„Hier kannst du verrecken, ohne dass dich einer findet. Echt, hier findet dich kein Schwein, nicht in einem Jahrhundert.“
Er hasste Wald und alles was dazu gehörte. Und zu Fuß gehen auch. Was er nicht mit seinem Auto erreichen konnte, das mied er. Er atmete tief durch und bog die Brennnesseln vorsichtig mit dem Fuß weg. Sie hingen tief über dem schmalen Fußweg, der leicht gewunden durch den Wald führte. Er hörte nicht, dass über seinem Kopf Vögel zirpten, wie in einem Wettstreit miteinander schilpten und zwitscherten. Natur war schrecklich und eigentlich unnötig.
„Sauwald! Scheiße! Hier ist schon ewig keiner gegangen. Wie sind die bloß ans Ziel gekommen?“
Schon seit gut einer Stunde lief er durch diesen Wald, der sich ständig in Bewuchs, Dichte und Art veränderten. Über ihm rauschte es gleichmäßig; der steife Südwind orgelte durch die Kiefernwipfel, ließ die Nadeln singen. Der Waldboden federte; Schritte waren fast unhörbar.
Seine flache Brust hob und senkte sich schnell. Der Schweiß lief ihm unter den Achseln weg, nässte das Hemd und versickerte im Hosenbund.
Das Laufen machte ihm Probleme. Er war zwar noch jung, hatte gerade mit dem sechsten Semester des Soziologie-Studiums begonnen, aber er besaß die Kondition eines Kettenrauchers, wie seine Kommilitonen spöttisch bemerkten.
„Wozu brauche ich Muskeln?“, fragte er heftig zurück, wenn man ihn wegen seiner dürren Gestalt hänselte. „Für´s Sitzen brauch ich keine Kondition, ich hab meine Kondition im Kopf – und davon ‘ne Menge!“
„Sport ist was für geistig verarmte Menschen, mein Junge!“, hatte seine Mama ihn getröstet, als er im Gymnasium ein „Mangelhaft“ im Fach Sport bekommen hatte.
„Mama!“, dachte er. „Wenn du mich hier sehen könntest, du fielst glatt ihn Ohnmacht.“
Das hier, das war mehr, als er sonst im ganzen Jahr tat. Ach was, mehr als in seinem ganzen Leben. Er war schon in der Morgendämmerung losgefahren, hatte seine ‚Rostlaube’, wie die Kommilitonen seinen uralten VW nannten, im letzten Dorf vor dem Wald abgestellt.
Kein Mensch war ihm auf den gewundenen Straßen begegnet; hinter leicht bewegten Gardinen hatte er allerdings Beobachter entdeckt, die ihn, den Fremden, abwägend und misstrauisch betrachteten.
Suchend drehte er den Kopf, der auf einem dürren Oberkörper saß. Das schüttere Blondhaar klebte fransig in der Stirn. Glitzernde Schweißtropfen liefen von seinem Gesicht in einen zittrigen Ziegenbart.

Er musste sich beeilen, wenn er um zwölf Uhr am Ziel sein wollte. So lautete jedenfalls die ultimative Forderung des Professors.
Der Professor! Wer mochte dieser Mann sein, der ihn ausgewählt hatte, der ihn für geeignet hielt? Was mochte ihn so beeindruckt haben?
„Wahrscheinlich war es meine letzte Story – auf die hat er sich ja schließlich bezogen“, dachte er und trat wütend gegen einen knorrigen Knüppel, der ihm den Weg versperrte.
So ganz hatte er den Sinn dieses ‚Events’, das Auswahlverfahren und die genau vorgeschriebene Vorgehensweise nicht verstanden.
„Ist ja auch egal!“, dachte er und schob alle Bedenken an die Seite. „Meine letzte Story! Mann war die gut. Und was für eine Reaktion hat’s darauf gegeben. Diese Stubenhocker und Bedenkenträger. Diese Weicheier, Warmduscher und Märchen-Schreiberlinge. – Was hab ich die geschockt.“
Er kannte die Story auswendig, konnte die harten Szenen vor seinem inneren Auge wie einen Film ablaufen lassen.
„Hab aber auch was reingeschoben. Mann, oh Mann!“
‚Das Grauen der Nacht’, hatte er sie genannt. Harmlos angefangen, hatte sie – das machte er immer so, verlockte die Sensibelchen zum Weiterlesen. Aber dann! Zeile für Zeile – ein Schock nach dem anderen.
„Da hat euch rabbit666 wieder mal was zum Verdauen gegeben!“, dachte er und lächelte bei dem Gedanken an seine literarischen Leistungen.
„Rabbit666! Ein irres Pseudonym. War eine geniale Idee. Kein Schwein weiß, wer ich wirklich bin. Kann schreiben, was ich will, was ich denke und fühle. Gut, dass man anonym bleiben kann im Internet. Erwin Kleinschmidt klingt ja auch zu blöd. Rabbit666 ist ein einprägsamer Künstlername“, hatte er entschieden.
Überhaupt, wenn er seiner Mutter was verübelte, dann das. Ihn Erwin zu nennen! Bescheuert! Und Kleinschmidt? „Hätte auch nicht sein müssen“, hatte er resignierend geseufzt und sich geschworen, den Makel so bald es ging abzulegen.
Rabbit666 war ein Hit, ein Markenzeichen. Keine Story ohne Blut, ohne detaillierte Beschreibung von Gewalt in jeder Form. Früher, bevor er ins Internet rein konnte, hatte er in Schulhefte geschrieben, hatte sich grausige Bilder ausgedacht – und gemalt; die Farbe Rot war ständig aufgebraucht. Die Sachen hatte er hinter den alten Büchern verstecken müssen; Mama war sehr streng – auch heute noch.
Im Bewusstsein, dass er schließlich nicht irgendwer war und beileibe nicht einen Hampelmann mit sich machen lassen würde, schrie er laut: „Hallo!“
Als nichts zurück kam als Vogelgezwitscher, legte er die Hände an den Mund, formte einen Trichter und brüllte: „He, ihr Scheißaffen! Hallo!“
Nichts, außer den Waldgeräuschen, die ihn langsam verrückt machten.
Er stampfte einmal mit dem linken Fuß auf und schlich weiter. „Mensch, Mama“, dachte er und sah ihr strenges Gesicht, die wütend forschenden Augen.
„Ja“, dachte er, „der entging nie was. Die hier, oh Mann, das gäbe ein Gezeter.“
Sie putzte fast täglich seinen Schreibtisch, er wusste genau, dass sie alles las, was da rum lag. Sogar die Schreibtischfächer und seine Aktentasche durchwühlte sie.
„Meine Alte passt auf wie ein Schießhund“, hatte er dem Videoverleiher erklärt, als der sich wunderte, dass er die Leihvideos immer in eine Hülle steckte, die eigentlich zum Film ‚Frau Holle’ gehörte.
„Aber ins Internet, da kommt sie nicht rein, davon hat sie zum Glück keine Ahnung. Und mit dem Pseudonym rabbit666 kann sie eh nichts anfangen“, dachte er und hoffte, dass das immer so bleiben würde.
„Mach nur nichts mit diesem Sexzeugs, Junge, sonst ist mir alles egal. Man hört so viel von diesem schrecklichen Schweinkram, den es da in diesem Dings, diesem – äh – im Internat gibt“, hatte sie gesagt. „Sonst muss ich dir das da wegnehmen.“
Dabei hatte sie mit Abscheu und Widerwillen den Bildschirm angesehen, als ob der an all dem Internet-Elend schuld sei. Er hatte sie nicht korrigiert. Es war doch egal, was sie dazu sagte.
