Weihnachten 1944
Erinnerungen
„Weihnachten ist für uns Christen etwas Besonderes.
Wenn die Welt untergeht und rundum das Chaos herrscht, werden wir unser Weihnachten
doch noch feiern", sagte Opa am Heiligen Abend.
Er stand auf dem alten Werkstattstuhl und schmückte
den zimmerhohen Tannenbaum. Es war kalt im guten Wohnzimmer und deshalb hatte
Fred seine dicke Jacke angezogen. Die Fenster waren mit schweren Rollos
verschlossen, damit kein Lichtschimmer von Draußen zu sehen war. Wenn das Licht
angemacht wurde, ging Opa ums Haus herum und schaute nach.
„Verdunkelung muss man ernst nehmen, Fred. Du weißt,
dass unsere Feinde nachts von da oben schauen wo Licht ist. Genau da schmeißen
sie Ihre Bomben hin."
Er saß auf der Chaiselongue und schaute aufmerksam
zu. So ein Ding stand auch im gewöhnlichen Wohnzimmer, dem täglichen, aber zu
dem durfte man ‚Sofa' sagen. Zu diesem nicht. Ins gewöhnliche Wohnzimmer durfte
man immer, wann man wollte; ins gute Wohnzimmer nicht.
„Die Chaiselongue war sehr, sehr teuer. Und sie ist
etwas Besonderes", hatte Oma zu ihm gesagt. „Deshalb nennen wir das nicht Sofa,
sondern Chaiselongue. Das macht was, das hört sich so teuer an wie es war."
Es war das erste Mal, dass er dabei sein durfte.
Früher hatten sie erzählt, das Christkind würde den Baum schmücken. Das war
vorbei; er wusste jetzt, dass alles von Oma und Opa gemacht wurde, was
Weihnachten passierte.
Stück für Stück verwandelte sich der Tannenbaum zum
Weihnachtsbaum. Auf der abgeschnittenen Spitze hockte schon der rotweiße Engel
mit dem kostbaren Brokatkleid und besah sich fortan gemeinsam mit Fred diese
Wandlung. Es folgten silbrigweiße Glaskugeln, die wie Seifenblasen aussahen.
Sie waren rund oder auch an einer Seite nach innen gewölbt und dort fein
ziseliert, mit weißem Pulver bestreut.
„Die sind alle aus Glas. Wenn ich sie feste drücke,
platzen sie; wenn eine runter fällt, gibt's Scherben - und Schimpfe von Oma.
Oma hängt an ihnen; sie hat sie mit in die Ehe gebracht", erklärte Opa. „Also
hüte dich und fass sie nie an."
Tat er nicht; Omas Schimpfe war ziemlich schlecht zu
ertragen. Nun mussten silbrig angestrichene Glöckchen aus Glas befestigt
werden; die weißen Streusel auf der Oberfläche sahen aus wie Raureif. Opa schälte
silbrige Vögel, mit einem Schwanz aus buschig abstehenden weißen Borsten aus
dem Pappkarton; fünf solcher Vögel verteilte er im Baum.
„Die singen immer das Lied ‚Ihr Kinderlein kommet' -
aber so leise, dass es nur das Christkind hören kann", sagte Opa.
Fred beobachtete die Vögel, die auf den dünnen Zweigen
wippten. „Opa! Ich bin doch kein kleiner Junge mehr. Das stimmt gar nicht."
„Na ja; muss ich wohl erst noch lernen, dass du
schon fast erwachsen bist. Im letzten Jahr hast du's noch geglaubt und dein Ohr
dran gehalten."
Er warf silbern glänzendes Lametta in dicken
Strängen auf die Zweige. Fred wollte auch mal und durfte einige der glitzernden
Streifen auf die untersten Äste werfen. Zum Schluss wurden die Klemmen für die
Kerzen angebracht, die im Vorjahr nicht völlig abgebrannt waren. Sie mussten
für dieses Jahr noch reichen; es gab keine mehr zu kaufen.
„Eine beschissene Zeit, Fred. Ähm. Ein schlechte,
wollte ich sagen. - Jetzt kommt das Wichtigste. Komm, du musst mir helfen."
Sie zogen gemeinsam die schwere Krippe unter den
Baum.
„Jetzt muss nur noch einer deiner Onkel oder dein
Papa Heimaturlaub bekommen, dann wird das Fest wirklich schön", sagte Opa, aber
sehr hoffnungsvoll klang seine Stimme nicht.
Am ersten Weihnachtstag gingen sie morgens um sieben
Uhr in die Christmette. Er hielt sich an Opas Hand fest; die Straße war
rutschig. Leichter Eisregen hatte eine spiegelglatte Fläche geschaffen, auf die
jetzt pulveriger Schnee fiel. Der Mond hatte sich hinter tief hängenden Wolken
versteckt. Die Straße war sehr dunkel; keine Laterne brannte, nirgendwo war ein
Licht im Dorf - es war totenstill, nur ihre Schritte knirschten im trockenen
Schnee.
