Das Staubtuch flog über die glänzend polierte Tischplatte, verfing sich im filigranen Fuß des bronzenen Kerzenständers, stoppte kurz vor dem schweren hölzernen Barockengel, wischte bedächtig, fast ehrfurchtsvoll, über sein einfältig grinsendes Gesicht.

Ria drehte sich um und beschloss, nunmehr die Polstermöbel zu entstauben. Locker tanzte ihr Tuch über die hölzerne Umrandung der Sessel. Die klobigen altdeutschen Möbel standen dicht gedrängt, belegten fast jeden Quadratzentimeter des Wohnzimmers.

Ihr Rücken schmerzte; sie dehnte sich weit nach hinten, presste eine Hand stützend auf die Wirbelsäule, wischte mit dem Rücken der anderen Hand den Schweiß aus dem Ausschnitt.

Schon vor zwei Tagen hatte sie mit der Putzerei angefangen. Eigentlich war es nicht nötig, das wusste sie, denn sie putzte die Räume jede Woche - allerdings oft nur flüchtig.

„Was machen wir zwei alten Leute schon dreckig? Besucher haben wir eh nicht. Na ja, ich mach's eben", sagte sie sich jedes Mal und putzte aus Gewohnheit.

Diesmal aber reinigte sie die Wohnung so gründlich, so sorgfältig, wie nie zuvor.

„Mir soll keiner was nachsagen!", hatte sie geflüstert, als sie, trotz der ungewöhnlich starken Rückenschmerzen, damit anfing.

Sie betrachtete Bernd, ihren Mann, der im Fernsehsessel saß - nein, er lag mehr. Seine Beine ruhten auf dem ausklappbaren Fußteil.

„Wie ein Mehlsack liegt der da", dachte sie und schaute auf den tonnenförmigen Bierbauch.

‚Der da', dachte sie oft in der letzten Zeit. Er lag reglos da, starrte auf den großformatigen Fernseher und verfolgte eine Diskussion über schwule Partnerschaften.

„Dat musse dir anhören, Alte. Da sind nur Bekloppte, da bei der Quasselrunde. Dieser Fliege - oder wie heißt der? Mann, wat der sich anhör'n muss. Nee, 'ne ordentliche Familie kennen die gar nich'. Mann! Da krisse so 'nen Hals bei", rief er wütend und bewegte in der Aufregung sogar den Kopf vor und zurück.

„Was hat der sich verändert! Damals, vor dreißig Jahren! Ein toller Kerl. Was war ich verliebt! Gut, wir sind alle nicht mehr wie früher. Aber seitdem der nicht mehr arbeitet, ist alles so schlimm geworden. Seit einem Jahr hockt der vom Frühstück bis spät in der Nacht vor der Kiste und spielt mit der Fernbedienung."

Sie schürzte verächtlich und angewidert die Lippen, als sich ihr Mann den fast kahlen Kopf kratzte.

„Ich hasse den!", dachte sie, erschrak, und murmelte halblaut „Ich verlasse dich!", was aber von Herrn Fliege übertönt wurde, der gerade in wehleidigem Ton die Doppelmoral der Gesellschaft anprangerte und dabei seine Gesprächspartnerin intensiv ansah.

„Mann, wie konnte ich mich bloß so vergucken!"

Die gerippte Unterhose und das schweißnasse Unterhemd konnten Bernds Speckpolster und Bauch kaum bändigen. Sie schüttelte den Kopf, versuchte vergeblich sich vorzustellen, wie ihr Mann vor dreißig Jahren ausgesehen hatte.

Sie fürchtete sich ein wenig - aber wirklich nur ein wenig - vor dem, was gleich ganz sicher kommen würde. Den Grad ihrer Besorgnis konnte sie ableiten von den körperlichen Symptomen, die sich immer einstellten, wenn sie etwas falsch gemacht oder vergessen hatte. Sie spürte ein leichtes Ziehen im Unterleib und das Atmen fiel ihr schwer. Und der verfluchte Rücken wurde täglich schlimmer.

„Ihre Rückenschmerzen sind rein psychischer Natur", hatte ihr der Orthopäde erklärt. „Sie schleppen da was mit sich rum, liebe Frau!"

Seufzend bückte sie sich über die Anrichte, ließ das Staubtuch fliegen, streckte sich und entstaubte den wuchtigen Bilderrahmen, der das Seewasser am Auslaufen und den eleganten, langhalsigen Schwan an der Flucht hinderte.

Die Arbeit fiel ihr nicht leicht, ihre Figur war schwer und füllig; der Busen quetschte sich weißhäutig aus dem Ausschnitt. Der Kittel lag eng an, zeigte freigiebig die in Jahren angesammelten Fettrollen und Speckpolster.

„Kommt bloß von der Frustfresserei. Schuld an meinen Polstern ist der Bernd. Mit 'nem anderen Mann wär ich schlank wie 'ne Tanne. Kannst mir glauben", hatte sie Weihnachten ihrer Schwester Helma gesagt, als die, wie üblich, über ihr Gewicht lästerte.

