ihr Abteil und Mark wird es kalt beim Anblick der prüfenden und forschenden Augen.
Fahrig legt er die Bild-Zeitung auf seinen Schoß, wo sie sich entfaltet. Eine Bikinischönheit mit einem willigen Lächeln zeigt ihre makellosen Zähne, hervorquellende Brüste und einen flachen Bauch. Erst die Augen, die ihn verlockend ansehen, lassen ihn die Zeitung verlegen umdrehen. Ein verdeckter Rundumblick zeigt ihm, dass ihn niemand beobachtet hat.
„KSZE-Schlussakte in Helsinki unterzeichnet“ titelt das Blatt auf der Oberseite. Er hat den Artikel gelesen; die abfälligen Bemerkungen über den Ostblock haben ihn geärgert.
Der Offizier ist weg. Mark steht auf, legt die Zeitung auf seinen Platz und will raus auf den Gang. Ein letzter Blick nach draußen. Da sitzt einer der Schäferhunde, angeleint an seinen Herrn und starrt ihn mit seinen gelben Augen ruhig an. Der Soldat dreht dem Zug den Rücken zu, spricht mit einem Kameraden.
Der Grenzerhund zwinkert nicht, zuckt nicht; sein buschiger Schweif liegt ruhig auf dem Schotter. Mark fühlt den zwingenden Blick, denkt eine Sekunde lang an Hypnose und will sich wegdrehen.
Aber er muss sich stellen, wagt nicht, sein Vorhaben umzusetzen; er muss sich befragen und ausforschen lassen von diesem erfahrenen Tier. Starr sitzt das Tier da, bewegt die Lefzen nicht, hechelt nicht, wie es seine Artgenossen tun, um ihre Hitze loszuwerden. Es scheint problemlos durch das schmutzige Fenster zu blicken, als wäre es klar und völlig durchsichtig.
„Wenn ich gehe, dann bellt der verdammte Köter; der verbellt mich, weil ich ihm auffällig erscheine“, denkt Mark und ist gleichzeitig ängstlich und fasziniert. „Wenn er beliebig – sagen wir mal, entsprechend seiner Erfahrung – Reisende ausgucken, auswählen muss, für die eine besondere Kontrolle dringend erforderlich scheint. Wenn ich nun nicht in sein Raster passe – ob er dann bellt?“
Er fühlt einen kalten Schauer über den Rücken laufen, schimpft sich einen Narren und Spinner; dann dreht er weg, bahnt sich den Weg durch die vier Beinpaare.
Die Frauen ziehen ihre sowieso züchtig verklemmten Beine noch näher zusammen, versuchen die Füße unter die Sitze zu stecken; die Männer lassen ihre Beine ausgestreckt stehen. Die Handknöchel der Frauen spannen sich noch mehr unter der Anstrengung, die Taschen vor einem möglichen Dieb zu schützen.
Mark schließt aufatmend die Abteiltür hinter sich und schaut aus den Fenstern auf das Bahnhofsgebäude und den Bahnsteig.

„Da wär Farbe angebracht – und Putz!“, denkt er beim Anblick des verfallenen Gebäudes. Auf dem Bahnsteig sind keine Passagiere zu entdecken. Kein Reisender schaut auf eine Anzeigentafel, vergleicht nervös die Aussage der Armbanduhr mit der angezeigten Ankunftszeit.
Nur die NVA-Männer mit angeleinten Hunden bewegen sich hin und her – scheinbar ziellos. Im Hintergrund steht reglos ein Offizier. Die Soldaten haben wohl ergebnislos nach blinden Passagieren gesucht; sie wirken nicht enttäuscht, in ihren Gesichtern sieht Mark jedenfalls keine Regung.
