Hallo, Mutter,
verzeih mir diese kühle Anrede. Ich habe gezögert, als ich diesen Brief anfing. Sollte ich „Liebe Mutter“ oder „Meine geliebte Mutter“ schreiben – oder lieber die Anrede ganz weglassen?
Ich war ratlos und wollte schon aufgeben, wollte den „dummen Gedanken“ fallen lassen, dieses Schreiben – schon nach zwei Worten auf blankem Papier – in den Papierkorb werfen. Dann aber dachte ich daran, dass es ja deiner Art entspricht, so ohne Nähe zu leben; dass du eine solche Anrede gar nicht verstehen würdest. Du liebtest die unpersönliche, die distanzierte Ansprache – zumindest mir gegenüber. Warst du auch zu anderen so? Mir fällt ein, dass ich das nicht mal ahnen kann; ich weiß fast nichts von dir – so wie du von mir.
Ich weiß, dass dich dieser Brief nie erreicht, kein Postbote dir den Umschlag überreichen wird. Und doch: Ich stelle mir vor, wie du die Stirn runzelst, wenn du den Briefumschlag öffnest und diese Blätter – ich bin mir sicher es wird ein langer Brief sein – akkurat glättest, bevor du mit dem Lesen beginnst. Ja, richtig! Das Wort Akkurat, das kennst du, nicht wahr? „Akkuratesse“, das war, so lange ich zurückdenken kann, ein immer wieder von dir benutztes Wort. Deine „Akkuratesse“ begleitete mich während meiner gesamten Kindheit und Jugend. „Junge (du nanntest mich nie mit Namen, nur immer Junge), nur mit Akkuratesse kommt man gut durchs Leben“, sagtest du, mich mal wieder belehrend.
In meiner Erinnerung hatte dieses Wort viele Bedeutungen: Es betraf die immer ordentlich gewaschene und gebügelte Bettwäsche, die akkurat, also faltenlos, abgelegt wurde, ebenso wie den akkurat aufgeräumten Haushalt, bei dem nie ein Stück herumstand. Sie betraf meine Sonntags-Kirchen-Hose, ebenso wie die akkurat zu kämmenden Haare – mit Scheitel. Die Akkuratesse störte schon ein simpler Schmutzfleck auf dem Boden – und irgendwie störte auch ich sie, nicht wahr? In diesem Sinne war ich ja auch ein Schmutzfleck in deinem Leben. Unter den Begriff Akkuratesse konnte man mich wohl nicht einordnen. – Entschuldige, das war nicht böse gemeint.
Alle hübschen, oft filigranen, Sachen, die einer Wohnung einen persönlichen Charakter geben könnten, verschwanden bei dir in Kisten und Kästen, denn sie waren Staubfänger, störten die Akkuratesse. Auch der Junge musste akkurat aussehen – wegen der Leute, die sonst über „die da“ – also über uns – reden könnten.
„Die Leute“, das war ein weiteres, ein sehr schwergewichtiges Wort. Es war gleichzeitig Mahnung („Benimm dich, wenn du bei anderen Leuten bist!“), wie auch Ausdruck deiner Angst („Was werden die Leute bloß dazu sagen?“). Auch als Drohung konnte man „die Leute“ heranziehen („Ich schick dich so schmutzig auf die Straße; dann wirst du sehen, was die Leute dazu sagen.“).
Nun bin ich schon mitten drin im Aufrechnen und wollte doch ganz anders beginnen. Warum schreibe ich dir heute – warum erst heute? Warum schreibe ich mir das von der Seele, was ich dir früher nie gesagt habe; was ich dir niemals sagen konnte?
Ach, die Akkuratesse. Darum gab es bei uns nur zwei Bücher im Haus. Das Gesangbuch und „Mein Kampf“ vom Hitler, das du gehütet hast wie deinen Augapfel. Bücher waren dir immer ein Graus. Auch weil sie Staubfänger waren, aber hauptsächlich, weil sie die Menschen auf „dumme Gedanken“ bringen würden. Bei mir stapeln sie sich in allen Räumen – vielleicht auch aus Protest, als stiller Widerspruch gegen deine Meinung. Ich habe viel gelesen, manches in Romanen, Novellen und Erzählungen selber geschrieben.