Aber ihr Gesicht war hübsch, ihre braunen Augen mochten früher manchen Mann verwirrt haben. Sie pflegte sich, legte täglich Feuchtigkeit spendende Creme auf, die sie im Drogeriemarkt billig erstand. Das Geld zweigte sie mühsam vom Haushaltsgeld ab. Den Cremetopf versteckte sie unter ihrer Unterwäsche.

„In diesen dreißig Ehejahren sind unsere Gefühle zusammengefallen und unsere Figuren auseinander gegangen", hatte sie zu Helma, ihrer Schwester, gesagt.

Da war kein Vorwurf drin, kein Selbstmitleid zu hören gewesen. „Es ist eben so - anderen geht's ja wohl ähnlich."

„Na, ich weiß nicht", hatte ihre Schwester gesagt und sich selbstbewusst die stramme Brust und die schlanke Taille gestreichelt, „man muss früh auf sich achten. Wenn du erst damit anfängst, wenn die Falten da sind, hat's keinen Zweck mehr."

„Du hast gut reden! Bist ja auch unser Küken. Acht Jahre machen viel aus. Warte mal, wenn du so alt bist wie ich", hatte sie trotzig geantwortet.

Sie warf noch einen Blick auf den Hinterkopf ihres Mannes, bevor sie auf den Balkon ging, kurz nach unten schaute, dann das Staubtuch über der Brüstung mit harten Knallgeräuschen ausschlug.

Heute würde es anders weitergehen als sonst, da war sie sich sicher.

„Es ist vorbei mit der Zeit der Lämmer. Ich will bockig werden, zustoßen und mich wehren. - Sie macht's! Sie macht's wirklich!", versprach sie den Autos, die unter ihr an der Ampel warteten.

Dieser Beschluss belebte, bewegte - und quälte sie seit Tagen. Sie schwankte zwischen euphorischen Glücksgefühlen und atembeklemmenden Ängsten. Immer wieder hatte sie Gründe für einen Aufschub gefunden.

„Erst, wenn er wieder besoffen nach Hause kommt."

Er kam am letzten Sonntag betrunken vom Frühschoppen und sie hatte gezögert.

„Ich mach's, wenn er wieder dumme Kuh zu mir sagt."

Er hatte es schon zehn Mal gesagt und sie hatte ihm verziehen.

„Wehe, er meckert über angeblich verprasstes Haushaltsgeld. Dann kann er ..."

Er hatte nicht nur gemeckert, sondern sogar gekürzt. „Muss' du halt weniger Schnickschnack kaufen. Hab ich Harz IV erfunden, he? Die Ärsche da in Berlin, die kannste ja um Geld anbetteln. Hat mir einer gesagt, dass die mich zum Sozialfall machen, wenn ich zu lange arbeitslos bin? Keiner! Diese Drecksäcke!"

Sie hatte genickt und akzeptiert. Aber an diesem Morgen hatte sie, während sie ihre Zähne putzte und - wie üblich - den Tag und seine Lasten bedachte, den Entschluss gefasst.

„Heute mach ich's! Der richtige Moment wird sich schon ergeben."

Noch nie hatte sie einen solchen Mut, einen derartigen klaren Willen verspürt, wie heute.

Vor drei Wochen etwa hatte sich in ihrem Kopf etwas bewegt, sehr langsam und ungläubig von ihr beobachtet. Und dann verschwanden alle Bedenken, waren alle Ängste, Unsicherheiten, Abhängigkeitsgefühle - und auch die ständigen Schuldgefühle - weggewischt worden.

Ihr Entschluss stand immer noch. Es musste nur etwas passieren, etwas ... Es geschah an einem Tag, der anfing wie alle anderen. Er hatte sie - wie üblich - angegrunzt, als sie ‚Guten Morgen' sagte. Es war weiter nichts Ungewöhnliches passiert; alles war wie immer.

Nach dem Frühstück hatte sie ihm die erste Flasche Bier aus dem Keller geholt und er hatte sie, weil es ihm zu warm war, eine Ewigkeit lang angeschrien.

Die anschließende Diskussion wegen des Haushaltsgeldes war auch nicht anders verlaufen als sonst.

„Frag doch den Kanzler, den Schröder. Du hast ihn gewählt. Also sieh zu! Ich hab dir damals schon gesagt: Wähl wat Gescheites! Gibt ja genug gute Parteien", hatte er gesagt und ellenlang über das gekürzte Arbeitslosengeld II gestöhnt, das er ab Januar bekommen würde.

„Glaub ma' bloß nich', dat du dat nich' spürs'. Die Hälfte Haushaltsgeld, is' klar, ja, Alte?"

Centgenau verlangte er die Abrechnung und moserte über alle Sachen, die er Luxus nannte, weil sie nicht unmittelbar für ihn gekauft waren.

„Du bis' zu blöde, den Haushalt zu führen, du dumme Kuh", hatte er abschließend gesagt, das restliche Geld auf den Küchentisch geknallt, und sie in den Keller geschickt, um kaltes Bier zu holen. „Aber kaltes Bier! Is' dat klar, Alte?"

Genau da hatte es angefangen. In dem Moment hatte sie begriffen, dass sich etwas ändern musste.