Heute war er wer bei den Freaks. Jetzt las die ganze Welt seine Geschichten; er war wirklich wer in diesem Geschäft – er war stark und mächtig. Wer wollte ihm vorschreiben, was er schreiben sollte? Etwa diese Bedenkenträger? Bloß gut, dass es Literaturportale gab, die seine Geschichten bedenkenlos aufnahmen und jede Zensur ängstlich vermieden.
„Meine Fantasie ist beispiellos. Das hat dieser ominöse Professor in der letzten Geschichte wohl auch erkannt. Wie mein Protagonist, dieser Shock die Weiber auf den Boden wirft, sie mit dem Messer aufschneidet! Hat vielleicht schon mal einer besser beschrieben, wie sich das anhört, wenn das Messer … Wohl kaum. Ihre Schreie! Ich kann´s eben realistisch beschreiben – und wer kann das schon? Und dann das Blut! Ich hab´s nur so strömen lassen. Die haben so viel Blut drin gehabt, dass es noch in der letzten Zeile wie wild auf den Boden tropfte. – Ha, ha! Ja, das ist moderne Literatur. Hart ist das Leben, und das muss man auch hart beschreiben – Blödmänner, die das nicht begreifen wollen.“
Das Gebüsch wurde dichter, verstellte ihm den Weg. Dornen rissen an seinem Hemd, kratzten auf seinem Handrücken.
Er seufzte. Was tat man nicht alles für die Literatur! Wenn diese Schreiberlinge wüssten, dass er eine Einladung von Professor Apparent bekommen hatte.
„Geil“, dachte er. „Das ist ’ne echt klasse Auszeichnung.“
Er hatte zwar noch nie von diesem Literaturfachmann gehört, aber das musste nichts heißen. Es gab so viele Könner im Netz.
„Einladung zum ersten Treffen des Arbeitskreises Moderne Literaten“, stand quer über dem Blatt.
„Hallo, rabbit666, wir brauchen dich in diesem Kreis. Deine brutalen und realitätsnahen Erzählungen, nicht zuletzt die Geschichten ‚Nacht des Grauens’, und ‚Shock’ haben uns auf dich aufmerksam gemacht.“
Man wolle wortgewaltige Autoren zusammenrufen, die in der Lage wären, auch harte – sehr harte – Geschichten zu schreiben. Sie sollten bei einem speziellen ‚Event’ Eindrücke sammeln und daraus eine Geschichte entwickeln – mit allen blutigen und brutalen Einzelheiten.
Es würde barbarisch zugehen – also nichts für schwache Nerven. Und die Abläufe bei diesem Treffen waren zu beschreiben und möglichst fantasiereich zu ergänzen. Die beste Geschichte würde prämiert, bekäme eine international anerkannte Auszeichnung. Man habe natürlich nur die besten Literaten dazu eingeladen; die Teilnehmer müssten sich also anstrengen und ihr Bestes geben.
„Ich gebe mein Bestes. Könnt euch auf rabbit666 verlassen. Ich bin der Beste!“
Sie hatten ihm einen Anreiseplan geschickt, der Zeit und Ort mit genau beschriebenen Wegemarken enthielt. Treffpunkt war „Das einsame Haus“.

„Warum muss das Treffen in dieser beschissenen Wildnis stattfinden? Wahrscheinlich gehört das zu dem angekündigten Ereignis. Ist wohl noch geheimer als geheim. Mann, hoffentlich find ich hier jemals wieder raus.“
Der Schweiß lief von seiner Stirn, die Haut juckte zum Verrücktwerden, die Haare klebten am Kopf. Je höher die Sonne stieg, desto heißer wurde es. Sogar hier im Schatten der Bäume war die Luft unerträglich dumpf. Erschöpft blieb er stehen, lehnte sich an einen Baumstamm. Als er merkte, dass seine Beine zitterten und die Fußsohlen brannten, hob er abwechselnd die Füße hoch, um sie zu entlasten.
Er schaute den Pfad entlang. Weiter hinten, da, wo die flirrende Sonne das Gras einer kleine Waldschneise aufleuchten ließ, da war es! Am Rand der Lichtung konnte er drei knorrige Kiefern erkennen, die dicht neben drei weißschorfigen Birken standen.
„Die Marke aus dem Plan! Mann! Die hab ich seit zwanzig Minuten gesucht. Jetzt kann´s nicht mehr weit sein“, sagte er leise und fühlte sich nicht mehr ganz so beschissen.
Er seufzte erleichtert und zog ein mehrfach gefaltetes Papier aus der Brusttasche des Hemdes.
Nach einem kurzen Blick auf das fleckige Papier ging er langsam weiter. Hinter der Lichtung begann ein schmaler Fußweg, der im wuchernden Grün kaum erkennbar war. Gut eine viertel Stunde arbeitete er sich durch niedriges Gebüsch und erreichte die nächste Wegmarke – einen bröseligen Baumstumpf, wohl einen Meter hoch.
Hier gab es lockeren Mischwald aus Birken, Eichen und Buchen, und dazwischen wuchsen Brombeerbüsche und Brennnesseln. Auch hier gab es nur einen völlig verwilderten Fußweg, keine sonstigen Markierungen.
Er holte noch einmal den Plan heraus, der an dieser Stelle einen geraden Strich bis mitten in den Wald aufzeigte. An der Stelle, an der die Handeintragung endete, stand fett: „Das einsame Haus“. Sonst gab der Plan nichts her.
Er stiefelte los, verkratzte sich Hände und Arme; lose hängende Zweige schlugen in sein Gesicht. Mit jedem Schritt wurde er wütender – und unsicherer.
„Bin ich hier wirklich richtig? Oder ist das Ganze vielleicht ein Idiotenspaß, will mich einer herein legen? Kommilitonen vielleicht? Ist das eine Falle?“
In seinen Ohren brauste es; er vernahm schallendes Gelächter, spitze Schreie und dumpfes Grölen. „Haben wir dich reingelegt, du Angeber, du Milchgesicht? Rabitt666? Ha, ha!“
Er blieb stehen, starr vor Schreck, lauschte angestrengt. Nur ein paar dünne Vogelstimmen – etwas weiter weg – waren zu hören und über ihm rauschten die Blätter gleichmäßig.
„Verdammt, verdammt! Ich fang schon an zu spinnen. Wenn das hier Scheiße ist, dann kann dieser Professor Apparent was erleben – oder wer sonst dahinter steckt. Ich krieg raus, wer das ist!“

Die kleine grasbewachsene Lichtung sah aus, wie die zuvor passierte. Nur, dass an ihrem Ende tatsächlich so etwas wie ein Haus stand.
„Haus! Ha!“, dachte er voller Zweifel.
Dabei hätte er die Lichtung fast verpasst, denn an einer Abzweigung des Pfades war er ohne Nachdenken auf dem etwas breiteren Weg weiter gegangen und nur, weil er einem Häher nachgeschaut hatte, war ihm der kleine Trampelpfad aufgefallen.
„Ha, ha! Dass ich nicht lache. ‚Das einsame Haus’! Haus nennen die das! Bruchbude würde ich das Ding nennen“, murmelte er.
