Tell Me Why!

 „Totes Kaff", dachte Hans. „Ich muss hier raus." Trubel, quirliger Betrieb, in dem er untertauchen konnte, abgelenkt wurde, das wäre hilfreich gewesen. Aber hier herrschte die Stille eines Albtraums. Er spürte eine Unruhe, die ihn hastig loslaufen ließ.

Es war gerade mal zwanzig Minuten her, dass er das Haus betreten hatte, aber er hatte das Gefühl, Stunden dort verbracht zu haben.

In seinem Kopf summte es; das Lied ‚Tell Me Why' der Beatles lief ohne sein Zutun ab. Das hatte er wohl auf der Hinfahrt im Radio gehört, da war er sicher.

Die Türen der Geschäfte waren noch immer geschlossen; sie öffneten erst in einer knappen Stunde. Die Scheiben spiegelten das Morgenlicht; die Waren ließen sich nur ahnen, waren schemenhaft erkennbar, Passagen waren noch unbeleuchtet, wirkten wie Höhlen.

Ein kühler Südwind strich durch die Fußgängerzone, fegte Papierfetzen und Blätter vor sich her. Der Unrat kreiselte, tanzte über die Straße und legte sich ermattet in Hauseingänge und Nischen.

Neben überquellenden Papierkörben lagen Coladosen, Zigarettenschachteln, Pommesschalen mit den Spuren von „Rot-Weiß" und Einlasskarten vom Rockkonzert, das gestern Abend auf dem Rathausplatz stattgefunden hatte.

Weiter hinten kehrte ein orange gekleideter Mann langsam, wie in Zeitlupe, die Abfälle zusammen, stützte sich immer wieder auf den Besenstiel und stierte anklagend auf den Dreck.

Er nahm das Bild auf wie eine Kamera; er würde es später oft aus dem Gedächtnis abrufen, wenn er sich an diese Stunde erinnerte.

„Passt zu meiner Scheiße", dachte er und verlor sich in Gedankenfetzen, die sich nicht ordnen ließen, ständig von der Melodie ‚Tell Me Why' durchbrochen wurden.

Hastig, fast überstürzt, eilte er die leicht abschüssige Straße zum Parkplatz herunter.

In seinem Kopf summte es immer noch und ‚Tell Me Why' spulte automatisch ab.

„Warum ich? Was hab' ich, verdammt nochmal, falsch gemacht?", dachte er und wieder lief die Platte. „Verflucht!" Er konnte das Ding nicht wegdrücken. ‚Tell Me Why!'

„Jeder bastelt sich sein Problem selber", hatte sein Chef erst kürzlich erklärt. Man bekam das nicht einfach so. Etwas musste er falsch gemacht haben; etwas hatte er missachtet. Was? Was war falsch gelaufen in seinem Leben?

Kalt war ihm - eiskalt. Nicht erst, seitdem er durch den kühlen Aprilmorgen lief; es hatte schon früher angefangen. Hinten im Nacken und im Rücken waren die Schauer in die Haut gekrochen, als er es erfahren hatte..

Was hatte er eigentlich empfunden, als er wie ein dummer Junge auf dem harten Besucherstuhl hockte - fluchtbereit vorne auf der Kante - und sich das mitfühlende Gesicht des Mannes betrachtet hatte? Hatte er etwas empfunden? Nichts? Nein! Wirklich nichts.

 

„Ein netter Kerl", hatte er früher oft gedacht, wenn er das immer freundliche, von poltrigem Lachen verzogene Gesicht des Arztes gesehen hatte. - Selten war er in den letzten Jahren bei ihm gewesen. Zu selten? Was sollte das gebracht haben?

„Ein gemütlicher und kompetenter Kerl, der immer Zeit zu haben scheint", hatte er Anne, seiner Frau, nach dem letzten Besuch berichtet. Eine Erkältung war der Grund gewesen - eine lächerliche Sache.

„Sie müssen sich mal checken lassen. Sie sind in dem Alter, in dem man aufpassen muss", hatte der Arzt bei der Gelegenheit gesagt. „Sie haben nur ein Leben. Vergessen Sie das nicht."

„Die Firma schickt mich jedes Jahr zur Vorsorge. Alle Leitenden müssen das machen. Ich war erst vor drei Monaten im Krankenhaus. Alles in Ordnung", hatte er geantwortet und gedacht, wie jung der Arzt aussah.

Erst vorhin hatte er entdeckt, dass dieses Gesicht gar nicht so jung war, von einer großen Zahl Falten geprägt wurde; die Hände waren breit und schwer - wie bei einem Mann, der mit ihrer Kraft seine Arbeit erledigt. Und die Stimme war tief gewesen, viel tiefer als sonst; die Worte mit dem griechischen Akzent hatten sich nur zögernd gelöst, als suche er erst nach dem richtigen Ausdruck.

Noch nie hatte er ihn so betrachtet, den Mann, an den er immer nur als Der „Grieche" dachte, den er stets nur oberflächlich wahrgenommen hatte.

Heute hatte er ihn so angespannt beobachtet, wie man einen Schauspieler mustert, der gerade einen Text vortragen muss und bei dem man nicht sicher sein kann, ob er ihn gewissenhaft auswendig gelernt hat.

Hatte er tatsächlich nichts gefühlt? - Nein, nichts hatte er gespürt, nichts. Dabei war er sich immer sicher gewesen, solche Momente beschreiben, die Gefühle aufzählen zu können - Entsetzen, Todesangst oder Panik vielleicht. Es gab doch Beispiele im Bekanntenkreis - viele, erschreckend viele.

Nichts davon war bei ihm so gewesen, überhaupt nichts. Leer hatte er sich gefühlt, völlig gefühllos und leer.

„Tell Me Why!", spielte es und für einen Augenblick befiel Hans das Gefühl verrückt zu werden.

 

Es war ja auch wirklich wie in einer Soap Opera gelaufen - schlimmer noch. Er schüttelte den Kopf und schloss die Wagentür auf. Die Frühsonne stand über den Pappeln am Rheinufer; sie wärmte noch nicht. Es würde ein schöner Frühlingstag werden - und das machte ihn wütend. Richtig wütend. Mindestens glaubte er, dass es das war, und wünschte sich regenschwere Wolken, Gewitter, Hagel und Sturm.