Es war ja eigentlich nicht neu, was sich an dem Tag abgespielt hatte; es war, wenn sie es genau betrachtete, sogar einer der harmlosen Tage gewesen.

Aber dieses eine Wort, ‚Alte', das war es. Dazu seine versteckten Drohungen, sein Tonfall - oder einfach nur ihre geplatzte Geduld, hatten in ihr etwas ausgelöst, was sie zuerst entsetzt abgelehnt hatte.

Es hatte gedauert, bis sie dieses neue Gefühl verstand und den Weg fand, um damit fertig zu werden.

„Ich bin noch keine sechzig und fühl mich wie hundert. Wenn ich mir Helma ansehe, dann fühle ich mich verbraucht und schrottreif."

Ihre Schwester war gerade Mal fünfzig, seit zwei Jahren Witwe und sah aus wie vierzig. Sie ging ins Kino, ins Theater, war in einem gemischten Kegelklub - „mit tollen Männern" -, machte Urlaub wann und wo sie wollte und ging sogar tanzen.

„Männer? Na klar! Ich muss sie ja nicht heiraten, um Spaß zu haben. Wenn ich mit einem ins Bett will, weil ich Lust habe - und nicht, weil er Lust hat -, dann habe ich die freie Wahl", hatte sie ihr erklärt.

Sie war rot geworden, als sie sich dieses „Lotterleben", wie Bernd das nannte, vorstellte. Bei dem dürfte sie das überhaupt nicht erwähnen, der bekäme gleich einen Tobsuchtsanfall.

„Geiles Drecksweib! Nutte! Aus was für einer Familie kommst du?", hatte er kürzlich gesagt, als Helma mit einem Kollegen nach Mallorca gefahren war.

Das alles war für sie undenkbar. Der würde sie vom Balkon werfen, wenn sie solche Wünsche wie Kino und Tanzen äußern würde. „Mein Leben kann - und darf - so nicht enden! Ich muss was tun!"

Immer wieder hatte sie sich das gesagt, hatte sich sozusagen eingeschworen, bis es saß. Dann hatte sie überlegt, hatte Pläne gemacht - meist unmögliche Pläne, wie sie sich eingestand - und danach mit ihrer Schwester gesprochen. Zum ersten Mal hatte sie ihr ganzes Eheleben ohne Schönfärberei ausgebreitet.

„Das darf doch nicht wahr sein! Das lässt du dir gefallen? Du bist ein Lamm, ein Blödes noch dazu. Ria, du musst da raus. Zeig dem die rote Karte, verdammt nochmal. Wenn dir die Bude auf den Kopf fällt, oder wenn dein Mann dich verrückt macht, komm zu mir", hatte sie angeboten - und schnell wieder zeitlich eingeschränkt. „Muss ja nicht für lange sein; sagen wir für einige Wochen - bis er begreift."

Sie fuhr mit dem Lappen über das Leder des Fernsehsessels und zuckte zusammen, als der Kopf unter ihr herumflog.

„Du gehst mir auf den Wecker, Alte! Dein Putzfimmel macht mich noch wahnsinnig. Verschwinde aus dem Wohnzimmer; ich will in Ruhe fernsehen."

Es musste schon ewig lange her sein, dass er sie „Schätzchen", „Liebling" oder sogar „Rialein" genannt hatte; sie konnte sich jedenfalls nicht mehr daran erinnern. Jetzt nannte er sie nur noch „Blödes Weib", „Kuh" oder neuerdings „Alte" - und das Wort verletzte sie jedes Mal mehr. Auch damit war Schluss.

„Jetzt oder nie!", sagte sie.

„Was hast du gesagt?"

„Ich sagte: Der feine Herr fühlt sich belästigt? Darf ich seine beschissenen Unterhosen und stinkenden Socken waschen gehen? Ist das genehm? Oder soll ich dem hohen Herrn ein kühles Bier bringen?"

Sie baute sich vor ihm auf, schob den mächtigen Leib angriffslustig vor, die Hände in die Hüften gestemmt, den Kopf hoch erhoben.

Ihr Mann glotzte sie fassungslos an. Sein Mund öffnete sich, schloss sich wieder. Man konnte sehen, wie er nach Worten suchte, nach Erklärungen vielleicht, um das Ungeheuerliche zu begreifen.

„Äh ... Sach ma'! Biste bekloppt? Hast wohl zu viele Schundromane gelesen, wa'? Ich werde dir beibringen, wie du mit mir zu sprechen hast, das sag ich dir. Noch ein Wort und es kracht!"

Sie ging auf den Fernseher zu, ohne ihren Mann zu beachten, lächelte, als sie daran dachte, wie das in Zukunft gehen würde mit dem Frühstück und dem Zeitungsholen.

Dann zischte ihr Staubtuch über die Scheibe des Fernsehers, polierte den fein gekämmten Kopf des Herrn Fliege, fuhr über die offen gezeigten Brüste seiner Gesprächspartnerin aus dem horizontalen Gewerbe, die sich gerade „bekennende Lesbe" nannte. Dabei prickelte es auf Rias nacktem Arm, die Haare richteten sich auf und es knisterte, als sich die Spannung entlud.