Ist es also der Einfluss der Literatur, der mich dies schreiben lässt? Hat sie mich auf diesen „dummen Gedanken“ gebracht? Sind es die Romane, die Novellen, die meinen Kopf anfüllen, die mein Denken beeinflussen? Sollte etwa Franz Kafka mit seinen Vorwürfen und der Analyse seines Vater-Sohn-Verhältnisses im „Brief an den Vater“ der Auslöser sein? Oder hat mich Georges Simenon, der in seinem „Brief an meine Mutter“ zu der Erkenntnis kommt, dass „die Mutter eines der kompliziertesten Wesen ist“, dazu gebracht? Kann sein oder auch nicht. Wer weiß schon, was mich zu meinem Tun und Lassen bewegt hat, was mich formte und mich das denken und fühlen lässt, was mich heute ausfüllt.
Bewegt mich etwa die gleiche Bitterkeit, wie sie diese großen Schriftsteller äußern? Haben diese Menschen mich dazu gebracht, hier und jetzt auch eine Art Abrechnung vorzunehmen? Waren sie der Auslöser, der den Entschluss reifen ließ, mich endlich von einem erdrückenden Schuldgefühl zu befreien, das seit meiner Kindheit auf mir lastet? Ja, du liest richtig: mich befreien von einem übergroßen Schuldgefühl, das will ich hier versuchen. Damit ich nicht ersticke. Oder schlimmer noch; damit ich damit nicht ins Grab sinke.
Sind es die Erfahrungen meines eigenen, nun schon recht langen Lebens, die mir Klarheit verschafft haben bei der Frage nach meiner Schuld am Erlebten? Reifte in mir eine Erkenntnis heran, die sich nur empirisch bilden konnte, weil ich Vergleiche heranziehen durfte? Musste ich erst als Vater eine wunderbare Art der Liebe erleben, die mir die Augen öffnete und die Vergleiche möglich machte, die dein Tun – und besonders dein Lassen – in neuem, in hellerem Licht erscheinen lassen? War es diese Vater-Kinder-Liebe, die den Nebel des fortwährenden Schuldgefühls wegblies und mich klar sehen ließ?
Warst also du schuld an allem was war? Muss überhaupt einer diese Schuld, die ich nun abwerfen will, statt meiner auf sich nehmen? Du? Oder ein anderer? Etwa der nicht vorhandene Vater? Ich weiß es nicht. Wie kann ich diese Dinge messen, ihren Einfluss wichten, ohne zuvor die „Umstände“ deines und meines Lebens zu analysieren?
Es ist bei mir wie bei einem Mann, der Abschied nimmt, den Weg vom Haus weg beschreitet, und zurückblickend den daheim gebliebenen Menschen immer kleiner, immer unwichtiger werdend vor dem Haus stehen sieht. Wie bei dem, der dabei erlebt, dass bei wachsender Distanz alle Körperlichkeit unwichtig wird, alle Einflüsse durch Blicke und Worte unbedeutend werden. Ja, so geht es auch mir, der dich nur noch als vage Erinnerung bewahrt hat und deinen Einfluss schwinden sieht. Du hast keinen mehr. Ich will, dass das so ist. Das wird mir bewusst, wenn ich dich mit leichtem Unbehagen auf einem vergilbten Foto betrachte.
Was warst du mir? Was schuldest du mir? Was hast du mir nicht geben? Was war zu viel, was zu wenig? Was von all dem hat mich, der ich vaterlos bei dir aufwuchs, zu dem werden lassen, der ich bin? Hast du als Mutter versagt? Habe ich als Sohn versagt? Warum sind wir im Zorn geschieden, haben uns entfremdet? Wer war wirklich schuld? War überhaupt einer von uns schuld an diesem Leben, an dem würdelosen, endgültigen Abschied?
Ist es deine Schuld; gebe ich dir an irgendetwas die Schuld? Ja, ich gebe es zu: In meiner Jugend, als ich stürmisch und kantig dachte und fühlte, habe ich eine kurze Zeit lang so gedacht, dich sogar in Gedanken beschimpft, habe jedes eigene Versagen auf dich und deine Erziehung zurückgeführt. Aber schon bald fiel alles wieder auf mich zurück; ich war der Schuldige. Es war unlösbar in meinem Kopf. Du hast es mir, wie mit einem Brandeisen, für alle Zeiten ins Fell gebrannt.