„Glockengeläut gibt es schon lange nicht mehr",
sagte Opa. „Früher riefen die Glocken uns täglich zur Messe. Sie hatten Namen:
Marianne, Magdalena, Cäcilia und Regula."
„Richtige Namen! Wie Fred und so. Komisch."
„Nicht komisch. Waren den Heiligen geweiht. Weißt
du, das war sehr feierlich, wenn alle vier großen Glocken geläutet haben. Die
ganze Luft war voller Musik. Du wolltest am liebsten mit den Glocken singen.
Irgendwann wird das wieder so sein, warte nur, Fred."
„Ich glaube, ich hab sie noch nie gehört",
antwortete er. „Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie das ist, wie sich das
anhört. Warum läuten sie nicht mehr, Opa? Dürfen sie nicht, weil Krieg ist?"
„Ja, weil Krieg ist. Sie sind nicht mehr da. Nichts
hängt mehr da oben im Glockenturm. Man hat sie geholt, um Kanonen und Bomben
daraus zu bauen."
„Blöd! Finde ich nicht gut! - Wie singen denn
Glocken?"
„Mein Gott, wie beschreibe ich einem, der nie
Glocken gehört hat, ihren Klang? Das ist wie das Läuten unserer kleinen
Glasglocken am Weihnachtsbaum, nur viel lauter und noch schöner."
„Ich will, dass der Krieg vorbei ist! Warum muss der
so lange dauern? Krieg ist blöde. - Aber noch blöder ist, dass die sogar die
Glocken geklaut haben. Das ist Kacke!"
„Jau", sagte Opa, „geklaut ist das richtige Wort. Und
Kacke durftest du diesmal dazu sagen - ausnahmsweise. Es ist eine Schande.
Glocken, die zum friedlichen Gottesdienst gerufen haben, müssen jetzt
mithelfen, Menschen zu töten."
Einmal rutschte Fred auf dem Blaubasalt aus und Opa musste
ihn auffangen. Fred fühlte sich eigentümlich sicher und wohl; Opa war sein
Zuhause. Ihm konnte nichts passieren, wenn Opa da war, keiner würde ihm was tun
- da war er sich sicher; auch nicht dieses Ungeheure, die Sirene, die nachts so
oft heulte und auch nicht diese Flieger, die Bomben abwarfen, wenn sie Lichter
sahen.
Es war kalt in der Kirche. St. Andreas hatte schon
während des ganzen Winters keine Kohlen mehr zugeteilt bekommen.
„Die wollen nicht, dass wir die Predigt von Pfarrer
Schnell hören, weißt du. Darum soll es kalt sein in der Kirche, Und sie
scheinen Erfolg damit zu haben; manchen ist es schon zu kalt - oder zu
gefährlich - sie gehen nicht mehr hin. So viele leere Bänke hat es noch nie
gegeben", hatte Opa in der letzten Woche erklärt, als Fred sich über die Kälte
in der Kirche beklagt hatte.
„Sag das bloß nicht laut, Bernhard. Und außerdem
fehlen ja auch die Männer, die eingezogen sind. Darum ist es leer", hatte Oma ihn
ermahnt.
„Und auf der Seite der Frauen? Sind die etwa auch
eingezogen worden, Gertrud?", hatte Opa gefragt.
Fred sah den Atem der Menschen und probierte
Wolkenformen, indem er die Lippen spitzte. Er war heute erstmals auf der Männerseite,
gemeinsam mit Opa. Der Gottesdienst gefiel ihm, vor allen Dingen mochte er die
schönen Melodien der Weihnachtslieder. Als ‚Zu Bethlehem geboren', gesungen
wurde, sang er einfach mit; weder Text noch Melodie hatten etwas mit dem
Original gemeinsam. Das brachte ihm strafende Blicke der umstehenden Männer und
ein Lächeln von Opa ein.
„Dominus vobiscum. - Et cum
spiritu tuo. Benedicat vos omnipotens Deus, Pater, et Filius, et
Spiritus Sanctus. - Amen. Ite, missa est. - Deo gratias."
„Gehet hin in Frieden? In welchen? Wo ist der?"
sagte Opa leise und seine Stimme zitterte.
Mit Drängen, Schubsen und Schieben bewegten sich die
Männer zur Seitentür, als der Pfarrer und die Messdiener die Kirche verlassen
hatten.
Während Opa eine Schaufel glühender Kohlen aus dem
Küchenherd ins gute Wohnzimmer trug wurde das Frühstück vorbereitet. Sie saßen
am Küchentisch, aßen selbstgebackenes Brot mit Rübenkraut, das Oma im Herbst im
großen Waschkessel aus Rübenschnitzeln hergestellt hatte. Nur Opa hatte sich
ein Stück Blutwurst aufgelegt - er mochte kein Rübenkraut - und aß lieber Wurst
vom selbstgeschlachteten Schwein.