„Biste jetzt völlig übergeschnappt, Alte? Du gehst sofort weg von der Kiste - und lass dat Wedeln gefälligst sein. Sonst muss ich andere Seiten aufziehen. Mach deinen Scheißputz, wenn ich nicht in der Wohnung bin."

„So, so! Wenn der Herr nicht in der Wohnung ist? Wann ist das? Nächste Woche? Nächstes Jahr? Du hängst doch nur vor der Glotze, außer am Sonntagmorgen, wenn du zu deinem Frühschoppen gehst. Dann darf ich Staubputzen, ja?"

„Hä?", würgte er heraus und zog sich halb aus dem quietschenden Ledersessel hoch.

„Mach dich nicht lächerlich. Damit ist Schluss. Ich lass mich von dir nicht mehr behandeln wie eine Putze. Ich hab hier auch Rechte", sagte sie sehr ruhig in das Gesicht mit dem weit geöffneten Mund.

Sie wartete einen Moment, genoss die Stille, die ihr wie der spannungsgeladene Augenblick vor dem Startschuss zu einem Hundertmeterlauf vorkam. „Und ich sage dir jetzt noch was: Ich geh weg! - Für ... Also, für einige Zeit, geh ich weg. Ich lasse dir diese Bude - ganz für dich alleine. Du kannst ungestört fernsehen was du möchtest, kannst essen wann und was du willst, du kannst abwaschen, kochen, putzen, waschen und bügeln wie und wann es dir gefällt - nur mit dem Kommandieren, da ist es vorbei."

Er sah sie lange an, schlug sich dann mit der Linken auf die rechte Schulter und nickte heftig.

„Ritterschlag!", sagte er schließlich. „Hab mich gerade gelobt."

„Was ...?", fragte sie ratlos.

„Nu'", sagte er mit gönnerhaftem Unterton. „Hab mich nämlich mächtig gebremst. Eigentlich hätteste jetzt 'ne Tracht Prügel verdient."

„Du schlägst mich nicht! Ich lasse mir nichts mehr gefallen. Das darfst du deinen Saufkumpels in der Kneipe erzählen."

Er blickte seine Frau aus zusammengekniffenen Augen an.

„Weißt du, Alte, was mein Kumpel Karl am letzten Sonntag, nach der sechsten Runde Kölsch gesagt hat? Nee, rätst du nich'. ‚Bernd, du musst aufpassen, jetzt, wo du ganz zu Haus bis'. Die Weiber woll´n uns einspannen, uns zu Packeseln und Dienstboten degradieren. Da musste sofort gegen angehen. Die Weiber sind alle gleich. Pass bloß auf, mein Junge.' - Dat hat der gesagt! Und? Hat er Recht? Klar, hat der Recht!"

Sie erinnerte sich. Er hatte wie irre gelacht, als er spät durch die Wohnungstür geschossen kam, voll wie eine Haubitze. Er war an dem Tag noch eine Stunde später als sonst nach Hause gekommen und hatte auf ihre Reaktion gewartet. Sie hatte nur geseufzt und festgestellt, dass es aber spät geworden sei.

„Aufstand der Mäuse?", hatte er drohend gefragt, um seine Macht auszuloten und sie hatte still ihre Suppe gelöffelt.

Ihr Nacken spannte sich, als sie sah, dass er einen Entschluss gefasst hatte. Er stellte die Beine auf den Boden, drückte die behaarte Altmännerbrust heraus und gab seinem Gesicht einen harten Anstrich.

„Wie? Ich kapier ja wohl 'n bissken spät, heute. Was hasste gesagt? Dafür hab ich dreißig Jahre am Band gestanden und wie ein Tier geschuftet? Dat erlaubst du dir? Gegen deinen Ernährer und Ehemann? Willst mir wohl meinen verdienten Ruhestand versauen, wa'? Pass auf, Alte! Nich' mit Bernhard Krüger! Dem hat noch keiner den Marsch geblasen. Kannst sofort Prügel haben. Sach bloß noch ein Wort. Na?"

Sie wusste später nicht, warum sie trotz dieser Drohung weitergeredet hatte. „Mir sind die Gäule durchgegangen", sagte sie später entschuldigend zu ihrer Schwester.

„Dann wird´s Zeit, Bernd. Du warst, bist und bleibst ein Nörgler. Warum haben sie dich denn gezwungen, mit sechsundfünfzig in Rente zu gehen? Ist doch deine Schuld, das mit dem AL II. Der Karl ist fast sechzig und der geht noch jeden Tag zur Maloche. Die wollten dich nicht mehr. Du bist denen genau so auf den Geist gegangen wie mir. Du bist jetzt seit einem Jahr zu Hause und führst dich auf, als wenn alle Welt - besonders natürlich ich - an deinem Elend schuld wäre. Aber da liegst du falsch. Du bist der Versager!"

„Halt das Maul!", schrie er und stierte sie mit vorgerecktem Schädel an.