Seine rechte Faust traf das Lenkrad. Die Vibrationen ließen das Wageninnere dröhnen. Er schlug, drosch und hämmerte, fühlte den Schmerz nicht. Aus den Augenwinkeln sah er das Pärchen, das sich nebenan aus dem Wagen schälte und ihn beobachtete. Er schlug noch ein Mal zu, dann warf er den Kopf zurück, drückte ihn an die Kopfstütze, bis es richtig weh tat.

 

Sie wartete bestimmt schon auf ihn. Er war absichtlich ganz früh, noch vor der Öffnung der Praxis, hingefahren. Sie wollten diesen Tag auskosten.

„Wer weiß, wann du wieder so entspannt bist wie jetzt. Lass uns gemütlich bummeln gehen", hatte Anne gesagt und damit seine Vorfreude geweckt.

„Wird ja nicht lange dauern; ich mache inzwischen das Frühstück und stell schon mal die Kaffeemaschine an. Vergiss nicht, die Brötchen zu holen!"

Sie wollten nach Köln fahren, Schaufensterauslagen betrachten, einkaufen, essen gehen, die Konzertpläne an der Philharmonie abholen, im Buchladen Gonski über die Etagen flanieren, auf den Treppen sitzen, schmökern und dabei einen Cappuccino schlürfen. Ein schönes Wochenende sollte die vierzehntägige Krankheit abschließen.

 

„Krankheit? Ist gar keine richtige Krankheit, Anne. Burn-out-Syndrom vermutet der Dr. Dianalis. Er könnte recht haben. War ja auch happig, was da in den letzten Monaten ablief."

„Warum musstest du dir das auch gefallen lassen!"

„Zwei Abteilungen führen und dazu den Computer-Service neu strukturieren. Täglich dreizehn bis vierzehn Stunden arbeiten - fast pausenlos. Mann oh Mann - es war einfach zu viel. Die Ruhe hat gut getan; ich fühl mich schon wieder fit und gut erholt. Hast mich prima aufgepäppelt."

Seine Blutwerte gäben zwar Anlass zur Sorge, aber das könnte viele Ursachen haben.

„Ich schick Sie sicherheitshalber für eine Magenspiegelung zum Dr. Silbermann. Könnte ja ein ständiger Blutverlust sein, der die niedrigen Eisenwerte verursacht. Wir wollen lieber nichts riskieren", hatte der Grieche gesagt.

Die Magenspiegelung hatte er vergessen. Er hatte nichts mehr gehört und bei der Untersuchung war wohl auch nichts Besonderes entdeckt worden.

„Scheint etwas gereizt zu sein, Ihre Magenschleimhaut. Hatten Sie Schmerzen?"

Hatte er nicht. Überhaupt nichts war gewesen, außer, dass er in der Firma einfach umgefallen war. Ein Tee hatte ihn schnell wieder auf die Beine gebracht.

„Keine Aufregung, Frau Schulz", hatte er seine Sekretärin beruhigt, die schon den Telefonhörer in der Hand hatte und den Notarzt rufen wollte.

 

„Warum bin ich trotzdem zum Hausarzt gegangen? Gibt's so was wie Ahnungen? Hat mich einer geführt?"

Keine Schmerzen, keine Beschwerden - er fühlte sich nur matt, hatte das Gefühl, einfach mal drei Tage im Bett bleiben zu müssen. Er war trotzdem zum Arzt gegangen und hatte sich krank schreiben lassen. Eigentlich unvorstellbar für ihn, bei der Terminlage und den anstehenden Entscheidungen; er verstand sich selber nicht. - Und er war ohne Widerstand zur Magenspiegelung gegangen; obschon er das lächerlich fand.

„Bin doch gerade erst untersucht worden. Quatsch! Wenn da was wäre, müssten die es entdeckt haben. Na, von mir aus", hatte er nachgebend geseufzt. - Sicher auch, weil er sich zu schlapp für eine Kontroverse fühlte.

 

„Na, Sie Dauermalocher? Wie fühlen Sie sich? Lassen Sie mich raten: Sie wollen am Montag Ihre Sekretärin begrüßen. Stimmt´s?", hatte der Grieche heute zur Begrüßung gesagt und wie immer sein gutmütiges Lachen auf das breite Gesicht gelegt.

„Ja, es geht mir gut. Bestens sogar; ich will wirklich am Montag wieder ins Büro. Übrigens, das Bild im Wartezimmer, das mit den dunkelblauen Wolken und der tief gebeugten Frau, gefällt mir gut - obschon es bedrohlich wirkt. Ihre Frau malt sehr gut, Herr Doktor."

„Das bestell ich ihr gerne - es wird sie freuen. Sie hat noch zwei ähnliche Bilder für das Wartezimmer in ... Moment - das Telefon."

Das war ungewöhnlich. Nie stellte Frau Kiel, seine Arzthelferin, ein Gespräch durch, wenn er einen Patienten im Zimmer hatte. Musste ein dringender Fall sein, hatte er gedacht und etwas abgeschaltet.

„Wie das Projekt wohl gelaufen ist in meiner Abwesenheit? Die Abteilung hat sich nur einmal gemeldet, um zu hören, wie es mir geht. Alles läuft bestens, haben sie gesagt, keine Sorge. Ist das ein gutes Zeichen? Ich mache am Montag erst mal eine Rapportstunde."

Der Arzt telefonierte noch immer, hörte aufmerksam zu, den Hörer fest ans Ohr gepresst. Kein Wort hatte er gesprochen, nicht einmal geknurrt oder sonstige Zustimmungslaute abgegeben. Seine klobige Rechte hatte mit dem Stift gespielt, der scheinbar ziellos auf einem Reklameblock herum fuhr.

Dreiecke, Zickzacklinien, eine bedrohlich schnell anwachsende runde Fläche flossen aus dem breiten Stift; dann war er, über dem surrealistischen Werk schwebend, erstarrt. Hans hatte versucht, das Gebilde zu interpretieren, wollte Tod und Teufel erkannt haben.

Seine Augen! Er hatte sich über den forschenden Blick gewundert, aber nicht zu sehr; da fehlten ihm die Vergleichsmöglichkeiten. Ganz langsam, nach einem geseufzten: „Vielen Dank, Herr Kollege", hatte er den Hörer aufgelegt.