Das ist heute nicht mehr so; mein Blick ist klarer geworden, das Brandmal ist zugewachsen. Wie oft war ich traurig, habe geweint, war verzweifelt, weil ich keine Liebe für einen anderen Menschen empfinden konnte. Wie schwer lag das Schuldgefühl auf meinem kleinen Körper, der unter der Last, gequält von Asthmaanfällen, fast zusammen brach. „Ich bin schuld an allem.“ Warum schrie ich nachts meine Albträume heraus, konnte dich nicht schlafen lassen? Weil ich böse war, wie du gesagt hast. Böse und undankbar. Es war meine Schuld, dass ich, der Bastard dein junges Leben zerstörte.
Ich hörte das Wort Liebe, versuchte es zu „begreifen“ und ihm eine Bedeutung zu geben. Nichts. Nichts verstand ich darunter. Viel später erst verstand ich, dass das, was ich für dich empfand, Liebe war. Kind-Mutter-Liebe. Eine Liebe, die man auch Selbsterhaltungstrieb, angeborene Zuneigung zur schützenden Hand, nennen könnte.
Doch eine andre Liebe? Eine vom Mann zu einer Frau? Von einem Jungen zu einem Mädchen? „Wie ist es, Liebe zu fühlen? Was spürt man?“, dachte ich ratlos. Ich kannte damals das Werk des Sozialpsychologien Erich Fromm noch nicht, der diese verschiedenen Lieben in seinem 1956 in New York erschienenen Buch beschrieb und sezierte. Aber hätte es mir geholfen? Dieses Wissen über die Liebe ohne sie erlebt zu haben?
Und die Zweifel an der Liebe, die mir später entgegen gebracht wurde, waren tödlich für jede Beziehung, die ich einging. „Wie kann man mich lieben?“, das dachte ich zu oft und wendete mich voller Abscheu vor mir selber ab. Und sogar heute, Mutter, ist es das, was mich unglücklich und traurig macht. Diese Zweifel an mir werde ich nie verlieren.
„Mir fehlt die Erfahrung!“, dachte ich damals. „Sie hat mir ja nie gezeigt, wie man geliebt wird.“ Jetzt, wo ich die Liebe entdeckt habe, nunmehr, nachdem ich eine wunderbare Liebe erleben darf, weiß ich, dass man sie nicht erlernen kann, dass man nicht zu ihr erzogen wird. Ich habe dich dafür gar nicht gebraucht. Heute weiß ich, dass man Erich Fromms Buch nicht kennen muss, um sie zu „begreifen“, sie zu genießen und mit und in ihr zu leben.
Aber es ist genau das, was mich damals als Kind am meisten geschmerzt hat: das Fehlen deiner Liebe. Vergleiche ich mich heute mit anderen Kindern, die in der Zeit des Weltkrieges aufwuchsen, die in der Nachkriegszeit gedarbt haben, höre ich ihre Berichte über den erlebten Mangel, dann stelle ich fest, dass du für mich gesorgt hast, dass mir kaum etwas gefehlt hat. Ich musste nicht hungern, nicht dursten und nicht frieren. Ich hatte ein „akkurates“ Zuhause, hatte ein schützendes Dach über dem Kopf. Nur diese eine Kleinigkeit, Mutter, die konntest du mir wohl nicht geben.
Heute mit dem großen Abstand, kann ich es neu werten, kann messen und ermessen, was dich damals bewegt hat, was diese Liebe verhinderte und dich für mich unnahbar machte. Und die es dir unmöglich machte, einmal, nur ein einziges Mal, deinen Arm um meine Schulter zu legen. Nein, nein! Ich will dich nicht entschuldigen, weil „die Zeit alle Wunden heilt“! Beileibe nicht. Ich täte dir sogar Unrecht. Im Gegenteil: ich kann mit diesem zeitlichen Abstand, ohne deine dominierende Nähe, ohne deinen Einfluss, klarer darüber denken und die Gründe aufzählen.
Vorwürfe will ich nicht erheben, anklagen kann ich nicht, verurteilen noch weniger. Was weiß denn ich, wie du dich als ledige Mutter im Kreis der dich eng umgebenden, gaffenden, geifernden, katholischen Dorfmenschen gefühlt hast? Wie kann ich denn deine Scham nachempfinden, deine Wut auch auf den Mann, der dich dazu gemacht hat, was die Frauen im Ort eine „Hure“ nannten. Warum solltest du beim Anblick der Frucht dieser Untat, die sie „Bastard“ riefen, Liebe empfinden, Liebe ausstrahlen und geben?