„Nein! Ich mache jedenfalls deine Tyrannei nicht mehr mit. Ich geh jetzt und dann kannst du sehen, wo du bleibst. Du bist ein armes Würstchen - ein dickes noch dazu - und nicht der Herrgott. So! Das musste man dir mal sagen."

Wie eine schwere Last, fiel alles von ihr herab. Das war es, was sie mit sich herum geschleppt hatte, was sie sich in den schlaflosen Nächten vorgebetet, was sie ihm hundert Mal in Gedanken an den Kopf geknallt hatte.

Er schrie auf. Wie ein verwundeter Löwe brüllte er und sie verstand nur den Schluss: „Es reicht, du dreckige Alte!"

Sie hätte nie gedacht, dass er noch so flink war. Sie konnte nicht mehr reagieren, als er auf sie zuflog. Der erste Schlag traf sie im Gesicht.

Sie taumelte rückwärts vor den Fernsehapparat, der sich mit einem Quietschton in die Schrankecke schob. Sie hatte wohl den Lautstärkenregler getroffen und deshalb brüllte Herr Fliege mit lauter Stimme: „Nein!" Niemals!" in den Raum. Aber das nahm ihr Mann nicht mehr zur Kenntnis.

Die nächsten Schläge trafen sie an Kopf und Körper. Er schlug blind auf Augen, Ohren und Nase, boxte in ihren Bauch und auf den Busen.

Sie taumelte haltlos hin und her, von rechts nach links; gerade so, wie sie seine Fäuste trieben. Dann fasste er ihren Kittelausschnitt und riss sie näher heran. Sein keuchender Atem traf sie sie im Gesicht und der Bierdunst ekelte sie mehr als alle Schmerzen.

Er war kräftig, das wusste sie; die harte Arbeit hatte ihm die Muskeln gestärkt. Seine knochigen Fäuste bohrten sich in ihren Körper, trafen ihre Rippen und fegten sie von den Beinen.

Als sie halb ohnmächtig zu Boden stürzte, sich instinktiv an ihm festklammern wollte, roch sie seinen muffigen Schweiß; da erst wurde ihr übel. Sie ließ los und stürzte. Mit der rechten Seite schlug sie auf die Tischkante.

„Neiiiin!"

Sie schrie vor Schmerz, Entsetzen und Panik. Es war der erste Ton, den sie von sich gab, seitdem er sie schlug.

Er stand breitbeinig über ihr. Unter dem gerippten Unterhemd hob und senkte sich die Brust in raschem Tempo. Er stierte sie an, betrachtete ihr zerschlagenes Gesicht, das Blut, das aus Mund und Nase lief, fixierte ihre ängstlich geweiteten Augen.

„Du dreckiges Weibsstück!", grunzte er, selber überrascht von seiner Tat und den Gefühlen.

Sie starrte ihn an, sah seine irrsinnige Lust und Befriedigung, sah wie berauscht er von seiner Tat war. Er stand über ihr, mit zuckenden Fäusten. Sie spürte sein Triumphgefühl, das hohe Gefühl des Siegers über einen Schwächling; es machte sie schwindelig.

„Er bringt mich um", dachte sie und ergab sich kraftlos.

Während er noch wartete und nach Luft rang, seine reglos auf dem Boden liegende Frau betrachtete, stieg ganz langsam das schlechte Gewissen an die Oberfläche. Er schnaufte, strich sich den Schweiß aus den Augen und zeigte anklagend auf ihr Gesicht.

„So weit hast du mich gebracht, Alte. Du hast unseren häuslichen Frieden zerstört. Du! Bis jetzt war alles prächtig. Du hast mich bis zum Wahnsinn gereizt!" Sein Finger schnellte vor, zeigte anklagend auf den blutenden Kopf.

„Du hast mich dazu gebracht! Du - du hast mich so lange gereizt, bis ich nicht mehr konnte. Es ist deine Schuld - was passiert ist, ist nur deine Schuld!"

Schnaufend warf er sich in den Fernsehsessel und wischte erneut den Schweiß von der Stirn.

Sie blieb mit geschlossenen Augen liegen, horchte in sich hinein, versuchte klar zu denken. Der Schmerz in der rechten Seite war schlimm, die Nase stach und die Augen brannten. Im Mund spürte sie Blutgeschmack. Aber sie triumphierte! Sie verspürte ein eigentümliches Glücksgefühl.

„Ich habe ihn besiegt, diesen Maulhelden und Despoten! - Er hat mich verletzt; ich habe ihn aus der Reserve gelockt. Zum ersten Mal hat er mich nicht mit Worten, sondern mit der Faust angegriffen. Und er hat Schuldgefühle! Mein Gott! Er weiß, dass er versagt hat."

Ihr Kittel war zerrissen, Knöpfe abgerissen und eine Tasche hing lappig herunter. Sie stand auf, zog den Kittel über dem langen Unterhemd fest zusammen und ging ins Badezimmer. Sie betrachtet ihr Gesicht im Spiegel und plötzlich begann sie zu zittern. Ihre Augen schwollen an, das Blut im Gesicht trocknete bereits. Die Haare hatten sich aus dem Knoten gelöst, hingen wirr in den Blutbahnen.