Das Dach war mit verwitterten, grauweißen und windzerzausten Holzschindeln bedeckt, die kaum noch einen Nieselregen abhalten konnten. Die Wände bestanden aus grob geschnittenen Holzbrettern mit fingerdicken Fugen und hundert Astlöchern. Das einzige Fenster war kreuz und quer mit Brettern vernagelt, alles war ohne Farbe, grau und schmuddelig. Die schmale, sehr niedrige Tür ohne Klinke wirkte keineswegs einladend. Einen noblen Gasthof hatte er erwartet. Personal. Reklameschilder, weiße Stühle und Tische im Sonnenschein, an dem Leute entspannt ihr Bier tranken.
„Scheiße! Nix ist’s mit einem kühlen Bier, oder? Uralt sieht der Mist aus“, murrte er. „Das ist doch bloß ein Schuppen. Verdammt! Ich bin doch richtig hier? Soll das ein Hotel, ein Seminarraum sein – oder was?“
Die Tür, aus groben Brettern gezimmert, war nicht verschlossen; es genügte ein leichter Druck. Sie schwang auf, gab einen fast völlig dunklen Raum frei, der leer und kahl im Zwielicht lag. Es roch modrig. Der Bretterboden war mit Staub bedeckt. Keine Fußspur war zu sehen. Trotz der Hitze spürte er einen kalten Schauer, der vom Halswirbel bis zum Po lief.
„Hier war schon seit Jahren kein Aas“, murmelte er und fühlte sich schrecklich elend.
„Meine Fantasie ist beispiellos. Das hat dieser ominöse Professor in der letzten Geschichte wohl auch erkannt. Wie mein Protagonist, dieser Shock die Weiber auf den Boden wirft, sie mit dem Messer aufschneidet! Hat vielleicht schon mal einer besser beschrieben, wie sich das anhört, wenn das Messer … Wohl kaum. Ihre Schreie! Ich kann´s eben realistisch beschreiben – und wer kann das schon? Und dann das Blut! Ich hab´s nur so strömen lassen. Die haben so viel Blut drin gehabt, dass es noch in der letzten Zeile wie wild auf den Boden tropfte. – Ha, ha! Ja, das ist moderne Literatur. Hart ist das Leben, und das muss man auch hart beschreiben – Blödmänner, die das nicht begreifen wollen.“
Das Gebüsch wurde dichter, verstellte ihm den Weg. Dornen rissen an seinem Hemd, kratzten auf seinem Handrücken.
Er seufzte. Was tat man nicht alles für die Literatur! Wenn diese Schreiberlinge wüssten, dass er eine Einladung von Professor Apparent bekommen hatte.
„Geil“, dachte er. „Das ist ’ne echt klasse Auszeichnung.“
Er hatte zwar noch nie von diesem Literaturfachmann gehört, aber das musste nichts heißen. Es gab so viele Könner im Netz.
„Einladung zum ersten Treffen des Arbeitskreises Moderne Literaten“, stand quer über dem Blatt.
„Hallo, rabbit666, wir brauchen dich in diesem Kreis. Deine brutalen und realitätsnahen Erzählungen, nicht zuletzt die Geschichten ‚Nacht des Grauens’, und ‚Shock’ haben uns auf dich aufmerksam gemacht.“
Man wolle wortgewaltige Autoren zusammenrufen, die in der Lage wären, auch harte – sehr harte – Geschichten zu schreiben. Sie sollten bei einem speziellen ‚Event’ Eindrücke sammeln und daraus eine Geschichte entwickeln – mit allen blutigen und brutalen Einzelheiten.
Es würde barbarisch zugehen – also nichts für schwache Nerven. Und die Abläufe bei diesem Treffen waren zu beschreiben und möglichst fantasiereich zu ergänzen. Die beste Geschichte würde prämiert, bekäme eine international anerkannte Auszeichnung. Man habe natürlich nur die besten Literaten dazu eingeladen; die Teilnehmer müssten sich also anstrengen und ihr Bestes geben.
„Ich gebe mein Bestes. Könnt euch auf rabbit666 verlassen. Ich bin der Beste!“
Sie hatten ihm einen Anreiseplan geschickt, der Zeit und Ort mit genau beschriebenen Wegemarken enthielt. Treffpunkt war „Das einsame Haus“.

„Warum muss das Treffen in dieser beschissenen Wildnis stattfinden? Wahrscheinlich gehört das zu dem angekündigten Ereignis. Ist wohl noch geheimer als geheim. Mann, hoffentlich find ich hier jemals wieder raus.“
Der Schweiß lief von seiner Stirn, die Haut juckte zum Verrücktwerden, die Haare klebten am Kopf. Je höher die Sonne stieg, desto heißer wurde es. Sogar hier im Schatten der Bäume war die Luft unerträglich dumpf. Erschöpft blieb er stehen, lehnte sich an einen Baumstamm. Als er merkte, dass seine Beine zitterten und die Fußsohlen brannten, hob er abwechselnd die Füße hoch, um sie zu entlasten.
Er schaute den Pfad entlang. Weiter hinten, da, wo die flirrende Sonne das Gras einer kleine Waldschneise aufleuchten ließ, da war es! Am Rand der Lichtung konnte er drei knorrige Kiefern erkennen, die dicht neben drei weißschorfigen Birken standen.
„Die Marke aus dem Plan! Mann! Die hab ich seit zwanzig Minuten gesucht. Jetzt kann´s nicht mehr weit sein“, sagte er leise und fühlte sich nicht mehr ganz so beschissen.
Er seufzte erleichtert und zog ein mehrfach gefaltetes Papier aus der Brusttasche des Hemdes.
Nach einem kurzen Blick auf das fleckige Papier ging er langsam weiter. Hinter der Lichtung begann ein schmaler Fußweg, der im wuchernden Grün kaum erkennbar war. Gut eine viertel Stunde arbeitete er sich durch niedriges Gebüsch und erreichte die nächste Wegmarke – einen bröseligen Baumstumpf, wohl einen Meter hoch.
Hier gab es lockeren Mischwald aus Birken, Eichen und Buchen, und dazwischen wuchsen Brombeerbüsche und Brennnesseln. Auch hier gab es nur einen völlig verwilderten Fußweg, keine sonstigen Markierungen.
Er holte noch einmal den Plan heraus, der an dieser Stelle einen geraden Strich bis mitten in den Wald aufzeigte. An der Stelle, an der die Handeintragung endete, stand fett: „Das einsame Haus“. Sonst gab der Plan nichts her.
Er stiefelte los, verkratzte sich Hände und Arme; lose hängende Zweige schlugen in sein Gesicht. Mit jedem Schritt wurde er wütender – und unsicherer.
„Bin ich hier wirklich richtig? Oder ist das Ganze vielleicht ein Idiotenspaß, will mich einer herein legen? Kommilitonen vielleicht? Ist das eine Falle?“
In seinen Ohren brauste es; er vernahm schallendes Gelächter, spitze Schreie und dumpfes Grölen. „Haben wir dich reingelegt, du Angeber, du Milchgesicht? Rabitt666? Ha, ha!“
Er blieb stehen, starr vor Schreck, lauschte angestrengt. Nur ein paar dünne Vogelstimmen – etwas weiter weg – waren zu hören und über ihm rauschten die Blätter gleichmäßig.
„Verdammt, verdammt! Ich fang schon an zu spinnen. Wenn das hier Scheiße ist, dann kann dieser Professor Apparent was erleben – oder wer sonst dahinter steckt. Ich krieg raus, wer das ist!“

Die kleine grasbewachsene Lichtung sah aus, wie die zuvor passierte. Nur, dass an ihrem Ende tatsächlich so etwas wie ein Haus stand.