Du hast gelitten, das weiß ich heute. Du hattest keinen kindlichen Schutzpanzer, der „Unwissen“ und „Unverständnis“ hieß, der manches abprallen ließ. Du sahst die Blicke der Nachbarinnen, musstest im Beichtstuhl die Vorwürfe hören und die Anklagen deiner Mutter. Und musstest meinen Anblick ertragen. Jeden Tag. Ja, das weiß ich heute.
Das alles waren „die Umstände“, die das aus dir und aus mir machten – sagtest du immer – was unser Zusammenleben bestimmte. Die Zeit, die Kirche, die Dorfmenschen mit ihren Vorurteilen und ihrem so guten und gläubigen Leben, das keinen Raum hatte für andere, nicht so denkende Mitmenschen, das waren „die Umstände“.
Nur ich, ich, das um Liebe bettelnde Kind, verstand das alles nicht, hatte keine Ahnung von der Bedeutung der Umstände für unser Leben, für dein Verhältnis zu mir. Ich, nur ich, konnte schuldig sein, nicht du und die Umstände. Es musste an mir liegen. Das wuchs und wucherte, wurde vom ängstlich erwarteten Morgen bis zum verweinten Einschlafen zur unumstößlichen Tatsache.
Ich konnte es nicht erklären, nicht den wahren Grund finden – trotz aller verzweifelten Versuche. Es war nur dieses erdrückende Gefühl, dieses schwere, überwältigende Schuldgefühl. Es wucherte in meinem Kopf, erhob sich zu einem Berg, der mich schier erdrücken wollte.
Weißt du, Mutter, dass ich gerade zehn Jahre alt war, als ich am Kanalrand stand, ins schwarze Wasser starrte und dort auf dem Grund für immer diesen Schuldenberg loswerden wollte? Das war an dem Tag, als ich Messdiener werden wollte und der Kaplan mich mit den Worten abwies: „Du bist ein Kind der Sünde. Wie kannst du es der Gemeinde zumuten wollen, stets auf diesen … diesen … zu schauen, wenn sie voller Andacht auf unseren Herr am Altar blickt?“ Das Wort Bastard sprach er nicht aus, aber ich hörte es.
Und du? Du hast genickt, als ich es dir unter Tränen erzählte. „Recht hat er. Was bildest du dir denn ein?“, sagtest du und schlugst dem auf dem Holzklotz liegenden, kreischenden Huhn mit einem Beil den Kopf ab.
Tot! Tot sein, so wie dieses Huhn, dachte ich. Ja, das erschien mir der einzig richtige Weg zu sein, um die Schuld los zu werden. Ich war schuldig, weil ich da war, weil ich lebte. Nur so war die Schuld zu tilgen. Ich habe es nicht getan, weil mir das Wasser – es war im November – zu kalt war.
Was sagst du? Dafür hast du kein Verständnis? Das tut ein christlich erzogener Mensch nicht? Du hättest doch unter all diesen Umständen das Beste aus meinem Leben gemacht? Ja, sicher hast du so gedacht, hast es so empfunden. Ich, das Kind, das dich liebte, sich an dich klammern wollte, deinen Schutz und deine Hilfe erflehte, ich habe den Mangel gespürt wie einer der vor einem zu tiefen Brunnen steht, das Wasser sieht und dabei verdurstet. Gespürt? Mehr! Es hat mich verletzt, mich gefressen, bis ich dich viel später, als ich schon erwachsen war, nicht mehr geliebt, als ich dich sogar gehasst habe. Dafür entschuldige ich mich; es war dumm von mir.
Wie konnte ich nur! Auch das ist meine Schuld, weil ich zu egoistisch war, nicht gesehen habe, wie die „Umstände“ waren. Weil ich glaubte, nur alleine leiden zu müssen. Du hast es nie gesagt, was dich quälte, dass du gelitten hast unter den Umständen. Hast du mir jemals etwas gesagt was nicht Zurechtweisung oder Tadel war? Ich denke verzweifelt zurück an meine Kindheit, suche mir ein Jahr heraus, einen Tag, einen besonderen Tag, eine Stunde nur, lasse mir jede Begebenheit durch den Kopf gehen. Du schweigst. Kein Satz, kein Wort ist erhalten geblieben. Du lebtest wortlos neben mir – oder ich bei dir. Nichts hast du mir hinterlassen. Nur Ermahnungen, Anklagen, Schuldgefühle.