Der Schock, die Erkenntnis, kam plötzlich, traf sie hart.

„Nein - ich hab ihn gar nicht besiegt. Nein! Oh, mein Gott! Alles ist kaputt!"

Er hatte sie geprügelt! Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie verprügelt worden und sie hatte gespürt, dass es um ein Haar schlimmer gekommen wäre.

„Jetzt ist alles, endgültig alles, aus", sagte sie ihrem Spiegelbild und bekam dabei kaum die schmerzenden Lippen auseinander. „Nein, nichts ist mit Atempause, nichts mit vorübergehender Trennung. Aus! Aus! Aus!"

Sie wusch und kämmte sich sorgfältig und rieb das brennende Gesicht mit Niveacreme ein. Dann packte sie ihre Kulturtasche, ging ins Schlafzimmer, zog sich ihr bestes Kostüm an, packte den Koffer voll mit Wäsche, Strümpfe, Nachtwäsche, legte noch ein paar Blusen und zwei Kleider dazu. Zum Schluss, holte sie aus dem Schuhschrank im Flur drei Paar Schuhe, drückte alles zusammen in den Koffer und setzte sich matt, mit hängenden Schultern, oben drauf.

Sie sah sich um, betrachtete ‚ihr Reich', wie sie es früher oft mit einem gewissen Stolz genannt hatte, wenn sie nicht ganz so unglücklich war.

„Was haben wir uns über das neue Schlafzimmer gefreut - damals, als wir es zusammengespart hatten."

„Französisch schlafen wir jetzt! Pass auf, wenn ich zu dir komme! Wirst sehen, wird ein neues Gefühl sein", hatte Bernd damals gesagt und dabei richtig lüstern geglotzt. Und sie hatte sich auf die erste Nacht im neuen Schlafzimmer gefreut.

Sie wusste, dass sie nie mehr in diese Wohnung zurückkommen würde, außer, um ihre restlichen Sachen zu holen. Nach dieser Prügelei war alles anders geworden. Sie hatte ihn nur umerziehen und belehren wollen; sie hatte gehofft, dass er sie um Verzeihung bitten würde. Mit dem hier hatte sie einfach nicht gerechnet.

Der Entschluss, für immer weg zu gehen, wuchs wie eine gut gegossene Blume. Nicht mehr nur ein paar Wochen, nein, sie würde für immer gehen; das beschloss sie in diesem Augenblick. Ihre Schwester hatte Platz genug. Sie konnte ihr im Haushalt helfen und sie würden gut miteinander auskommen - wie früher, das wusste sie einfach. Alles andere würde sich zeigen.

Aus der Strumpfschublade holte sie das kleine Stofftäschchen mit dem heimlich gesparten Haushaltsgeld. Es war nicht viel, aber es würde für die erste Zeit reichen. Dann würde man weitersehen.

Er würde nicht so billig davon kommen, das schwor sie sich. Sie ging in den Flur, rief ein Taxi, nahm den Koffer in die Linke, legte mit der Rechten den Hausschlüssel auf die Garderobe und knallte die Tür hinter sich zu.

Als die Wohnungstür mit einem satten Geräusch ins Schloss fiel, sprang er auf, rannte ins Schlafzimmer und sah, dass der Urlaubskoffer weg war - und Ria auch. Er blickte über die Balkonbrüstung und sah das Taxi abfahren. Ria konnte er nicht mehr sehen.

„Die macht´s wirklich!", staunte er.

Bis zuletzt hatte er nicht daran geglaubt, hatte die Drohung für einen unbeholfenen Erpressungsversuch gehalten.

„Die alte Kuh fährt zu ihrer Schwester, dieser Nutte. Meinetwegen! Soll sie doch; ich werd sie nicht zurückholen; die kommt von ganz alleine. Selbst die dümmste Kuh weiß, wo ihr Stall ist."

Zwei Stunden hielt er es aus; lag reglos im Sessel und sah die Bilder im Fernseher an. Die Schlägerei hatte ihn mehr mitgenommen, als er glauben wollte. Er zitterte innerlich und der Magen revoltierte.

„Ich muss raus, verdammt. Mir fällt die Bude überm Kopf zusammen. Wat so ein Weib aus 'nem Mann machen kann, verdammt!"

Wie betäubt zog er sich die Cordhose und das geblümte, kurzärmelige Hemd an, schlüpfte in die Schuhe und marschierte ohne ein konkretes Ziel los.

An der Ecke, in der „Alten Post", seiner Stammkneipe, war es dunkel und kühl. Es roch nach schalem Bier und kaltem Rauch. Außer dem Wirt saßen nur zwei fremde Männer an der Theke. Es war zu früh für die Stammkundschaft.

Der Wirt stellte ihm sofort ein frisch gezapftes Kölsch hin und nickte.

„Na? Wie geht´s, Bernd?"

Er winkte ab, wollte keine Unterhaltung und trank das Bier hastig aus. Wortlos warf er zwei Euro auf den Tresen und ging raus.