Zwei Mal hatte er sich geräuspert, hatte den Stift in die andere Hand genommen, den Kopf angehoben und ihn angesehen, so intensiv wie noch nie. In dem Augenblick hatte das mit der Kälte angefangen. Warum er es geahnt - nein gewusst - hatte, das blieb im Dunkeln. Aber er hatte es gewusst!

„Der Befund? Mein Befund?"

„Ja, es war der Kollege Silbermann. Sie wissen, wen ich meine?"

„Ja sicher, ich weiß."

„Das Untersuchungsergebnis ist gerade eingetroffen,"

Meine Güte, war das Gesicht des Griechen blass. Die Augen waren viel brauner als er gedacht hatte. Warum trug der nur diese saublöde, schwarze Krawatte?

„Mach voran! Sag's endlich, du Idiot! Mach deinen verdammten Mund auf, du dämlicher Grieche! Ich weiß es schon." Seine Wut auf diesen jovialen, gemütlichen Mann stieg hoch, wollte heraus.

„Es - es ist bösartig. Ziemlich viel davon, meint der Silbermann - und ein böser Typus noch dazu. Verdammt, ist das schwer! Es ist das erste Mal für mich."

„Für mich auch."

„Ja sicher." Er lächelte tatsächlich, drückte die Arme auf die Schreibtischplatte und stemmte sich mühsam hoch.

„Sie haben begriffen? Sie müssen sofort operiert werden; es kommt auf jeden Tag an - auf jede Stunde sogar. Holen sie sich beim Silbermann den schriftlichen Befund ab - und fahren Sie damit zum Krankenhaus. Ich lasse Ihnen gleich die Einweisung ausstellen. Meine Güte, was für ein Tag!"

 

Ja, was für ein Tag! Er hatte wirklich gelitten, sein Hausarzt, das hatte er begriffen. Richtig elend war dem gewesen - ihm nicht. Außer der eisigen Kälte im Nacken und im Rücken hatte er nichts wahrgenommen.

Wie ein Zuschauer war er sich vorgekommen. Er hatte sich tatsächlich beobachtet, als stünde er neben sich. Neugierig auf seine Reaktion war er gewesen - und enttäuscht über das Ausbleiben der erwarteten Gefühle.

„Entsetzen? Panik? Angst? Absturz in die Schwärze? Halbe Ohnmacht? Nichts. Nichts von all dem."

Wie war seine Chance? Todesurteil? 50 : 50? Größer? Niedriger? Er konnte selbstverständlich, als erfahrener Statistiker, schnell mal die Wahrscheinlichkeit abprüfen. Es gab sicher Zahlen im Internet, jede Menge.

 

Er ahnte nur, dass er schon viel zu lange da saß. „Tell Me Why!" Die Melodie ließ sich einfach nicht auslöschen. Er startete den Motor und ließ den Wagen langsam anrollen. Die Brötchen! „Vergiss die Brötchen nicht!"

Sie wartete auf ihn. Das war's, was in seinem Hinterkopf gesteckt hatte, was seine unbändige Wut gemacht hatte. Es war nicht nur sein Problem. Es betraf Anne genau so. Mehr! Viel mehr! Er würde es packen, irgendwie - aber sie? Sein Mitleid wuchs, machte das Atmen schwer.

„Wie sag ich's ihr? Womit fange ich an? Langsam beginnen?"

‚Lieber Schatz, es gibt da ein kleines Problem. Nein, nicht die Brötchen; die hab' ich nicht vergessen - hier sind sie. Mit Köln, da ist heute nichts; das müssen wir verschieben - das holen wir nach. Wir müssen nach dem Frühstück zum Krankenhaus.'

Moment! Darf ich überhaupt noch was essen?

‚Ich soll noch einmal genauer untersucht werden. Vielleicht eine Operation? Wahrscheinlich sogar. Manche Sachen können die erst feststellen, wenn sie einen aufgemacht haben. Der Magen, weißt du, war ja schon immer mein Problem. Wir packen das schon, wir beide.'

 

Alles lief automatisch ab. Schalten, blinken, bremsen und erneut anfahren. Er fuhr langsam durch den morgendlichen Berufsverkehr. Er war noch nicht bereit für die Ankunft. Gedankenlos kaufte er die Brötchen, vergaß nicht einmal die Standardformel ‚Einen schönen Tag noch'.

‚Tell Me Why!' summte er draußen und erschrak. „Wo liegen eigentlich die Versicherungsunterlagen? Oh, verdammt!"

Sie musste alleine damit zurecht kommen können. Nie hatte sie sich darum gekümmert, alles hatte er gemacht. Versicherungen abgeschlossen, Beiträge entrichtet und alles geordnet und abgeheftet. Nein, es war nicht ihre Schuld; er hatte es von ihr weg gehalten. „Das ist Männersache", hatte er gesagt; sie hatte gelächelt und genickt.

Alles verstreut abgeheftet, chaotisch sozusagen. Sein Chaos, in dem er sich ausgezeichnet zurecht fand. Wenn sie die Unterlagen der Sterbekasse suchte, dann ... „Oh, Mann!"

Lebensversicherung, Zusatzversicherung. Er musste noch heute einen eigenen Ordner anlegen; als Titel vielleicht: „Nach meinem Ableben zu erledigen." Er fand das nicht einmal komisch, irgendwie musste sie ihn ja finden.

Was musste noch da rein? Die Vereinsmitgliedschaften. Alle Vereine, für die er Beiträge entrichtete. Sie musste alles kündigen. Wo lagen die Sachen für die Hausversicherung? Haftpflicht! Das gehörte mit in den Ordner.

Die Bankunterlagen. Da blickte sie nie durch; warum hatte er das nicht ordentlich aufbereitet?

Am besten schrieb er schnell eine genaue Handlungsanweisung. Was musste in der nächsten Zeit alles bedacht und getan werden? Wer musste benachrichtigt werden? Wer zuerst? Was musste sie für den Fall einer Beerdigung bedenken? Sollte sie einen Kaffee geben - hinterher?

„Mist, Mist, Mist!"