Als Opa zurück kam, sagte er: „Pass auf Fred. Wenn
das Christkind kommt, bringt es bestimmt Geschenke mit."
„Wann kommt es denn?", fragte Fred, weil er das
Spiel der Erwachsenen nicht kaputt machen wollte.
„Das weiß man nicht so genau; wir werden es aber
hören. Wenn es klingelt, dann ist es so weit", sagte Opa mit leiser Stimme, die
geheimnisvoll klingen sollte.
Oma und Mama nickten ihre Zustimmung zu der
Erklärung und Oma zog einen Brief aus der Schürzentasche. „Von Theo! Ist gestern
gekommen, Hat lange gebraucht von Russland bis in unser Dorf."
„Glaub nicht, dass unsere noch in Russland sind. Die
sagen ja nichts, aber was man so hört. Die sollen doch schon vor Berlin stehen,
die Russen", sagte Freds Mama und er dachte, dass sie dann sicher bald auch
nach Berndorf kommen würden, diese Russen oder wie die hießen.„Muss noch mal nach den Kohlen sehen", murmelte Opa
und ging raus. Kurz danach klingelte es unüberhörbar.„Da! Das Christkind war da", sagte Fred und sprang
vom Stuhl.
Die Kerzen am Baum flackerten, als er die Tür zum
Wohnzimmer öffnete. Das Lametta glitzerte, in den silbrig glänzenden Kugeln
spiegelten sich die Kerzenflammen und es roch nach Wald im guten Wohnzimmer; Opa
- oder das Christkind? - hatte Tannenzweige in den Ofen gesteckt.
Auf Freds Rücken war ein Kribbeln, ein wohliger
Schauer. Es war eben doch Weihnachten und alles war geheimnisvoll. Egal wer da
geklingelt hatte.
Unter dem Weihnachtsbaum lagen die Geschenke des
Christkinds. Oma hob sie hoch, betrachtete jedes Teil kurz und reichte es
weiter. Für die Erwachsenen gab es nur was zum Anziehen, selbstgenähte oder
selbstgestrickte Sachen; Fausthandschuhe, Schals und Kittel.
Fred bekam Fäustlinge aus roter Wolle und eine
braune Hose, deren Stoff aussah wie der von Opas abgelegter Sonntagshose, die
am Hosenboden dünn geworden war. Oma hielt ihm einen rotgelb gestrichenen
Lastwagen aus Holz hin. „Das hat Opa für dich beim Christkind bestellt. Ist das
nicht schön?"
Fred nickte, er hatte Opa beobachtet, als der den
Wagen angestrichen hatte. Warum die Erwachsenen das Weihnachtsspiel so ernst
nahmen, blieb ihm ein Rätsel. Aber er spielte es trotzdem mit; für nichts in
der Welt hätte er auf so einen Abend verzichtet.
„Hoffentlich kommen die Bomben nicht jetzt, wo es so
schön ist", sagte er und die Erwachsenen nickten.
„Kindermund!", sagte Opa mit düsterer Stimme.
„Schlimm, wenn in diesen Stunden schon die Jüngsten
solche Sorgen haben", sagte Oma und Opa strich ihm über die Stachelhaare.
Fred fühlte ein richtiges Glück. Die Zeit, bevor sie
‚Stille Nacht, Heilige Nacht' sangen, war so wunderbar ruhig; sie sollte nie zu
Ende gehen. Er legte sich vor der Krippe auf den Bauch und betrachtete die in
der Bewegung erstarrten Figuren.
„Jetzt lese ich den Brief von Theo vor", verkündete
Oma, zog ihn aus dem Umschlag und las mit stockender Stimme vor. Fred lauschte
angestrengt, verstand nicht alles, aber dass sein Onkel kalte Zehen hatte,
immer frieren musste und dass sie die Russen bald besiegen würden, das behielt
er.
Es war still, als Oma fertig war mit Lesen. Nur im
Ofen knisterte es hin und wieder. Sie saßen noch lange im guten Wohnzimmer, bis
Opa besorgt die Kerzen betrachtete.
„Ich muss sie ausmachen. Wir müssen sparsam damit
umgehen. Wir wollen sie doch noch bis Mariä Lichtmess benutzen."
Der Duft der erloschenen Kerzen verbreitete sich im ganzen
Raum, gab allem einen neuen, feierlichen Charakter - aber nur für einen Augenblick.
„Wie in der Kirche", dachte er, weil er den Geruch
nach Kerzen und Weihrauch wunderbar fand.
Aber dann zog Opa Bernhard die Verdunkelungsrollos
hoch, damit das schneegraue Licht der Nacht in den Raum fiel. Die schöne
Stimmung flog weg; der Baum stand schwarz in der Ecke.
Weihnachten war schon vorüber.