„Haus! Ha!“, dachte er voller Zweifel.
Dabei hätte er die Lichtung fast verpasst, denn an einer Abzweigung des Pfades war er ohne Nachdenken auf dem etwas breiteren Weg weiter gegangen und nur, weil er einem Häher nachgeschaut hatte, war ihm der kleine Trampelpfad aufgefallen.
„Ha, ha! Dass ich nicht lache. ‚Das einsame Haus’! Haus nennen die das! Bruchbude würde ich das Ding nennen“, murmelte er.
Das Dach war mit verwitterten, grauweißen und windzerzausten Holzschindeln bedeckt, die kaum noch einen Nieselregen abhalten konnten. Die Wände bestanden aus grob geschnittenen Holzbrettern mit fingerdicken Fugen und hundert Astlöchern. Das einzige Fenster war kreuz und quer mit Brettern vernagelt, alles war ohne Farbe, grau und schmuddelig. Die schmale, sehr niedrige Tür ohne Klinke wirkte keineswegs einladend. Einen noblen Gasthof hatte er erwartet. Personal. Reklameschilder, weiße Stühle und Tische im Sonnenschein, an dem Leute entspannt ihr Bier tranken.
„Scheiße! Nix ist’s mit einem kühlen Bier, oder? Uralt sieht der Mist aus“, murrte er. „Das ist doch bloß ein Schuppen. Verdammt! Ich bin doch richtig hier? Soll das ein Hotel, ein Seminarraum sein – oder was?“
Die Tür, aus groben Brettern gezimmert, war nicht verschlossen; es genügte ein leichter Druck. Sie schwang auf, gab einen fast völlig dunklen Raum frei, der leer und kahl im Zwielicht lag. Es roch modrig. Der Bretterboden war mit Staub bedeckt. Keine Fußspur war zu sehen. Trotz der Hitze spürte er einen kalten Schauer, der vom Halswirbel bis zum Po lief.
„Hier war schon seit Jahren kein Aas“, murmelte er und fühlte sich schrecklich elend.
Die Leute beachteten ihn nicht. Niemand schaute ihn an, keiner drehte sich zu ihm um. Er ging langsam, zögerte, blickte sich um, suchte nach einem zuständigen Ansprechpartner. Er blickte in die Gesichter der arbeitenden Männer; sie sahen müde, blass und elend aus. Sie beachteten ihn nicht.
Zwei weitere Frauen standen in seiner Nähe, unterhielten sich offensichtlich erregt, zeigten immer wieder zum Wald, der im Hintergrund schwarz zum Himmel wuchs.
Ihre Stimmen hörten sich eigentümlich dumpf an, als hätte er einen Pfropf im Ohr. Alles klang wie durch Watte gedämpft. – Und die Sprache hörte sich eigentümlichen an; manche Sätze verstand er nicht.
„Die üben ihren Text. Mann, was für ein Brimborium!“
„Schwedenbande“ – „... morden und brennen …“ – „... haben meines Knans Haus und Hof zernichtet! Knan und Meuder san tot!“, hörte er ohne zu begreifen. Manche Worte verstand er überhaupt nicht.
„Kupfer und Zinngeschirr nehmet sie“, sagte die eine Frau und hob drohend die Faust
„Ja, und Mägde traktieren sie, dass der Herrgott sie nicht mehr ansehen kann“, ergänzte die andere.
„Guten Tag! Sagen Sie, meine Damen, wann geht´s denn los? Und wo ist Professor Apparent?“
„Sie schlagen Ofen und Fenster ein, Mordbuben und Gesindel sind das“, sagte die erste Frau und nickte betrübt.
„Haben Sie mich verstanden? Ich möchte wissen, wo der Professor steckt.“
Die Frauen gaben keine Antwort, ignorierten ihn, taten so, als sei er Luft.
„Blöde Weiber! Typische Schauspielermanier“, murmelte er wütend und ging mit großen Schritten auf die Männer zu, die ihre Pferdefuhrwerke abluden.
Auch sie unterhielten sich, stockend und leise, während sie Brennholz auf die Schultern packten. Auch hier hatte er das Gefühl, die Worte durch einen Wattebausch zu hören.
„Reuter sind schlimme Mordbuben. Wenn die Schwedenreuter kommen, kommt der Tod.“
„War auch nie ein Mann für Gote“, entgegnete der andere. „Von fremden freunden so hab ich manchen tropfen rot gelassen seider, dass ich want verschaiden. Ich loff zu fuess mit swärer puess, pis das mir starb mein Vater zwar, wol vierzen jar, nie ross erwarb, wann ains raubt, stal ich halbs zumal mit valber varb und des geleich schied ich davon mit laide. – Aber nie tat ich morde!“
„Die üben also tatsächlich noch ihre Texte“, dachte er und fragte sich, warum diese Männer dabei eine so überflüssige Arbeit erledigten, die offensichtlich anstrengend und schweißtreibend war; das Stück hatte ja noch nicht einmal angefangen.
„Verdammt! Das sind doch Schauspieler? Was soll der Unsinn? Ist das alles noch Übung oder haben die mit der Scheiße schon angefangen – ohne auf mich zu warten?“
„Hallo! Mein Name ist Erwin Kleinschmidt, bekannt als rabbit666, wenn euch das mehr sagt. Wisst ihr, wo der Professor ist?“
„Sie nehmet die Federn aus den Betten und füllet hingegen Speck und anderes, sie finden, hinein“, sagte ein bulliger Mann und hob ein Holzbündel auf die Schulter.
„Seid ihr taub, oder was?“
„Und anderes verbrannt sie, ob Stühl, ob Bett, ob Haus!“, rief einer vom Wagen herunter, der aussah als wäre er hundert Jahre alt.
„Die üben tatsächlich noch! Dummes Schauspielerpack!“
Niemand blickte ihn an, keiner reagierte auf seine Frage. Es reichte ihm.
„Die sollen rabbit666 kennen lernen.“
Er stellte sich mitten auf den Platz, stemmte die Hände in die Seiten und schrie mit sich überschlagender Stimme, dass es von den Häusern mit einem hohl klingenden Echo widerhallte.
„Seid Ihr alle schwerhörig? He, Ihr Schauspieler! Ich hab genug von eurem Scheißspiel. Ich! Ich, rabitt666, bin die Hauptperson. Verstanden? Wo ist Professor Apparent? Wer ist hier der Verantwortliche?“
Verblüfft schaute er die Schauspieler an. Keine Regung in ihren Mienen. Nicht einer auf dem Platz reagierte, drehte sich um oder machte den Eindruck, als habe er etwas gehört. Er schnaufte wütend und genervt.
Schräg hinter sich hörte er ein helles Lachen. Vor dem hohen, schmalen Tor der Kirche, das man wahrlich nicht Portal nennen konnte, stand ein Priester, der seiner Begleiterin über das Haar strich.
Sie war jung, sehr jung, gekleidet wie die anderen Frauen. Es fehlte nur die weiße Haube; das blonde, lange Haar hatte sie in einem Zopf gebändigt, den sie sich schmucklos um den Kopf geschlungen hatte.
Ihr Gesicht! Er starrte in dieses fast noch kindliche Gesicht, als erblicke er ein Wunder. Große Augen. Hohe Backenknochen. Eine schmale, gerade Nase. Ein voller, geschwungener Mund.