Ach, und dann die Adressliste. Die von der letzten Jubiläumsfeier müsste reichen. Da waren alle drauf, die eine Karte bekommen mussten.

‚Heute ist mein geliebter Mann, unser lieber Papi und Opa völlig unerwartet, viel zu früh und nach schwerer Krankheit von uns gegangen. Wir werden ihn so sehr vermissen.'

Würden sie ihn denn vermissen? Wahrscheinlich, oder? Aber auf der anderen Seite - als Monika so plötzlich starb, hatte Gerd, ihr Mann, auch Rotz und Wasser geheult und bei der Beerdigung gotterbärmlich gejammert. - Nach sechs Monaten hatte er eine Neue am Arm gehabt und glücklich gestrahlt. Die Leute hatten zwar gelästert, aber konnte man es ihm verdenken? So ist es eben; das Leben geht weiter. Dachte heute noch einer an Monika? - Würde Anne auch so schnell einen anderen suchen, finden und als Mann nehmen?

„Verdammte Scheiße! Was denk ich da für einen Mist."

 

Und die Firma. Seine Abteilung, sein Großprojekt. „Sie werden einen anderen finden, einen jungen und dynamischen, einen, der das alles leichter wegsteckt. Ich kann alles abhaken und vergessen, was mir mal wichtig war. Aber es war doch mein Leben, verdammt."

Zum ersten Mal verspürte er Selbstmitleid. Er dachte an die Erfolge, an seine Träume von Beförderungen und Auszeichnungen. Und das war jetzt mit einem Schlag erledigt.

„Aus und vorbei!"

Er fühlte wieder diese undefinierbare Wut aus dem Bauch hoch steigen.

„Ich hab mich nicht umsonst abgerackert. Nein, ich werde wiederkommen. Ich versprech´s euch. Ihr braucht die Messer noch nicht wetzen; noch ist es zu früh für den Kampf um meine Nachfolge. Ihr kennt mich doch, oder? Also wartet's erst mal ab."

 

Jetzt war die Kälte weg; er schwitzte sogar so stark, dass er den Schweiß unter den Achseln laufen fühlte. Er bog in die Einfahrt ein und ließ den Wagen vor der Garage stehen.

Anne stand in der Tür und lächelte ihn an. „Der Kaffee ist längst fertig. Hat doch länger gedauert, als ... Was ist? Du hast doch was. Ich seh's dir an. Ist es schlimm? Bitte! Sehr schlimm? Oh, nein! Ganz schrecklich schlimm? Oh, mein Gott!"

Die Panik in ihrer Stimme überfiel ihn wie ein eiskalter Wasserguss. Sie zog ihn ins Haus und schloss die Tür so leise und sachte wie sonst nie. Sie sah ihn nicht mehr an, ging in die Küche, schnitt die Brötchen und weinte leise. Er stand wortlos, hilflos, neben ihr und sah zu, wie sie ihre Verzweiflung und Angst in die knusprigen Brötchen sägte.

Sie waren schon so lange verheiratet. Er hatte nicht bedacht, dass sie jede Regung bei ihm fühlte, verstand und aufschlüsselte. Oft genug hatte er das schon mit stillem Staunen bemerkt. Sie hatte die Magenspiegelung nicht vergessen. Er brauchte nichts zu sagen; was noch besprochen werden musste, bedeutete jetzt nichts.

Behutsam legte er den Arm auf ihre zitternden Schultern; und in diesem Augenblick überfielen ihn Angst und Entsetzen so heftig, dass er sich an sie lehnen musste. Sie standen still - lange, unendlich lange; sie hielt das Brotmesser in der verkrampften Hand, legte ihren Kopf an seinen und er spürte ihre kalten Tränen. Das Lied war weg, nur noch Leere in seinem Kopf.

 

 

Das schwarze Loch

Die Luft war warm und würzig, schmeckte nach Tannen und Moos. Die Sonne hatte die Wanderwege im Rothaargebirge getrocknet. Hans und Anne schweiften täglich durch die Wälder des Sauerlandes, fanden immer neue Stellen, an denen sie sich an der Landschaft ergötzen konnten.

Der Weg, der zum Café führte, verlief in Wellen; man kam etwas außer Atem, wenn man schnell ging. Sie nahmen diesen Pfad häufig, freuten sich auf die Obstwiese vor dem Café. Bei dem Sonnenschein konnten sie sicher wieder draußen sitzen und selbst gebackenen Waldbeerkuchen essen.

„Was glaubst du? - Noch drei Wochen?" Hans blieb stehen, fasste Annes Arm und blickte sie fordernd an.

„Was meinst du mit ‚noch drei Wochen'?"

„Dann geht's wieder los, meine ich, dann kann ich endlich wieder anfangen. Ich freue mich wahnsinnig auf die Arbeit. Höchstens vier Wochen - mehr gebe ich mir nicht."

„Ach? So voller Ungeduld? Die Monate zu Hause, nur mit mir, die waren wohl schrecklich für dich? Hast du Sehnsucht nach deiner Sekretärin?"

„Nein, das bestimmt nicht - es war wirklich schön zu Hause. Aber trotzdem! Mir fehlt die Arbeit, ich brauch das einfach."

Sie genossen die Stille, die angefüllt war mit dem Brausen in den Nadelbäume und dem Knacken der Ästchen unter ihren Füßen.

„Ich bin ja auch froh, wenn alles überstanden ist. Wenn alles wieder seinen gewohnten Gang geht. Aber - hast du keine Zweifel? Glaubst du wirklich, dass alles vorbei ist? Du bist noch so schwach. Du siehst aus wie ein wandelndes Gerippe und dann deine - deine Ohnmachtsanfälle. Das ist nicht richtig, Hans."

„Ach was. Ich bin eben noch geschwächt. Was meinst du, was ich zunehme, wenn du mich bekochst."

Vor ihnen öffnete sich der Wald und im Schatten der Kirschbäume standen Tische mit rotweiß karierten Decken. Aus der Tür des blendend weiß gestrichenen Fachwerkhauses strömte der Duft von Waffeln und Kuchen. Sie setzten sich an den vordersten Tisch, fast am Hauseingang.

„Ich bin froh, dass du mitgekommen bist, Anne. Ich würde verrückt, wenn ich in dieser Klinik mit hundert Krebspatienten alleine sein müsste."