Ein Kommando muss es gewesen sein, das da erklungen ist. Die Lippen des Offiziers haben sich hastig bewegt. Die Soldaten spritzen auseinander, zerren ihre Hunde hinter sich her, stellen sich an den Zugtüren auf. Dann muss ein weiteres Kommando ertönt sein, denn die in den Scharnieren kraftlos pendelnde Bahnhofstür fliegt auf, lässt eine Reihe von Männern und Frauen in steingrauen Uniformen heraus quellen.
„Da wär Farbe angebracht – und Putz!“, denkt er beim Anblick des verfallenen Gebäudes. Auf dem Bahnsteig sind keine Passagiere zu entdecken. Kein Reisender schaut auf eine Anzeigentafel, vergleicht nervös die Aussage der Armbanduhr mit der angezeigten Ankunftszeit.
Nur die NVA-Männer mit angeleinten Hunden bewegen sich hin und her – scheinbar ziellos. Im Hintergrund steht reglos ein Offizier. Die Soldaten haben wohl ergebnislos nach blinden Passagieren gesucht; sie wirken nicht enttäuscht, in ihren Gesichtern sieht Mark jedenfalls keine Regung.
Ein Kommando muss es gewesen sein, das da erklungen ist. Die Lippen des Offiziers haben sich hastig bewegt. Die Soldaten spritzen auseinander, zerren ihre Hunde hinter sich her, stellen sich an den Zugtüren auf. Dann muss ein weiteres Kommando ertönt sein, denn die in den Scharnieren kraftlos pendelnde Bahnhofstür fliegt auf, lässt eine Reihe von Männern und Frauen in steingrauen Uniformen heraus quellen.
„Wir kamen zwangsläufig ins Gespräch. Es gab nur ein Thema für ihn: Deutschland, das ganze Deutschland, mit seiner Geschichte. Dieses Land im Zentrum von Europa, auf das er, wie er mir wie selbstverständlich erzählte, stolz war. Aus der Kenntnis, dem Studium aller Vorkommnisse und Entwicklungen, aus der Geschichte des Gelingens und des Versagens, hatte er seinen Stolz abgeleitet.“
„Stolz? Sagte der wirklich Stolz?“
„Ja, er gebrauchte das Wort für seine Gefühle, die ihn bewegten und sein Leben bestimmten.
„Das muss aber Widerspruch hervorrufen – mindestens bei denen, die keine Revanchisten sind. Das kann man nicht unbegründet und unbewiesen hinnehmen. Naiver Stolz ist der Nährboden der Revanchisten und Ewiggestrigen.“
„Natürlich. Aber er fühlte sich – ohne Aufforderung – dazu gezwungen, es zu bekennen. Eine familiäre Zugehörigkeit – sagte er – fühle er zu diesem deutschen Volk und seiner ganzen Geschichte. Es sei seine und unser aller Geschichte. Man könne sich da nichts aussuchen, nichts weglassen; alles gehöre zusammen und sei wie bei einer Familie untrennbar verbunden. Dazu gehöre auch Versagen, Unglück, Krieg und Mord.“
„Der macht es sich zu leicht. Dieser Mann hat keine Ahnung von dem, was passiert ist. Da kann man nicht von familiärer Zugehörigkeit sprechen. Ich hab mit seiner Familie nichts zu tun, nichts!“
„Das sah der Professor anders. Auch die unvorstellbaren Ereignisse im Dritten Reich seien ein Teil dieser gesamten Familiengeschichte. Er wolle sich nicht aus der Verantwortung stehlen, nicht aus der Scham, wie sie eine Familie für ein Mitglied empfindet, das gefehlt habe; aber er wolle auch am Glück und der Zufriedenheit über das Geleistete in dieser Familie beteiligt sein. Und da dürfe man nicht das Eine gegen das Andere aufwiegen.“
„Das kann man aber doch nicht machen. Jede Tat hat ihre eigene Ursache, muss für sich verantwortet werden.“