Keine Worte sind geblieben, die mich und meine kindliche Seele gestreichelt hätten. Keine Hand, die mir über den Kopf strich, wenn es notwendig war. Zwei andere Hände sind mir in Erinnerung geblieben: Die schwielige Hand vom Großvater, der mich unbeholfen streichelte, wenn er meine Tränen sah und die zartweiche Hand von Tante Toni, unsere Nachbarin, die manchmal trauriger war als ich; weil sie an meiner Einsamkeit verzweifelte. Deine Hand? Ich habe sie nie gefühlt, weiß nicht, ob sie sich weich oder hart, warm oder kalt anfühlte.
Erinnerst du dich an den Tieffliegerangriff, als wir beide mit dem Rad in den wassergefüllten Graben stürzten? Als wir geschrien haben und Todesangst litten? Du wirst es noch besser wissen als ich, wie das Geheul des Fliegers sich anhörte, wie es uns lähmte und kopflos machte.
So ein Erlebnis schweiße zusammen, sagen die Leute. Das tut es wohl nicht immer und nicht bei allen Menschen. Du wirst nicht mehr wissen, was danach passierte, als die Gefahr vorüber war, als wir unverletzt aufstanden und ich dir unbeholfen den Schlamm vom Kleid und vom Arm wischen wollte. Da hast du mich so heftig zurück gestoßen, dass ich erneut ins Wasser fiel und „Weg! Lass das!“ geschrien. Warum? Das habe ich damals nicht begriffen und daran erinnere ich mich heute noch, als wäre es gestern gewesen. Noch heute frage ich mich: „Warum nur?“ Kam ich dir zu nahe?
Im Jahr danach kam ich einmal blutend nach Hause, weil die Jungen aus dem Dorf mich, den Bastard, mit Zaunlatten zusammen geschlagen hatten. „Dann gehst du eben nicht mehr auf die Straße. Bestimmt hast du sie gereizt“, sagtest du. Ich hätte die Schmerzen tapfer ertragen, wenn ich deinen Trost bekommen hätte.
Später in der Schule, als mich der Kaplan fast täglich „ein Kind der Sünde“ nannte und ich für deinen Sündenfall, mit dem er es begründete, zur Buße zehn Schläge mit dem Rohr in die linke Hand bekam (immer die linke Hand, weil ich Rechtshänder war), sagtest du beim Anblick der dicken Striemen: „Der Kaplan ist ein Gottesmann! Was fällt dir ein, ihn zu beschuldigen? Du wirst die Strafe verdient haben.“ Ich habe dann die schmerzende, geschwollene Hand stets vor dir versteckt; ich war ja schuldig und du solltest nicht wissen, dass ich den frommen Mann wieder einmal zur Bestrafung gezwungen hatte.
Und so waren die Zeichen der nicht vorhandenen Liebe für mich immer wieder neu zu erkennen. Und das alles musste seinen Grund haben und der konnte nur bei mir zu suchen sein, wo auch sonst. Aber es waren nicht nur die großen, die leicht erkennbaren Zeichen, die mir zeigten, dass ich keine Liebe wert war. Nein, es waren auch die vielen kleinen Dinge, die fehlten: eine streichelnde Hand, ein sanft gesprochenes, tröstendes Wort, ein beschützender Arm, ein Lachen über ein kindliches Versehen. Alles, was Nähe erzeugt hätte.
Ich habe dich damals verehrt, geliebt und deine Nähe als wohltuend empfunden, auch wenn alles nur in meiner Einbildung existierte. Ich wollte sie spüren, diese Liebe. Auch wenn du mich nicht gesehen hast; ich sah dich und das gab mir viel.
Eigentümlich nur, dass du dich später um mein künftiges Berufsleben kümmertest, meine Zukunft festlegtest. „Damit aus dir doch noch was wird“, sagtest du. „Obschon du ja ein Bastard bist, nichts taugst“, so dachte ich, hast du es gemeint. Das war wie die Bestätigung meiner Schuld: damit ich doch noch was aus meinem Leben machen konnte, trotz allem. Trotz was?
Das gehörte nach deinem Selbstverständnis wohl dazu wie das Dach über dem Kopf und das Essen auf dem Teller. Du hast meine Zukunft geplant, meinen Weg festgelegt, hast mich nie gefragt, was ich gerne, was ich lieber tun oder werden wollte.