„Wie oft hast du das schon gesagt, seitdem wir hier sind?"

„Einundzwanzig mal, mindestens. Jeden Tag einmal. Ich muss dir das immer wieder sagen. Ich bin froh; du bist ein Stück aus meinem normalen Leben."

„Kostet aber auch eine Stange Geld, dieses Stück Normalleben."

„Wie oft hast du das schon gesagt?"

„Einundzwanzig mal, mindestens. Jeden Tag einmal", sagte sie und lachte vor Glück.

 

„Nun, Herr Börger, wie fühlen wir uns?" Der Stationsarzt saß entspannt hinter seinem Schreibtisch. Die langen Beine schauten auf der anderen Seite raus. „Könnte seine Schuhe auch mal besohlen lassen", dachte Hans belustigt. Er war mindestens so entspannt wie der Arzt; noch zwei Tage, dann ging's heim.

„Eigentlich schon ganz gut. Ich könnte wieder arbeiten."

„So, so. Sie könnten wieder arbeiten. Sie wissen, was die periodischen Blutzuckermessungen ergeben haben?"

„Nein, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass Sie die Ursache für meine komischen Anfälle suchen und ich denke, das ist überflüssig; das ist meine allgemeine Schwäche."

„Nein, das ist es nicht. - Es geht um etwas ganz anderes. Sie wissen, dass wir immer einen Bericht an die Bundesversicherungsanstalt abliefern, wenn alle Untersuchungen abgeschlossen sind?"

„Nein, aber wenn Sie's sagen. Geht's um weitere Reha-Maßnahmen? Sie können gleich vermerken, dass mir die eine gereicht hat. Ich brenne drauf, wieder arbeiten zu gehen. Also, die brauchen keine Bange zu haben, dass ich ihnen aufs Portmonee falle; ich bin geheilt."

Der Arzt hörte ihm geduldig zu und nickte wie zur Bestätigung. Hans mochte ihn; er war noch sehr jung, aber seine langsame, bedächtige Art gefiel ihm.

„Das wird da wohl nicht drinstehen. In dem Abschlussbericht wird stehen, dass Sie an einem schweren Dumping-Syndrom leiden. Ihre Blutzuckerwerte spielen mehrmals täglich verrückt. Sie pendeln zwischen 28 und 410! Bei so extrem niedrigen Werten wird man bewusstlos. Verstehen Sie jetzt? Das ist der Grund für ihr Problem."

„Und - ist das ungewöhnlich nach so einer Operation?"

„Das erleidet nur jeder zwanzigste Mensch, dem der Magen weggenommen wird - und Sie sind offensichtlich so ein Zwanzigster. Das kann man nicht wegspritzen wie bei einem Zuckerkranken. Es passiert, weil Ihre Bauchspeicheldrüse die neue Lage nicht verstehen kann. Das ist nicht heilbar und bedeutet Berufsunfähigkeit."

Er verstand nicht. Er sah den Arzt an, wartete auf die Fortsetzung, die mit einem „Aber" oder einem „Allerdings" beginnen konnte. Ganz langsam erst klärte es sich in seinem Kopf und in gleichem Maße wurde ihm schlecht.

„Ich - ich dachte, die ganze Scheiße läg hinter mir? Ich habe geglaubt, ich müsste noch etwas Gewicht zulegen und das wär's dann."

„Nein, leider nicht. Sie müssen damit rechnen, dass Sie Ihr ganzes Leben umstellen müssen. Sie können plötzlich bewusstlos werden. - Wollen Sie damit Auto fahren? Wollen Sie in einer Vortragsveranstaltung umfallen? Wollen Sie das riskieren?"

„Was soll ich antworten?"

„Ich kann das nicht verantworten, die BfA nicht und Ihr Arbeitgeber auch nicht. Sie müssen ständig gegensteuern, durch geeignete Maßnahmen die Tiefstwerte vermeiden. Etwa, indem Sie schnell flüssigen Traubenzucker zuführen, wenn sich die ersten Anzeichen zeigen. Wenn Sie Ihr Problem spüren, ist es längst da. Es gibt keine vorbeugende Behandlungsmöglichkeit."

„Ich glaub' das nicht! Das akzeptiere ich auch nicht! Wissen Sie, wie alt ich bin? Natürlich wissen Sie es. Ich bin Fünfundfünfzig. Und mich schreibt keiner so einfach ab! Keiner! Auch Sie und die BfA nicht. Egal, was Sie für Bestimmungen aus dem Hut zaubern. Schluss!"

„Nein, nicht Schluss. Ich muss das melden. Auch Ihr Arbeitgeber muss sich daran halten. Sie sind nicht arbeitsunfähig - nur berufsunfähig. Verstehen Sie? Da gibt es einen Unterschied. Ihr Arbeitgeber könnte Sie zum Beispiel zu Hause beschäftigen; das Wort Heimarbeitsplatz ist doch in aller Munde."

 

Er ging wie im Traum, fühlte seine Beine nicht und der Kopf schien so leer zu sein, wie damals, als der Grieche ihm die Diagnose genannt hatte.

Anne wartete im Zimmer, bepinselte gerade ihre Fingernägel und strahlte ihn an. Sie freute sich auf die Abreise, wollte schnell wieder zurück in ihren Garten, auf der sonnigen Terrasse frühstücken und mit ihren Nachbarn schwätzen.

„Alles klar? Hat ja ewig gedauert. Vor dem Mittagessen können wir höchstens noch einmal ins Schwimmbad gehen. - He! Du siehst aus wie ein Gespenst. Was ist denn los?"

„Hast du schon mal was von Berufsunfähigkeit gehört?"

„Ja sicher. Du nicht?"

„Ja schon, aber das betrifft doch nur Krüppel oder so."

„Was meinst du damit?"

„Was ich meine? Ich soll berufsunfähig sein! Stell dir vor, Anne, der erzählt mir ganz gelassen, dass es vorbei sei mit meinem Beruf. Die Ärzte hier machen mich zum Krüppel."

„Übertreibe nicht! - Aber ich hab mir so was schon gedacht."

„Was? Wie bitte? Du hast dir schon gedacht, dass ich nicht mehr arbeiten kann? Spinnst du?"