„Mann, die is’ vielleicht ´ne Wucht! Das passt! Erst beliebt machen, Schönheit beschreiben, dann das Blut – unschuldiges Blut. Mitleid! Das kommt an, immer. Weiß schon, wie ich die in meiner Story beschreibe. Geil, geil!“
Der Priester trug eine braune, schmuddelige Soutane. Ein derber Strick, mit einem Knoten um den Bauch gebunden, zeigte die enorme Leibesfülle, die dieser Diener Gottes mit sich herum trug.
„Gut, dass du das Lachen gefunden hast, Kind! In dieser Zeit! Der gütige Gote bewahre uns. Gote, die dar is begin und ende aller dinge, Geh, mein Kind. Gote und die Jungfrau Maria werdet euch beschütze“, sagte er, lächelte das Mädchen an und gab ihm einen leichten Schubs.
„He! Den kann ich sogar verstehen“, dachte rabbit666 erstaunt.
Sie kam direkt auf ihn zu. Bei jedem Schritt wuchs seine Erregung. Er war zwar schon immer leicht entflammbar gewesen, aber die hier, die ließ ihn lichterloh brennen. Er musste gleich ran gehen, da war er sich sicher.
„Hallo, hübsches Mädchen! Darf ich dich was fragen?“
Sie ging sehr dicht an ihm vorbei, hätte ihn fast gestreift, blickte stur an ihm vorbei, als sei er Luft. Verblüfft, aber auch beleidigt schaute er ihr nach.
„Mann, oh Mann! Na warte! Die wird meine Qualitäten noch kennen und schätzen lernen. Ich werd’ schon an die ran kommen. Egal, was dieser Professor dazu sagt – ist mir doch scheißegal“, stöhnte er, stiefelte los und folgte ihr in einigem Abstand.
Er stoppte abrupt, als das Mädchen stehen blieb, wäre fast auf sie aufgelaufen. Sie drehte sich um, starrte ihn mit weit geöffneten Augen an, riss den Mund auf, als wollte sie aufschreien.
„He! He! Ich tue dir nichts. Brauchst keine Bange zu haben, Kleine. Du gefällst mir nur. Ich bin rabbit666. Hast du schon was vor, wenn wir hier fertig sind? Könnte dir eine von meinen irren Geschichten erzählen, wenn du weißt, was ich meine.“
Noch während er sprach, ging sie langsam rückwärts, als wollte sie vor ihm fliehen.
„Warte! Mann, seh ich etwa wie ein Verbrecher aus?“
Er schwieg irritiert, als sie die Hand hob und wie anklagend auf ihn zeigte. Dann begriff er, dass sie gar nicht ihn meinte, dass sie, an seinem Kopf vorbei, zur Kirche starrte.
Er drehte sich um und blickte zum Waldrand. Ein Haufen Reiter quoll aus dem Wald; ihre wild stampfenden Pferde drängten auf den Dorfplatz.
„Es geht los!“, rief er dem Mädchen zu. „Endlich! Wurde ja auch Zeit. Bis nachher. Muss aufpassen, dass ich nichts versäume.“
Die Reiter trugen Metallhelme, an denen bunte Federbüsche wippten, eiserne Brustpanzer, die bis auf den Schoß reichten, und Hosen, die unter den Knien bauschig zusammengebunden waren.
Alle hielten Waffen in den Händen: lange Schwerter, stachelige Kugeln an langen Ketten und Lanzen mit Spitzen und Haken. Fast alle Reiter trugen einen Schild, den sie eng an den Körper pressten. Vor dem Trupp ritt ein einzelner Mann. Er war wohl der Anführer, denn er trug als Einziger einen roten Überwurf auf der Schulter. Die Pferde drängten nervös vorwärts, blieben aber auf Distanz zum führenden Reiter.
Der vordere Reiter hob die Hand und der Trupp blieb, dicht aneinander gedrängt, stehen. Pferde wieherten empört über harte Stiefel, die sie zur Ordnung riefen, Stillstand forderten.
Mit brutalem Riss zog der Gruppenführer die Zügel an. Das Pferd hielt direkt neben dem Pfarrer, der reglos vor seiner Kirche stand und die Reiter anstarrte.
„Gut! Gut gemacht. Echt, wie im Kino“, murmelte rabbit666, um die Szene nicht zu stören.
Der Mann sprach kein Wort, bückte sich, griff in die langen, grauweißen Haare des Pfarrers, zog ihn mit einem heftigen Ruck so hoch, dass die nackten Füße des Priesters den Boden kaum noch berührten.
„Hoho!“, schrie er und gab seinem Pferd die Sporen.
Das warf den Kopf hoch, wieherte grell und galoppierte los. Der Reiter hielt den Pfarrer an den Haaren fest, schleifte ihn neben dem Pferd mit sich. In der Platzmitte ließ er ihn los; der Körper schlug schwer auf, überschlug sich, Staub wirbelte hoch.
„Mann!“, stöhnte rabbit666. „Das ist was für harte Burschen.“
Die Menschen auf dem Platz bewegten sich nicht, sprachen nicht, wirkten wie gelähmt. Endlich entstand Bewegung. Aus den Häusern strömten Dorfbewohner, Männer vornweg, dahinter ihre Frauen. Kinder klammerten sich an die Röcke ihrer Mütter, schauten mit weit geöffneten Augen auf das Schauspiel.
Der Anführer rief etwas und seine Reiter stiegen ab, führten ihre Pferde an den Zügeln mit sich, blickten sich ständig sichernd um und blieben neben dem Pfarrer stehen.
„Na, Klasse!“, murmelte rabbit666. „Wo, verdammt, steckt der Rest der Seminarteilnehmer bloß?“
Ein lautes Kommando ertönte und ein Reiter schritt steifbeinig zum Pferdewagen, wühlte in den Holzbündeln und hielt triumphierend ein gabelartiges Holzstück hoch, das auch den anderen wohl passend erschien, denn einige Männer nickten beifällig.
Ein neues Kommando ertönte, ließ einen Soldaten zu einem der Häuser laufen. Er griff sich den Melkkübel, der an einem Eisenhaken an der Hauwand hing, blickte sich suchend um, lief zur Hauecke, ließ sich auf die Knie fallen und tauchte ihn in eine offene Jauchegrube. Den überschwappenden Eimer trug er unter dem Gejohle seiner Kameraden zu der Gruppe, die sich rund um den Pfarrer aufgestellt hatte.

Die Dorfbewohner verharrten noch immer steif, rührten sich nicht, sprachen kein Wort.
Rabbit666 steckte die Hände in die Taschen, ging auf die Soldaten zu und lachte voller Vorfreude. Er liebte solche Szenen, die auf seinen Leihvideos so echt aussahen. Da hatte er schon manch gute Anregung bekommen.
Die Soldaten beachteten ihn nicht, taten so, als sei er nicht da. Der Reiter mit dem roten Umhang beugte sich herunter, betrachtete den Pfarrer ausgiebig.
„Hör zu, Pfaff! Du sagst den Herren hier, wo vergraben seien deine golden Kelch, Monstranz und all die anderen gut Schätz. Wir trinken aus deinem Becher Wein – mit dir – und du brauchst den Schwedentrunk nicht zu fürchten.“
Der Pfarrer, das konnte rabbit666 gut sehen, stierte mit großen Augen die Soldaten an, schüttelte langsam den Kopf. Rabbit666 war begeistert, das Stück fing gut an, die Spannung wuchs.
„Mist! Wo hab ich bloß meinen Kopf gehabt? Nicht ein Stück Papier dabei. Dachte, es gäb hier was zum Schreiben. Muss mir den ganzen Ablauf merken.“
„Nun, so mag es beginnen“, sagte der Soldat mit dem Umhang und zeigte auf den Melkkübel.
