Warum wurde ich so, wie ich bin? Wer oder was hat mein Werden beeinflusst? Wie kam es dazu?", fragen sich viele Menschen, die sich über ihr Denken und Handeln wundern. Meistens dann, wenn sie mit sich selber und ihrer Einstellung  nicht einverstanden sind.
"Gene!", sagen fortschrittliche, durch die Medien gebildete Mitbürger und damit hat es sich dann.

Auch ich habe ich mich das oft schon gefragt. Aus verschiedenen Anlässen, unterschiedlichen Blickwinkeln, mal mit, mal ohne Erkenntnis. In einem besonderen Fall bin ich mir allerdings sicher; relativ sicher. Oder war es doch ganz anders? Gab es vielleicht andere Gründe, die ich nicht erkannt habe, die nur im Unterbewusstsein wirkten? Oder doch die Gene? Nein, letzteres wohl kaum; ein frommeres Haus als das, in dem ich aufwuchs, kann es unter diesem Himmel kaum geben. Dann will ich es mal aus meiner Sicht erklären.

„Noch ein Versuch. Was geschah bei den Worten Jesu: Das ist mein Leib - das ist mein Blut", rief der Vikar, starrte mich aus Glubschaugen an.
Ich stand sofort auf, begierig, ihm den Stand meiner Grübelei mitzuteilen, die mir mindestens eine schlaflose Nacht eingebracht hatte. Schließlich wusste ich ja aus schmerzhafter Erfahrung, worauf es ankommen würde am nächsten Morgen.
„Da wurden Brot und Wein in seinen Leib und in sein Blut verwandelt, steht hier. - Aber das versteh ich nicht. Haben die Apostel Fleisch gegessen und Blut getrunken?"
„Das ist doch ... Komm sofort noch vorne."
„Ich hab doch nur gefragt. Weil ..." Das Stöckchen wippte an diesem Tag besonders tückisch. Zuerst hatten ja einige meiner Mitschüler noch über das dünne Röhrchen gespottet, aber inzwischen hatten fast alle seine Macht spüren dürfen. Und alle waren sich einig: Besser zehn beim Klassenlehrer als fünf beim Vikar.
Wir mühten uns ab, den Helfer nicht zu rufen; aber manchmal kam er, ohne dass man was dagegen tun konnte; es war wie verhext. Es gab keine Stunde ohne das pfeifende Klatschen in die zuckenden Hände, ohne dass der Vikar mit hervorquellenden Augen und stoßweise keuchend, sagen konnte: „Er freut sich auf dich; er will in deiner Hand ein Tänzchen aufführen."
Es gab fünf nach dieser Ankündigung. Obschon ich die Zähne zusammen biss, musste ich diesmal heulen, musste laut klagend meine Schmerzen kundtun.
„Und das kommt bloß daher, weil ich mich so mit dem Glauben beschäftigt habe", dachte ich.
Noch als ich in der Bank saß, konnte ich die Tränen nicht stoppen; ich ärgerte mich fürchterlich darüber, denn schon lange war es eine Sache der Ehre, keine Miene zu verziehen, wenn der Stock die Handfläche massierte, wenn der Helfer einem den richtigen Weg gezeigt hatte.

Es war eine Sache, den langen Text aus dem Katechismus zu lernen, eine andere, viel größere, war es, ihn zu begreifen. Ich konnte ihn auswendig lernen, das Gelesene jederzeit wieder abrufen; aber das verlangte, dass ich den Text verstehen, nachvollziehen konnte. Meistens ging das irgendwie; nur diesmal gab es Schwierigkeiten.
Es klappte und klappte nicht, wollte nicht in meinen Kopf; ich war wie vernagelt. Also besuchte ich schließlich meine streng gläubige Großmutter, die sich mit mir an den Text machte, um meinen Geist zu erhellen. Wenn überhaupt, so dachte ich, dann würde sie es wissen. Nach einer guten Stunde gab sie auf.
„Warum geht das nicht in deinen Kopf? Du nimmst Jesu Fleisch und Blut zu dir, wenn du die Hostie in den Mund nimmst."
„Nie, Oma! Das stimmt doch nicht!"
„Es stimmt. Aber doch nicht so, wie du das denkst. Anders, geistig sozusagen." „Was ist geistiges Essen?"„Himmel! Lieber Gott sende ihm den Heiligen Geist."
„Aber das wäre doch, als wenn ich das Kotelett vom Schwein essen sollte; nur da weiß ich genau, dass es Schwein ist. - Aber Menschenfleisch?"
„Gott! Gottes Fleisch! Nicht Menschenfleisch. Du sollst nur glauben, dass es der Leib des Herrn ist."
„Warum?"
"Warum! Warum! Du stellst zu viele Fragen. Jesus hat es beim Abendmahl gesagt; zur Erinnerung an das Abendmahl sollst du das tun. Die Kirche hat es in den Katechismus geschrieben und du sollst es lernen." „Wenn er das aber anders gemeint hat?"
„Wer?"
„Der Herr Jesus. Vielleicht haben sie es auch falsch aufgeschrieben?"

„Unsinn! Es sind seine heiligen Worte. Kein vernünftiger Mensch zweifelt daran. Du willst nur nicht verstehen; und wenn du nicht verstehst, nimm es einfach, wie es ist; das nennt man Glauben."

  Das war also die Eselsbrücke; einfach dran glauben. Ich übte also, sagte mir leise bei allem was ich nicht begriff „Ich glaub's einfach!" und schaffte es, den gesamten Text so fehlerfrei vorzutragen, dass der Vikar am nächsten Morgen sein Stöckchen enttäuscht auf das Pult fallen ließ. Daran wirklich glauben, das klappte allerdings nie mehr. „Gut, mein Sohn. Da sieht man mal, was für eine Kraft in diesem zierlichen Helfer liegt", sagte der Vikar und betrachtete zärtlich das elastische Instrument.

Und als ich mich von diesem Helfer endlich lösen durfte, war der Agnostiker geboren - ohne dass ich diesen Begriff kannte. Das kam später. Ich lernte:
Der Agnostizismus (latinisierte Form des griechischen γνωστικισμός, agnōstikismós, von griechisch ἀγνoεῖν a-gnoein, nicht wissen) bezeichnet die philosophische Ansicht, dass bestimmte Annahmen - insbesondere theologischer Art, welche die Existenz oder Nichtexistenz eines höheren Wesens wie beispielsweise eines Gottes betreffen - entweder ungeklärt, grundsätzlich nicht zu klären oder für das Leben irrelevant sind (letztere Haltung wird auch als Ignostizismus bezeichnet).

Die Frage „Gibt es einen Gott?" wurde von mir, also dem Agnostizismus dementsprechend, nicht mit „Ja" oder „Nein", sondern mit „Es ist nicht geklärt", „Es ist nicht beantwortbar" oder mit „Es spielt keinerlei Rolle" beantwortet.

Und wenn ich heute darüber nachdenke, warum ich diese Haltung habe, dann fällt mir sofort dieser Vikar ein, der es mit seinem „Helfer" geschafft hat, in meinem kindlichen Nachfragen, den eigentlich völlig normalen Zweifeln, mir die Sünde meines Lebens klar zu machen und ergo zur Geburt eines Agnostikers mindestens stark beitrug. Und den Rest, den hatte meine liebe Großmutter mit ihrem unerschütterlichen „Glauben" dazu getan.