„Na, na! Reg‘ dich nicht auf! Du musst doch auch begriffen haben, dass da was nicht stimmt. Ständig diese komischen Anfälle und Schweißausbrüche. Ich wusste einfach, dass da noch was kommt."

„Das sagst du so locker. Für mich ist gerade die Welt untergegangen, verstehst du? Ich stecke in einem Loch. Holst du mich da raus?", schrie er so laut, dass sie zusammenzuckte.

„Nicht so heftig. Das kannst du nur selber, Hans. Ich versteh ja, dass es nicht leicht für dich ist; aber es ist besser als alles, was in den letzten Monaten war."

„Was in den letzten Monaten war! Das ist vorbei. Ich habe keinen Krebs mehr. Das ist endgültig und damit basta. Warum soll ich nicht wieder normal arbeiten? Soll ich zur Müllabfuhr gehen? Oder vielleicht Werbeprospekte in die Briefkästen schmeißen?".

„Übertreibe nicht! Rede erst mal mit deiner Firma; die werden schon eine Lösung haben."

„Gar nichts werden die! Alles, was ich mir aufgebaut habe, wirfst du so einfach über Bord. ‚Ist doch alles nicht so schlimm.' - Es ist schlimm! Es ist mein Beruf, mein Leben, meine Zufriedenheit, mein Glück. Es funktioniert nicht so, wie du dir das denkst. Ich geh da jedenfalls gegen an." Er zitterte vor Wut - Wut auf sie, die da so locker mit der Hiobsbotschaft umging, als spreche er über eine Nebensächlichkeit.

„Lass uns nach dem Essen spazieren gehen und ganz ruhig alles überdenken, Hans."

„Du begreifst nichts! Essen gehen. Jetzt? Ha! Soll ich dir mal sagen, wie ich mich fühle? Mir ist, als ob ich in ein tausend Meter tiefes Loch gestürzt wäre. Nicht ein Lichtschimmer über mir, nichts. Begreifst du? Ich sitze in dieser tiefen Grube - und du, du erzählst mir hier einen Stuss, als ob's eine Kleinigkeit wäre."

„Hans!"

Er stand auf, ging raus und knallte die Tür hinter sich zu. Er fand den Weg in den Wald, dicht neben dem Bauernhof. Vor der abschüssigen Wiese setzte er sich auf die Bank und betrachtete die Kühe.

Langsam wurde er ruhiger, konnte seine Gedanken ordnen.

„Sie hat gut reden. Was ist denn das Leben ohne meinen Beruf? Es gehört doch alles zusammen; dafür hab ich's doch aufgebaut. Soll ich zu Hause sitzen und Däumchen drehen? Kartoffeln beim Bauern holen? Staubsaugen? Nein! Es muss einen anderen Weg geben."

Er würde es nicht aushalten ohne Aufgaben, ohne Pflichten und Herausforderungen. Jeden Tag den selben armseligen Ablauf? Nie!

„Sie muss das begreifen. Ich brauche sie bei diesem Kampf. Sie muss mich unterstützen. Und das macht sie auch; ich kenne sie doch. Mist! Ich hab' sie behandelt wie ..."

Er ging mit schlechten Gewissen zurück aufs Zimmer. Es war nicht seine Art, sie anzuschreien, wortlos weg zu laufen. Sie saß auf dem Bett und las in einem Krimi.

„Na, hast du dich gefangen?", fragte sie mit ganz normalem Ton, ohne aufzublicken.

„Ich musste an die frische Luft. Sollen wir zum Essen gehen?" Sie schien nicht beleidigt zu sein; er atmete erleichtert auf.

 

 „Ich geh nicht mehr mit dir spazieren, Hans, wenn du dich nicht endlich zusammen reißt. Seitdem wir wieder zu Hause sind, gehst du gebeugt wie ein alter Mann. Geh bitte aufrecht wie sonst - und lass dich nicht so hängen."

„Ja, wenn du's sagst. - Ich mach's nicht extra. Mir ist einfach so; ich fühl mich schlapp, richtig kaputt. Ich kann nicht schlafen; in der letzten Nacht habe ich kein Auge zugemacht."

„Aber so geht das nicht weiter. Du bemitleidest dich, du hängst herum. Du bist jetzt schon so viele Monate zu Hause und körperlich ist doch alles wieder in Ordnung, oder? Was sagt dein Arzt denn? Verheimlichst du mir was?"

„Nein, es wird schon. Weißt du was, wir laden für morgen unsere Nachbarn ein. Du, das ist die Idee! Lass uns mal wieder richtig Spaß haben."

Sie sah ihn ungläubig von der Seite an. Seine Stimmungswechsel nervten sie mehr als alles andere.

„Meinst du das wirklich? Und dann hängst du den ganzen Abend mit einer Trauermiene rum. So war's vor zwei Wochen auch, als unsere Freunde da waren."

„Ich weiß. Aber diesmal nicht; kannst dich drauf verlassen."

„Ich bitte dich trotzdem, noch einmal zum Arzt zu gehen. Der kann dir doch etwas zur Stimmungsaufbesserung geben. Dafür gibt's doch auch homöopathische Medizin."

 

„Das tut uns unendlich leid, Herr Börger - Ihren Mitarbeitern auch, wie ich weiß. Damit haben wir nicht gerechnet. Wir waren fest davon überzeugt, dass Sie nach erfolgter Heilung wieder anfangen können."

„Ich auch. Was glauben Sie, wie mich das getroffen hat. Ich weiß es schon seit der Reha, aber ich wollte es nicht wahrhaben. Ich hab's einfach nicht geglaubt, hab versucht, es zu überwinden. Aber man kann das wohl nicht überwinden - es geht einfach nicht. Ich muss aufgeben."

Sein Bereichsleiter, Dr. Schlüter, und dessen Chef, Professor Krabbe, sahen ihn betrübt an.

„Was machen wir denn, Herr Schlüter? Haben Sie eine Idee?", fragte Professor Krabbe und sah wirklich enttäuscht und ratlos aus.

„Da fällt mir im Augenblick auch nichts ein. - Höchstens ..."

„Nun?"

„Würden Sie denn einen Heimarbeitsplatz akzeptieren, Herr Börger? Wenn wir Ihnen alles mit der neusten Computertechnik einrichten? Wenn wir Ihnen alle Möglichkeiten bieten, die denkbar und technisch machbar sind?"