Zwei Soldaten knieten sich neben den Pfarrer, rissen seinen Mund auf, quetschten das Holz hinein, schufen eine weite Öffnung, durch die man die Zähne sehen konnte. Mit dicken Stricken banden sie ihm die wild schlagenden Arme und Beine zusammen.
Rabbit666 lachte grell und laut auf; der Pfarrer sah mit seinem aufgesperrten Mund und den wild bewegten Augen aber auch einfach zu komisch aus.
Routiniert goss der Soldat, der den Kübel geholt hatte, gleichmäßig und sehr treffsicher die Jauche in den Mund des Pfarrers. Die Brühe lief ihm über das Gesicht, in die verzweifelt rollenden Augen.
„Verdammt! Das ist aber …“, murmelte rabbit666, dem der üble Geruch der Jauche an die Nase wehte. „Kein Filmzeugs? Wie …“
„Nun, Pfaff? Schmecket dir der Trunk? Zeigest du uns deine Schätz?“
Der Pfarrer schüttelte leicht den Kopf.
„Mach weiter!“
Die Befragung wiederholte sich, nahm kein Ende und führte stets zum gleichen Ergebnis. Immer wieder schüttelte der Pfarrer den Kopf, allerdings von Mal zu Mal deutlich schwächer, und immer wieder gossen sie ihm die eklige Brühe in den Mund.
Die Soldaten schrieen, lachten, machte sich gegenseitig die Zuckungen des Mannes vor, seine vergeblichen Bemühungen, dem erstickenden Zeugs zu entkommen.
„Das, das ist ja … Wie machen die das … Jedenfalls, das muss ich mir merken. Einfach Spitze“, rief rabbit666 und klatschte begeistert Beifall.
Die Soldaten hörten nicht auf, bis der Pfarrer die Augen schloss, die Glieder noch einmal krampfhaft streckte. Der Kübel war leer.

Nun standen alle still da, betrachteten den verschmutzten, reglos daliegenden Pfarrer und schienen nicht recht zu wissen, wie die Handlung fortzusetzen sei.
Rabbit666 bemerkte aus den Augenwinkeln eine Bewegung und drehte sich um. Das Mädchen lief mit großen Schritten auf den Holzwagen zu. Für einen Augenblick dachte er, dass sie nun ins Spiel kommen müsse. Aber die Szene vor ihm fesselte ihn so, dass er nicht weiter auf sie achtete und sich zurückdrehte.
Hinter ihm ertönte ein schriller Schrei. Er fuhr zusammen, warf sich herum. Das Mädchen hatte sich einen armdicken Knüppel vom Wagen geholt, schwang ihn über ihrem Kopf und stürmte auf die Männer zu.
„Der Gottesmann! Sündige Schwedenbande! Lasset ihn leben. Er ist unser Heiliger“
Die Soldaten lachten, fingen das Mädchen mühelos ab, rissen ihr den Knüppel aus der Hand, schlugen mit den Schwertergriffen auf ihren Kopf und warfen das Mädchen wuchtig auf den Boden.

Als wäre das ein Signal gewesen, sprangen die Männer des Dorfes los, liefen brüllend zum Holzwagen, zerrten Knüppel aus dem Gewirr und stürzten sich auf die Soldaten. Die Pferde wichen zurück, schnaubten, stemmten sich hoch, warfen die Köpfe hin und her, wollten ausbrechen.
„Schwedische Galgenvögel!“
„Ergreifet sie!“
„Schlaget sie tot!“, schrieen die Männer und drangen auf die Soldaten ein, die ihre Schwerter gezogen hatten.
Rabbit666 trat ein paar Schritte zurück, ruderte mit den Armen und feuerte die angreifenden Bauern an.
„Zeigt denen mal, was ‘ne Harke ist. Ich will was sehen. Los, los!“

Was dann kam, übertraf alles, was er jemals gesehen, geschrieben oder geträumt hatte.
Die Soldaten hatten leichtes Spiel mit den ungeübten Angreifern; sie tanzten leichtfüßig über den Platz, drehten sich blitzschnell um ihre Achse, wirbelten umher, holten weit aus, trafen die anstürmenden Männern mit ihren Schwertern.
„Das … Oh, mein Gott! Aber … Mann, das kann doch nicht …“, schrie rabbit666 und ihm wurde schwindelig.
Wenn die Männer zu Boden stürzten, hieben die Soldaten ihnen die Köpfe ab, stachen mit den Lanzen in die Leiber.
Es war ein irrsinniges, grausames Gemetzel. Die Schreie der Getroffenen, das Brüllen der Soldaten ließ ihn fast ohnmächtig werden.
In diesem Augenblick, bei diesem unglaublichen Ereignis, verstand er plötzlich, dass hier etwas nicht stimmen konnte.
„Aufhören! Es reicht! Seid ihr wahnsinnig? Arschlöcher, was für eine Scheiße!“
Das Blut spritzte, Gliedmaßen lagen auf dem Boden, die Söldnerschar schrie und lachte bei der Ausübung ihres gut erlernten Handwerks, als sei dies das größte Vergnügen, als hätten sie nur auf diesen sinnlosen Angriff gewartet.
Als alle Männer des Dorfes leblos auf dem Boden lagen, rannten die Soldaten los, griffen sich die fliehenden Kinder, erschlugen sie im Laufen, lachten grell und kreischend.

Bis zu diesem unglaublichen Gemetzel hatte er an Tricks, an Effekte und an ein gelungenes Brutaldrehbuch geglaubt. Ganz plötzlich kam ihm die Erkenntnis, dass dies wirklich kein Theater sein konnte, dass hier etwas Fürchterliches stattfand. Sein Verstand weigerte sich, aber was er sah, hörte und empfand, das war stärker.
Es war blutiger Ernst, im wahrsten Wortsinn, das begriff er mit fassungslosem Staunen. Da floss Blut in Strömen und versickerte im aufgewühlten Boden; abgetrennte Gliedmaßen und Köpfe lagen herum, als wären sie Teile von Schaufensterpuppen. In Wellen befiel ihn eine Übelkeit, wie er sie noch nie empfunden hatte. Und noch etwas kroch in ihm hoch, ließ seine Beine zu Gummi werden.
“Ich bin in Lebensgefahr – in allergrößter Lebensgefahr. Mann, das ist kein Video; ich bin mitten drin. Ich bin im Krieg; es geht um mein Leben!“
Mit einem irren Schrei, voller Angst und Panik, stürmte er los, stolperte über Leiber, stemmte sich schreiend hoch, rannte vorwärts, stürzte erneut über einen Rumpf und fiel auf den Rücken.
Er starrte in den bleigrauen Himmel, hörte Gejohle näher kommen und verlor fast den Verstand.
Mit einem jubelnden Aufschrei griffen sich die Söldner die Frauen, die vergeblich zu flüchten versuchten, rissen ihnen die Kleider herunter und fielen über sie her.
„Tut mir nichts! Lasst mich leben! Ich bin auf eurer Seite. Ich mache alles, was ihr wollt. Hört ihr? Ich bin rabbit666, ich bin Gast von Professor Apparent. Lasst mich leben!“
Seine Schreie hallten über den Platz, mischten sich mit den schrillen Schreien der Frauen, dem Gegröle der Männer.
Und niemand antwortete ihm. Er hörte, dicht neben seinem Kopf, den gellenden Schrei einer Frau. Dieser nicht enden wollende Schrei, ausgestoßen in höchster Todesangst, riss ihn hoch.