In der Fußgängerzone hinter dem Dom war Hochbetrieb. Der Sommerschlussverkauf lief und aus den Geschäften strömten die Menschen, bepackt mit riesigen Plastiktüten und sperrigen Taschen. Er lief ziellos herum, blieb an keinem Fenster stehen. Auf der 'Hohe Straße' wogte eine unübersehbare Menschenmenge.

Zwei dunkelhaarige Jungen drehten ihre Räder durch die Leute, ohne aus dem Sattel zu steigen. Sie beherrschten ihre Geräte, umfuhren die Menschen gekonnt, eckten nie an.

„Die haben mir gerade noch gefehlt", murmelte er, als er sie in der Menge entdeckte.

Er spürte einen wachsenden Druck. Als sie unmittelbar vor ihm waren, versperrte er den Jungen mit gespreizten Beinen den Weg, ergriff beide Lenker und herrschte die Burschen an.

„Na, ihr? Saupack! Könnt wohl nicht lesen? Oder gilt das alles nicht für Ausländer, he? Rad fahren ist hier verboten!"

„Bist du Hilfspolizist?", fragte der größere der beiden und grinste.

„Dir werd ich gleich zeigen, wie man mit eurer Sorte umgehen muss!"

Er ließ ein Rad los, hob die rechte Hand und holte weit aus.

„He! He! Was willst du, Alter? Willste dich an meinem kleinen Bruder vergreifen, Opa?", fragte eine Stimme mit fremdem Akzent.

Im selben Augenblick erhielt er einen heftigen Schlag auf den rechten Arm. Er schrie auf und drehte sich um. Hinter ihm standen zwei junge Männer, muskelbepackte Arme quollen aus schwarzen, hautengen T-Shirts.

„Verschwindet - oder ich ruf die Polizei!", gurgelte er und zitterte vor Wut.

„Du Arsch, du blöder! Kinder willste verprügeln, Opa? Ich zeig dir mal, wie man mit deiner Sorte umgeht."

Der Mann schlug nicht zum ersten Mal. Seine Fäuste flogen schnell, rhythmisch; die Schläge kamen fast ansatzlos. Sie trafen ihn mit ungeheurer Wucht. Er taumelte, flog dem anderen Mann in die Arme, der sofort zuschlug. Die Männer schlugen gezielt, treffsicher, hart und routiniert. Sie trafen ihn da, wo es sehr weh tat.

Es knirschte, als sein Nasenbein brach; er schmeckte das Blut im Mund. Sein Kopf dröhnte und als er am Boden lag, spürte er noch die ersten Tritte in die linke Seite. Dann war er plötzlich weg, tauchte in tiefe Schwärze.

Sie saßen im Sonnenschein und tranken Cappuccino. Ria hatte sich ein Stück Nusssahne bestellt und löffelte mit genießerischem Blick.

„Bei deiner Figur ...", sagte ihre Schwester mit vorwurfsvollem Unterton und missbilligendem Blick auf den Kuchen. „Aber du bist ja alt genug, um ..."

Ria seufzte. „Wenn ich Kummer habe, fress ich. Was meinst du, wo meine Speckpolster herkommen?"

Das Straßencafé in der Aachener Altstadt war voll besetzt. Besonders viele junge Leute, Schüler und Studenten, genossen den sonnigen Nachmittag. Sie tranken Cola, sendeten SMS übers Handy, flirteten und lachten, unterhielten sich laut und ohne Rücksicht auf die anderen Gäste.

„Bernd hätte die längst zur Ordnung gerufen", sagte Ria und betrachtete die bunten Perlen in den Rastazöpfen eines Mädchens, das einen giftgrünen Cocktail schlürfte.

„Der soll sich lieber um seine Probleme kümmern. Du denkst doch hoffentlich nicht so wie dieser Idiot?"

„Nein, eigentlich ... Aber manchmal hat er schon Recht. Die jungen Leute sind oft arg lästig - und die ausländischen erst! Die noch mehr."

„Na, na! Das Gelabere deines Bernd hat wohl schon abgefärbt, was?"

„Quatsch. Aber guck dich doch bloß mal um."

Helma schüttelte den Kopf und betrachtete das Gesicht ihrer Schwester. Ria trug eine riesige Sonnenbrille, die fast die ganze obere Gesichtshälfte verdeckte.

„Siehst blöde aus mit diesem Ding. Hättest auch Make-up auflegen können."

„Das reicht nicht. So sehen die Leute wenigstens meine grünblauen Augenränder nicht. Braucht ja nicht jeder zu wissen, dass ich Prügel bezogen habe. Es wird schon genug getratscht."

Sie genoss diese erste Woche bei Helma wie einen lang ersehnten Urlaub. Ja, sie durfte bleiben. Sie konnte sich eine winzige Wohnung im Dachgeschoss einrichten. Und morgen würden sie beide zu einem Anwalt gehen und alle notwendigen Schritte einleiten.

„Das Schwein muss Unterhalt zahlen. Darauf hast du ein Recht", hatte ihre Schwester gesagt. „Der Anwalt wird das schon machen. Du quetscht deinen Alten aus wie eine Zitrone. Dem werden die Tränen kommen. So ein Schwein!"