„Der Historiker darf eine andere Sicht haben, muss das Geschehen im Kontext sehen und beurteilen; er muss die Ursachen und ihre Wirkungen auf den Lauf der Geschichte ohne Emotion – also auch ohne Scham – sehen können, sagte er.“
„Da bin ich aber anderer Meinung. Ich schäme mich für die Taten der Menschen Ihrer Generation.“
„So, so! Und Sie sind stolz auf die Leistungen unserer bildenden Künstler; der Maler, der Literaturschaffenden, der Komponisten – und der Erfinder in allen Bereichen?“
„Nein, nur auf meine eigene Leistung, auf die von mir geschaffenen Werte will und kann ich stolz sein.“
„Der Widerspruch in Ihrer Aussage ist ihnen bewusst? Sie trennen zwischen Scham und Stolz, zwischen Leistung und Versagen. Da hat mich der alte Professor eines Besseren belehrt.“
„Die Jugend sieht das heute anders, nicht so patriotisch. Übrigens … Warum hat er hier, an dieser Grenze, seine Würde verloren – ihr patriotischer Professor?“
„Sie gestehen Sie ihm also zu? Er hatte also seine Würde nicht abgelegt, als er beschloss, diese Bücher mitzunehmen? Nun denn! Ihm wurde eine Zeitung zum Verhängnis. Ein Groschenblatt, das er wohl ohne Nachdenken erworben und gelesen hat. Ihre Schlagzeile war es wohl: „Wieder Schüsse an der Unrechtsgrenze!“ Die stach ins Auge, machte aufmerksam, ob man wollte oder nicht. Er hatte, trotz aller Geschichtskenntnisse, nicht zur Kenntnis genommen, dass zwischen Ulbricht und Springer, dem Herausgeber des Blattes, Krieg herrschte; ein unversöhnlicher, ein bis aufs Blut ausgetragener Konflikt. Er wurde an diesem Tag das Opfer dieser Fehde. Kampfblatt nennen sie es hier, agitatorisches, kapitalistisches Kampfblatt.“
„Was zweifellos stimmt. Eine reine Hetzkampagne – täglich.“
„Aha! Die Grenzkontrolle wurde jedenfalls aufmerksam, sah das Blatt, das er achtlos, ohne Hintergedanken, in den Händen hielt. Übrigens – es war eine Frau, die uns kontrollierte. Wer so eine Zeitung bei sich trägt, muss Kontrolle, genaueste, peinlichste Kontrolle als sicher annehmen. Seine Bücher fielen aus den herunter gerissenen, prall gefüllten Koffern, deckten sich auf, zeigten akribisch verfasste Handeinträge, lange Kommentare, die in durchwachten Nächten entstanden waren. Es wurde alles – jedes Buch – beschlagnahmt.
„Das nahm ihm die Würde?“
sein Lebenswerk – sei. Es nutzte nichts; sie trugen die Koffer raus. Dann, uns blieb fast das Herz stehen, fiel er vor dieser Frau, die ihn höhnisch auslachte, auf die Knie; er bat mit Tränen in den Augen um Gnade vor Recht.

„Oh nein! Das nicht. Da hat er zuerst gestanden, als verstehe er den Vorgang nicht. Dann erst, als er den Verlust begriff – den vollständigen Verlust all seiner Arbeit – da hat er gefleht, hilflos begründet, warum dies sein Leben – besser,
„Sie sind ein Agent des Kapitalismus. Aber unsere wehrhafte sozialistische Demokratie wird mit ihnen fertig“, hat sie mit einem ekelhaften Lächeln gesagt und auf ihn runter geschaut, auf den weißen Kopf.
Wenn er weiter jammere, könne er auch die frische Luft auf dem Bahnhof genießen. Was dann mit ihm geschehe, sei offen, völlig unklar, ergänzte sie noch.
Aber er gab nicht auf. Er wollte gestehen, einen Fehler gemacht zu haben – das ja. Aber doch nicht um diesen Preis.