„Weg! Weg! Ich muss weg, solange sie noch die Weiber haben“, dachte er in panischem Entsetzen und stolperte blindlings los, suchte den Rand des großen Platzes zu erreichen.
Er fiel erneut, schlug mit dem Gesicht auf den Boden, plumpste auf die Beine des blonden Mädchens. Sie lag regungslos, mit weit aufgerissenen Augen, starrte in den grauen Himmel.
„Hilfe! Oh Gote hilf!“, flüsterte sie und sie sah ihn dabei nicht an.
„Mach, dass du wegkommst!“, brüllte er. „Weg! Hau ab!“
Er stieß sie hart an, stützte sich auf ihre Brust, rappelte sich auf und rannte weiter, auf die Bäume zu.
Hinter dem ersten Baum blieb er stehen, schnappte nach Luft, suchte verzweifelt nach Deckung. Er krümmte sich, spürte ein so starkes Seitenstechen, dass er sich beim Atmen die Fäuste in die Seiten drücken musste; die Luft pfiff nur so aus dem angstgeweiteten Mund.
Er sah rüber zu der Stelle, an der sich das Mädchen soeben hochstemmte. Es taumelte, wankte und dann waren sie schon bei ihr. Sie lachten und grölten. Rabbit666 lief der Angstschweiß den Nacken herunter; er stierte und gaffte gebannt.
Es war nicht zu sehen, was sie mit ihr machten. Es dauerte sehr lange, er hörte ihre Schreie, die dann plötzlich aufhörten. Die Männer gingen auseinander, zogen sich die Hosen stramm und ihr Lachen klang wie das Gelächter des irren Schlächters, das er im letzten Video so genossen hatte. Ein Soldat trug ihren Kopf auf der Lanze und streckte ihn wie ein Siegeszeichen hoch in den Himmel.
Seine Angst wuchs ins Unermessliche, als die Gruppe auf ihn zukam; er fühlte, wie sich seine Blase entleerte, dann fiel er in Ohnmacht, war lange nicht bei Bewusstsein.

Irgendwann wachte er auf, sah Nebelschwaden vor den Augen, glaubte an einen Traum und tastete den Boden ab. Moos und Blätter, Nadeln und sandiger Boden. Das war nicht die weiche Bettdecke, nicht das flauschige Oberbett, das nach Waschmitteln duftete.
Die Erinnerung setzte schlagartig ein und er schrie, konnte nicht aufhören mit dem Schreien. Dann sah er die Lanze, die vor ihm im Boden steckte; sie berührte seine Stirn.
Langsam, das Grauen ahnend, blickte er hoch. Das blonde Mädchen sah ihn aus weit geöffneten Augen an; aus dem Hals tropfte es und als er warme Nässe auf seinem Gesicht spürte, riss es ihn zur Seite.
Er erbrach sich, stemmte sich auf die Knie, stöhnte, zitterte und erneut schoss ihm bittere Galle in den Mund. Er stierte zum Platz, auf dem verstreut Leichen und Leichenteile lagen.
Die Söldner befestigten Bettbezüge, gefüllt mit Beute, an den Pferdesätteln. Einige Männer streiften umher, suchten wohl nach Überlebenden. Er wagte nicht, noch einmal zu dem Kopf über ihm zu sehen.
„Ich muss hier raus. Ich muss raus, raus, raus! Ich muss das Haus wieder finden.“
Es gab nur diesen einen Fluchtweg für ihn. „Wo man rein kommt, muss man auch raus kommen“, dachte er und blickte sich gehetzt um, suchte das nächste Haus – es war nur wenige Meter entfernt.
Mühsam kroch er auf den Knien durch die dornigen, wild ineinander verflochtenen Büsche, blickte sich ständig um. Stickige, modrige Luft stieg aus dem Boden, er roch Blut und Tod.
Mit einem verwegenen Sprung hechtete er über die kleine, vom Platz einsehbare Lichtung und zog sich an der Wand hoch. Die Hintertür stand offen, im Haus war es halbdunkel. Er kroch in den Raum, fand die Tür auf der Rückseite und riss sie auf. Aus einer völlig dunklen Kammer strömte der Geruch von geräuchertem Fleisch.
Er kroch zurück ins Gebüsch, nur unter dem dichten Blätterdach fühlte er sich sicher. Es dauerte ewig, bis er am nächsten Haus ankam. Er lauschte lange, versuchte die Stimmen und Geräusche zu orten, bevor er sich ins Freie wagte.
Auch hier führte die Tür in ein Kämmerchen, aber es hatte ein Fenster, und er konnte ein niedriges Holzbett erkennen. Er fiel auf den Rücken, total erschöpft und hoffnungslos.
„Diese Riesenscheiße! Mann, was ist das bloß? Träume ich? Spinne ich? Schweden? Wo gibt´s hier Schweden? Ob die Schauspieler durchgedreht sind? Das ist so … Mensch! Ja, genau so, wie dieser dämliche Pauker … Wie hieß der noch? Muschelmann? Nee, egal. Wie der uns den Dreißigjährigen Krieg damals beschrieben hat. Mann! Jedenfalls ist das hier lebensgefährlich.“
Als sich sein Atem beruhigt hatte, rappelte er sich auf, schlich aus dem Haus, kroch wieder in die Büsche, ignorierte die Risse und Kratzer auf seiner Haut.
„Verdammte Scheiße! Langsam Erwin, langsam. Wie war das noch, als du angekommen bist? Das war doch ungefähr in der Platzmitte. Oder?“
In seinem Kopf lief alles durcheinander, die Gedanken ließen sich nicht ordnen. Nur eins war ihm klar: „Ich muss das verdammte Haus finden!“
Auch die nächsten Häuser enttäuschten ihn. Es wurde langsam dunkel unter den Brombeerranken, nur auf dem großen Platz war es noch einigermaßen hell.
Er robbte vor und schielte um die Ecke des nächsten Hauses auf den Dorfplatz. Die bepackten und gesattelten Pferde standen immer noch da; aber alle Reiter waren weg.
„Die suchen mich!“
In neuer Panik kroch er zurück ins Gebüsch, legte sich auf den Rücken, lauschte, hörte Lachen, fremdartige Laute und dann roch er es.
„Verdammte Scheiße! Die fackeln die Häuser ab! – Oh mein Gott! Mama hilf mir! Die verbrennen meinen Ausgang! Lieber Gott, hilf mir!“
Er vergaß alle Ängste, sprang auf und hastete zum nächsten Haus. Wieder nichts!
Weiter!
Das nächste Haus!
Gelbgraue Rauschschwaden wälzten sich über das Hausdach. Weiter oben flackerte es; der Bleihimmel hatte einen Rotstich bekommen.
„Scheiße! Da kann ich nicht mehr rein. – Egal, ich muss!“
Er riss die Tür auf. Dunkelheit. Geschmack von Rauch. Schemenhafte Umrisse von Möbeln. An der unsichtbaren Wand die glänzenden Augen des Falken.
„Oh, mein Gott! Das ist es! – Das muss es sein!“
Er stolperte vorwärts, fiel über ein Stuhlbein, erreichte die rückwärtige Wand und griff, tastete, wischte in der Dunkelheit über die glatte Fläche der Tür.
Keine Klinke!
Mit den Handflächen fuhr er über die Bretter, ließ keinen Zentimeter aus, suchte das Schloss. Die Tränen liefen und er schmeckte das Salz auf Lippen und Zunge.