„Man kann keine Abteilung von zu Hause führen!"

„Nein, das kann man nicht. Sie müssten andere Aufgaben übernehmen. Etwas, worüber ich noch nachdenken muss."

 

Die Spätsommerabende dehnten sich, wollten kein Ende nehmen. Rundum in der Nachbarschaft saßen die Menschen bis weit in die Nachtstunden in den Gärten und auf den Terrassen. Ihr Lachen und übermütiges Geschwätz drang durch die Büsche und Hecken, störte ihn maßlos und machte ihn noch übellauniger.

„Blödes, kindisches Volk! Es gibt keinen Anlass für solche Albernheiten. Die grölen und schreien wegen jedem Mist", dachte er und warf sich auf der Liege hin und her.

Sein Nachbar hatte ihm am Morgen das Buch ‚Der Club der Teufelinnen' geschenkt.

„Lass dich aufmuntern, alter Junge. Du siehst aus, als wenn du etwas Spaß gebrauchen könntest."

Er hatte nur knapp zehn Seiten gelesen und es dann auf den Rasen geworfen; er fand nicht hinein in die Geschichte; es war nichts, womit er sich identifizieren konnte.

„Nimm sie bitte. Wie viele sind es heute schon?" Anne stand vor ihm, streckte ihm ein Glas mit Wasser und eine der Tabletten entgegen, die er seit Wochen nahm.

"Zwei - glaube ich."

"Zwei? ich weiß nicht ... Bist du sicher, dass du das Remergil so oft nehmen darfst? Setz das doch mal ab, bitte! Vielleicht geht es auch so."

„Es geht nicht so. Du warst es doch, die mich zum Griechen geschickt hat. Hast du's vergessen? Ich brauch das. Der hat mir die doch nicht umsonst verschrieben. Was willst du überhaupt? Stören sie dich - oder was?"

„Nein, ich habe Angst, dass du nicht mehr raus kommst aus deinem Loch. Du kannst nicht ewig mit diesen Medikamenten leben. Du hast dich so verändert, seitdem du diese Dinger nimmst."

„Hör auf! Ich nehme sie nicht aus Spaß. Ich habe eine reaktive Depression, sagt der Grieche. Der muss es wissen; immerhin ist er auch noch Seelenklempner. Also hör endlich auf zu mäkeln, Anne!"

Sie ließ sich in den Liegestuhl fallen und presste die Hände vors Gesicht; er hörte ihr betontes Atmen und das unterdrückte Schluchzen; es machte ihn noch wütender.

„Lass das! Dir fehlt doch nichts. Ich bin hier der Patient, verdammt! Vergiss das nicht."

Einen Augenblick hielt er ein, schaute verzweifelt in die Blätter der Blutpflaume, in deren Ästen sich die Amseln tummelten.

„Fred meint auch, du müsstest dich freuen, dass alles so gut ausgegangen ist."

„Die reden alle einen Scheiß daher! Die wissen nichts!"

Sie regten ihn alle auf, alle, die ihn nach seinem Zustand fragten, ihn aufforderten positiv zu denken und dabei mit guten Ratschlägen überhäuften. „Dummschwätzer!", dachte er und nahm Anne davon aus.

„Es wird schon bald wieder, glaub´s mir. Wird alles gut", sagte er in versöhnlichem Ton. „Der Arzt weiß schon, was er macht. Ich verlass mich da drauf."

Er verließ sich wirklich auf den Griechen; seine ruhige und freundliche Art hatten ihn überzeugt.

„Hören Sie, es geht vorüber, wenn die Ursachen verschwunden sind, die Auslöser. Verstehen Sie? Also, nur Mut", hatte der Grieche am Vortag gesagt und noch einmal ein Päckchen von diesem NASSA-Zeugs aufgeschrieben.

„Keiner beseitigt die Ursachen, Herr Doktor. Keiner! Sie auch nicht. Bin ich jetzt geisteskrank? Sie sind doch auch Psychotherapeut, sie müssen es doch wissen."

„Quatsch!" Bei diesem Wort wäre er dem Griechen am liebsten an die Gurgel gesprungen. „Die Depression ist eine Möglichkeit, sich Unerträgliches erträglich zu machen - mehr ist das nicht. Es gibt einen Defekt bei Ihnen und den heilen wir. Machen Sie mit! Sehen Sie die schönen Dinge, die das Leben für Sie bereit hält."

„Schon wieder so ein irrer Ratschlag. Blödmann!", hatte er gedacht, aber das Rezept trotzdem angenommen. „Dieser Grieche. Wenn der plötzlich seinen Beruf aufgeben müsste, dann brauchte der bestimmt auch eine Behandlung."

„Sie haben doch eine neue Aufgabe, sagen Sie. Kommen Sie damit zurecht? Es ist doch fantastisch, was Ihre Firma für Sie macht. Bewerten Sie das richtig?"

„Ach wissen Sie, Herr Doktor. Stellen Sie sich bloß mal vor, Sie müssten Ihre Praxis an einem PC-Arbeitsplatz in Ihrer Wohnung führen. Ginge das? Es würde nicht gehen!"

„Das ist aber auch eine ganz andere Aufgabe; das können Sie nicht vergleichen."

„Da bin ich nicht sicher."

 

Trotzdem

Sein Büro sah fast so aus wie früher in der Firma. PC, Drucker, Scanner, Videokamera, Mikrofon. Alles war auf neuestem Stand. Eine Standverbindung gewährleistete den schnellen, direkten Kontakt mit allen wichtigen Stellen in der Firma. Mit der Kamera, die er über den PC steuern konnte, wählte er seine Gesprächspartner, konnte sich in die Geschäftsstellen nach Japan oder Amerika und natürlich in die Besprechungsräume seiner Firma einwählen.

 Die Aufgaben waren nicht so schlecht. Eine Art Strategiestelle hatte man erfunden. Er sollte DV-Konzepte entwickeln, Realisierungen kontrollieren und Bewertungen erstellen. Er konnte sich die Arbeitszeit einteilen, wie er wollte - niemand überwachte ihn.

„Du sitzt hier vor deinen Geräten, als wolltest du sie aus dem Fenster werfen", sagte Anne, während sie die Blumen goss.