Es hatte wohl auch einen Selbstzweck. Du hattest dich in dein Schicksal als ledige Mutter ergeben, hattest dich sozusagen wohnlich darin eingerichtet. Für mich gab es da keinen Platz. Nur auf den Weg, wie du ihn dir vorstelltest, da wolltest du mich noch hinbringen. Und das tatest du, ohne meinen leisen Widerspruch zu hören oder zu berücksichtigen, ohne mich nur anzuhören. Und da fällt mir schon wieder eine Geschichte ein, eine, die Julia Frank im Roman „Die Mittagsfrau“ schrieb, in der eine Mutter ihren Sohn einfach stehen lässt und verschwindet. Das hast du so nicht getan. Du warst trotzdem nicht da.
Ich weiß, ich weiß. Und ich klage nicht an. Nein, das werde ich nicht. Es waren die „Umstände“, es war die Zeit, die schreckliche Zeit. „Junge, du hast ja keine Ahnung, wie es damals war. Es ging nicht anders.“ Und so wird es wohl auch sein. Vielleicht – bitte versteh das nicht falsch – wäre es doch gegangen, wenn du mich geliebt hättest, Kraft geschöpft hättest aus dieser Liebe, die beschützen will und die einen alles für den geliebten Menschen tun lässt. Aber die war ja nicht da, diese wunderbare Liebe. Die Gründe dafür habe ich verstanden.
Noch später, als ich glaubte, die Liebe zu einem anderen Menschen entdeckt zu haben, hast du das nicht gewollt; dieses Mädchen war nicht von dir ausgesucht worden, es passte nicht in deine Pläne. Liebe zwischen uns konnte es ja wohl nicht sein, sagtest du und das war ein Urteil. Und ich war der, der ich immer war, ich widersprach nur leise, gab nach. Und wenn aus der Verliebtheit später Liebe geworden wäre? Ich weiß es nicht, weiß nicht, ob du Recht hattest mit deinem Ausdruck von der „rosaroten Brille“, die mich blind machen würde.
Erst als ich mich in einem Kraftakt losgerissen habe von dir, als ich dich längst nicht mehr geliebt habe, nur noch die Gewohnheit mich bei dir festgehalten hatte, da bekam ich die zweite Luft, da fing ein anderes Leben an. Und von diesem Punkt an bis zum heutigen Tag habe ich gebraucht, um zu verstehen.
Ist es so, Mutter, dass man als Kind seine Eltern automatisch und grundsätzlich liebt? Weil wir wissen, dass sie unser Leben, unser Überleben, sichern? Warum ist es dann nicht auch anders herum so? Ich weiß. Die Umstände, die Zeit, die Leute. Ja, ich verstehe und ich akzeptiere. Wie könnte ich mich darüber hinweg setzen.
Was bleibt, ist eine verlorene Zeit, ohne das Gefühl erlebter Liebe. Aber, weißt du, ich kann es nachholen. Ich hole es gerade nach! Ich bin mitten drin in dieser Aufholjagd, die mich bis an mein Lebensende antreiben wird. Atemlos, jage ich durch das Gefühlswirrwarr und liege oft schlaflos im Bett um es in der Stille zu atmen und zu fühlen. Wenn ich einschlafe, dann ohne Albträume, ohne irre Schreie. Ich träume vom Glück der Liebe. Von dem Gefühl, das jedem Menschen schon im Mutterleib mitgegeben wird, das er ausleben, erleben muss, weil es zum Menschsein gehört. Jahrzehnte habe ich verloren, nutzlos erlebt. Ich hole auf. Mit einer wunderbaren Frau. Ohne rosarote Brille sehe ich und erlebe ich diese Liebe. Eine Liebe die gibt und nimmt, die selbstlos und ohne Rücksicht auf andere ist. Und ich weiß, dass sie dir nicht gefallen würde, Mutter. Genau das macht mich froh. Denn du hast dich dein Leben lang geirrt.
Ich weiß also jetzt, was Liebe ist. Ich weiß, wie wertvoll und wichtig sie ist. Und mehr noch, viel mehr: Ich kenne jetzt das wunderbare, das himmlische, Gefühl geliebt zu werden. Und damit wird alles leichter; auch die Erinnerung an dich ist jetzt schmerzfrei.
Verstehst du, dass ich jetzt, so viele Jahre später, dir all das schreiben musste? Verstehst du, was mich bewegt? Und noch etwas: Ich habe dich geliebt, wie ein Kind seine Mutter liebt. Und ich habe dir alles verziehen. Schade, dass ich dir das nicht sagen konnte, solange du lebtest. Aber ich weiß, dass mir die Worte nicht aus dem Mund gekommen wären, wenn du vor mir gestanden und gesagt hättest: „Ich weiß gar nicht, was du willst, Junge! Ich bin auch nie geliebt worden.“