„Helma!", rief sie empört und schüttelte sich. „Ich kann das Wort nicht hören. Sag Scheißkerl oder sonst was. Aber nie mehr ‚der Alte'. Hast du gehört?"

„Ach Gott! Hast du 'ne Phobie?"

„Quatsch! Ich hasse das Wort eben. Basta! - Außerdem ... Ich weiß nicht ... Irgendwie tut er mir Leid. Wir waren soooo lange verheiratet. Gab ja auch schöne Zeiten. Wenn ja zurück denke, damals, als wir ..."

„Hör auf, den zu entschuldigen! Wenn Vater das erlebt hätte. Der hätte deinen Mann bis nach Afrika gejagt. Seine Lieblingstochter verprügeln! Ha! Der hätte selber was auf die Ohren bekommen."

„Ach, Vater! Das war noch ein Mann. So einer ..."

„Na klar! Du hast ihn ja immer bewundert; du standest immer auf starken Männern. Darum hast du ja auch diesen Kraftprotz geheiratet. Ich mochte diese Sorte nie. Die wollen nur schwache Frauen, die sie verbiegen können, diese Herren der Schöpfung. - Nee!"

„Ach, wenn der Bernd seine Muskeln gezeigt hat! Du kannst dir das nicht vorstellen. Ich ... Also, damals, hat der mich richtig heiß gemacht - mit seinen Muskeln, mein ich. Wenn du verstehst, was ich meine."

„Aber was der im Kopf hatte, das war dir egal, was?"

„Hör auf! Dein Franz, der dünne Hering. Du weißt ja gar nicht ... So! Sooo, hat er gemacht", sagte sie und spannte mit zitternden Wangen den rechten Arm zu einem Winkel. „Hach! Schon doll!"

„Du bist und bleibst blöde. Jetzt findest du schon wieder gute Seiten an ihm."

„Ach, ich weiß nicht. Es gab doch ... Vielleicht war es doch nicht richtig, ich meine ..."

„Hör auf! Die Würfel sind gefallen. Bloß gut, dass wir beide keine Kinder kriegen konnten", sagte Helma. „Für dich ist das jetzt viel einfacher - und ich hab Platz für dich im Haus. Mit Kind würde ich dich nicht nehmen."

„Nicht? - Trotzdem! Vielleicht wär alles anders gekommen. Manchmal hätte ich schon was gebraucht - zum knusseln und lieb haben."

„Du bist und bleibst 'ne Glucke", seufzte Helma.

Das Mädchen mit den Rastazöpfen stand auf und ging zur Straße. Ria zuckte die Achseln, blickte verlegen auf die Zeitung, die auf dem Nachbartisch lag und im leichten Wind ihre Blattränder anhob. „Aachener Nachrichten", las sie halblaut. Gedankenverloren griff sie sich das Blatt und las die Überschriften der ersten Seite.

„Helma! - Hier, guck mal! Bei uns in Köln! Da! Das Bild! Die ‚Hohe Straße'! Heute biste nirgends mehr sicher. Das meinte ich vorhin. Genau das. Hör mal."

Ihre Stimme klang ab der ersten Silbe empört, als sie vorlas: „Harmloser Rentner in der Fußgängerzone brutal zusammengeschlagen. Das Opfer wurde schwer verletzt. Die Täter waren Ausländer, die ohne Anlass auf den Spaziergänger, der als friedlicher Bürger bekannt ist, einschlugen und sogar den am Boden liegenden Mann mit ihren schweren Stiefeln traten. Das Opfer musste ins Krankenhaus gebracht werden. Die behandelnden Ärzte bezeichnen seinen Zustand als ernst, aber nicht lebensbedrohend. Die Übeltäter flüchteten und blieben unerkannt. Die Polizei ermittelt! Sachdienliche Hinweise ... Blablabla."

„Na und? Eine Prügelei. Na und? Was geht uns das an?"

„Aber ... Stell dir das vor! - So was bei uns in Köln!", sagte Ria empört.

„Die sollten lieber schreiben, dass ein wütender Rentner seine harmlose Ehefrau zusammenschlug, ihr die Niere verletzte und die Nase brach. Das Opfer ist als friedliebend bekannt", sagte Helma und lachte. „He! Sollen wir das der Zeitung stecken?"

„Ach du! Das hier war doch was ganz anderes. - Nein, meins wird schon wieder. Tut schon gar nicht mehr weh. Aber dieser arme, alte Mann, der ..."

„Du Seelchen. Schade, dass es nicht dein Mann war. Da wüsste der, wie das weh tut, wenn man geprügelt wird."

„Helma! Du bist so grob. Wenn ich wüsste, dass es Bernd gewesen wäre ... ich glaube, ich wär in einer Sunde in Köln."

„Oh, mein Gott! Du begreifst es nie."

„Na ja. Hauptsache, ich bin hier bei dir. Sag: Wie sehen meine Augen aus?", fragte Ria, setzte die Brille ab und lächelte ihre Schwester an.

„Grünblau! Mach ein Foto für den Anwalt und den Richter."

„Ach Mensch! Du bist so ... Mit Bernd konnte ich ganz anders reden."