„Ja, da bin ich nicht so weit von weg. Sie haben mir in das Loch einen Fernseher gestellt, damit ich die Außenwelt sehen und beneiden kann. - Aber ich sitze immer noch in diesem stickigen Loch - ewig und drei Tage!"

„Komm, lass uns ein Stück spazieren gehen, damit du aus deinem Loch raus kommst."

„Lass mich! Das ist kein Scherz. Wenn's so einfach wäre, wie du dir das vorstellst. Ich mache das jetzt seit drei Monaten und der Frust reicht mir inzwischen bis hier." Er zeigte auf seinen Hals und sah sie bitter an. „Ich mach das nicht länger. Ich nehme das Angebot zur Frühpensionierung an."

„Das hast du dir gerade überlegt?"

„Nein, das ist genau so lange gewachsen, wie ich hier hocke und jetzt ist es reif. Ich lasse mir beim Schlüter für morgen einen Termin geben."

„Und das Geld? Das wird drastisch weniger sein als jetzt. Und - was willst du in deiner neuen Freizeit machen? Dann kommst du erst recht nicht mehr aus deinem Loch raus. Du bist gerade Sechsundfünfzig geworden."

„Eben! Und schon am Ende. Ich kann nicht mehr. Mir ist elend, wenn ich morgens aufstehe und ich hasse jeden Tag. Ich hasse alles, was ich hier mache. Blöde Gutachten, dämliche Bewertungen. Die lächeln doch über mich in der Firma; für die bin ich doch nur ein Sozialfall, den man mit größtem Zuvorkommen durchziehen muss. Die pfeffern das doch in den Papierkorb, was ich mache."

„Sie sind dankbar für das, was du geleistet hast."

„Ableisten von Dankbarkeit! Ich hasse Dankbarkeit! So ist das und nicht anders. Verstehst du? Ich mach das nicht länger. Ich bin nicht ihr kleiner Sozialfall. Ich lasse denen das verständnisvolle, gutmütige Lächeln nicht."

„Ich glaube, das bildest du dir nur ein."

„Egal. Ich geh vor die Hunde. Du hast keine Ahnung, was ich durchmache. Ich sitze vor dieser Kiste und da draußen ist die Welt; da sind die Leute, reden miteinander, arbeiten gemeinsam. Wenn sie ein Problem haben, schnappen sie sich die Kaffeetasse und gehen mal eben ins Nachbarbüro; sie treffen sich in der Kantine, verabreden sich und sind einfach mitten drin. Ich bin weg, ganz weit weg. Es geht nicht mehr! Ich unterschreibe den Aufhebungsvertrag und gehe in den Frühruhestand"

„Was - was willst du dann machen? Hast du eine Vorstellung?"

„Nein - noch nicht. Nur eines ist klar, ich muss was ändern. Irgendwas finde ich. Irgendwas."

„Ja, das wirst du sicher. Nur - es wird schwer. Du musst selber wollen. Kämpf dich raus aus deinem Scheißloch! - Und lass endlich die Antidepressivadinger weg."

 

„Kann ich dir nicht helfen? Ich bin eine gute Fotografin. Wir können doch als Team arbeiten, oder? Du schreibst und ich fotografiere. Was meinst du?"

Er nickte zögernd; sie spürte seine Bedenken, die er nie zugeben würde.

„Gut, versuchen wir's."

Seit einigen Wochen arbeitete er als Journalist für die Lokalzeitung, stürzte sich wie verbissen in die neue Arbeit. Anne begleitete ihn oft und fuhr den Wagen. So hatte er Zeit, sich auf seine eigentliche Arbeit zu konzentrieren.

„Die Arbeit macht mir Spaß. Ich komm langsam rein."

„Du achtest zu wenig auf dich. Ich muss dich behüten wie ein Baby."

„Jawohl! Ich bin dein Baby. Pass gut auf!", sagte er lachend. Er nahm es nicht ernst, war glücklich mit seinen neuen Aufgaben.

„Ich hab's geschafft! Die beschissene Krankheit hat mich nicht geschafft - ich hab' sie geschafft! Obwohl ich fast keine Chance hatte."

Tatsächlich waren seine Artikel für die Wochenzeitung und ein Monatsjournal begehrt. Und irgendwann fing er an, kleine Geschichten zu schreiben, fand Spaß an der neuen Herausforderung.

„Das ist anders, als wenn du einen Zeitungsartikel schreibst. Dabei darfst du fantasieren - du musst sogar. Es dauert, bis ich es kann, aber ich habe ein neues Ziel!".

 

Sie gingen über die Rheinwiesen, dicht unterhalb des mächtigen Deiches.

„Weißt du, worauf ich mich freue?"

„Nein", sagte sie pflichtbewusst. Er fragte das jeden Tag, musste diese Formel abrufen, sich selbst bestätigen, dass es endlich geschafft war.

„Dass ich morgen nicht in die Firma muss!", rief er lachend, drehte sie um und küsste sie. „Ich freu' mich auf unser gemeinsames Frühstück, aufs Zeitungslesen, auf die Spaziergänge, auf die - und auf meine neue Arbeit."

„Wann hast du das zuletzt festgestellt?"

„Gestern! Und vorgestern und vorvorgestern und ..."

„Genau! Hört das denn nie auf? Du gewöhnst dich doch hoffentlich langsam an dein neues Leben, oder?"

„Nie! Ich will es jeden Tag genießen."

„Was hast du heute vor?"

„Ich möchte meine Geschichte abschließen; sie hat mich mehr beschäftigt als alles, was ich bisher gemacht habe."

„Was ist es? Wie heißt sie?"

„Weiß ich noch nicht. Titel fallen mir oft erst ganz zum Schluss ein. Also - ich schreibe über mich, über uns, über meine Krankheit - meine frühere Krankheit."

„Oh! Komm ich auch vor?"

„Du bist die Hauptperson!"

„Ach ja? Du scherzt! Mach mich nicht ganz so schlecht, hörst du? Und wann können wir zusammen nach Köln fahren? Ich möchte zum Gonski, endlich mal wieder in den Bücherstapeln stöbern und einen Cappuccino trinken."

„Morgen, morgen liegt nichts an."