„Die muss doch ein Schloss haben, verdammt!“
Aber da war nur eine glatte Fuge, in der eigentlich das Türschloss sein musste.
Draußen hörte er Schritte, polternde und rücksichtslos zutretende Schritte, dumpfes Gelächter.
„Verflucht, verflucht! Sie kommen! Sie kommen!“
Dann erinnerte er sich. Er hastete zum Kamin, ertastete das Kamineisen, stürzte zur Tür zurück, suchte erneut die Fuge, fand sie endlich, steckte das spitz geschmiedete Eisen hinein und riss es mit einem heftigen Ruck.
Nichts!
Die vordere Eingangstür quietschte und rötliche Flammenzungen erhellten den Raum.
Er steckte das Eisen etwas höher in den Spalt.
Ein Ruck.
Leises Knarren.
Mit einem Seufzer glitt ihm die Tür entgegen. Er warf das Eisen hinter sich; es fiel klirrend auf den Boden – es war ihm egal.
Er stürzte durch die Tür und zog sie hinter sich zu. Mit großen Schritten stürmte durch das verfallene Haus, roch die frische, klare Luft.
Es war sehr dunkel, nur Umrisse der Bäume waren zu erkennen. Mit einem verzweifelten Hechtsprung erreichte er den Rand der Lichtung und das schützende Brombeergebüsch.
Mit einem gequälten Quieken fiel er auf den Boden und es wurde Nacht.

Als er erwachte, starrte er in einen schwarzen Himmel voller Sterne, die durch die Blätter blinkten.
Kein Geräusch war zu hören – oder doch? Über ihm rauschten die Flügel eines großen Nachtvogels – ein heiserer Schrei. Er lachte, brüllte, lachte und grölend. Er konnte nicht mehr aufhören, krallte die Hände in den Boden, riss Moos, Blätter und Nadeln hoch, rieb sie sich ins Gesicht.
„Ja! Ja! – Das war’s. Das war’s. Das haben sie vergessen.“
Er wusste plötzlich, was da draußen, in diesem eigentümlichen Dorf gefehlt hatte. Da hatte kein Vogel gesungen, nicht ein einziger Vogel. Da war totale Stille gewesen, wenn die Menschen nicht sprachen.
Er lauschte angestrengt, hörte den Ruf der Nachtvögel, das Rauschen der Flügel im Geäst. Er lachte erneut und dann liefen die Tränen, es wollte nicht aufhören. Er hatte unendliches Mitleid mit sich, er musste jetzt einfach weinen.
„Mann, was hab ich erlebt! Ob mir das einer glaubt? Das war Krieg! Aber ich! Ich hab´s wie ein Mann durchgestanden.“

Er ging los. In der Dunkelheit verlor er jegliche Orientierung, lief kreuz und quer durch den Wald.
„Weg! Bloß weg!“, dachte er und hatte doch das Gefühl, im Kreis zu laufen.
Er machte nur Pausen, wenn die Seitenstiche zu schlimm wurden. Dann sah er, noch weit weg, zwischen den Bäumen den Schein einer Lampe. Auf sie lief er zu, hastete vorwärts und blieb erst stehen, als er unter der Laterne stand. Sie warf ihr Licht auf eine schmale Straße aus Asphalt.
„Asphalt! Zivilisation! Alles klar! Ich bin in Sicherheit!“
Er dachte nicht über die Richtung nach, lief einfach los; es war egal, wohin die Straße führte; sie würde ihn schon irgendwann in bewohnte Gegenden bringen.
Und nach einiger Zeit erblickte er die ersten Häuser, dunkel und tot lagen sie da. Aber es waren moderne Häuser mit Pkws vor der Tür und gepflegten Vorgärten. Der Ort lag still da, kein Mensch war zu sehen.
Sein Wagen stand noch am gleichen Platz. Als er den Zündschlüssel drehte, ging das Radio an; eine unbekannte Frauenstimme sang von Liebe und Tod. Sein Kopf schmerzte unerträglich, es hämmerte und pochte in der linken Schläfe. Und da musste er schon wieder weinen. Er hatte kein Taschentuch dabei und wischte die Tränen mit dem Ärmel weg.
Wie im Traum fuhr er, missachtete generell jede Vorfahrtsregel. Als er sein Haus betrat, zog er die Schuhe aus und schlich ins Bad. Lange sah er sein Spiegelbild an, studierte und befühlte jeden Riss, jede kleine Wunde. Schmale Blutbahnen, verkrustet und schwärzlich glänzend, liefen vom Kopf über die Stirn, bis an den Hals.
„Verdammt! Das ist das Blut von diesem Mädchen, oder?“
Vorsichtig tastete er seinen Kopf ab und zuckte zusammen, als er an der Schläfe eine schorfige Wunde fand.
„Mein eigenes Blut ist das. Ich bin verletzt!“
Er wusch Schmutz und Blut aus dem Gesicht, schlich in sein Zimmer, setzte sich vor den PC und drückte den Einschaltknopf. Es dauerte ewig, bis er sich ins Internet einwählen konnte. Die Seite seines Literaturportals hatte er als Startseite festgelegt, er war sogleich drin.
Seine Hände zitterten, als er sein Postprogramm startete. Hektisch klickte er den Posteingang an.
Es gab keine Email von einem Professor Apparent!
Er kontrollierte jede Nachricht der letzten vierzehn Tage, schaute in den Ordner für gelöschte Nachrichten, suchte sogar im Papierkorb des PCs.
„Aber die war doch da. Verdammt nochmal! Ich spinn doch nicht! Hab ich die gelöscht? Scheiße!“
Er fasste an seine Hemdenbrusttasche – sie hing herausgerissen lappig herunter.
Erschöpft lehnte er sich zurück, überlegte angestrengt, wo er den Plan und die Email-Nachricht verloren haben könnte. Er fand keine Erklärung. Sein Kopf schmerzte, und es pochte an der Schläfe.
Er tastete über die Stelle, an der ihn der Türbalken getroffen hatte. Übelkeit stieg hoch und sein Magen drehte sich im Kreis.
„Die Schweine haben mich herein gelegt. Aber was war das dann? Wie können die das gemacht haben? Scheißegal! Ich reagiere einfach nicht drauf. Aber Stoff für meine nächste Geschichte, liebe Freunde, den hab ich.“
Er rief sein Textprogramm auf und schrieb ohne nachzudenken die Überschrift:
„Der Schwedentrunk!“
Alles andere würde er am nächsten Tag schreiben; er war todmüde.

Nach einer Woche fand Erwin Kleinschmidt, alias rabbit666, den Mut, sich in seinen Wagen zu setzen und in das stille Dorf zu fahren. Er stellte den Wagen auf dem gleichen Platz ab, der diesmal sehr belebt war, ging durch das Gebüsch am Straßenrand und suchte den Weg durch die Wälder.
Er hatte keine große Mühe, obschon er dieses Mal ohne Plan suchen musste. Bei den verkrüppelten Kiefern blieb er stehen. Er zitterte und seine Beine waren wie Gummi. Dann ging er weiter, durchquerte den Mischwald und fand die Lichtung.
Da stand das verfallene, windschiefe Haus, das eigentlich nur die Bezeichnung Bruchbude verdiente.
Er zog die Tür auf und schielte zum niedrigen Türbalken. Der muffig riechende Raum war immer noch völlig leer. Auf dem Boden lag das Erbrochene, überall war dicker Staub, nicht eine Fußspur war darin zu erkennen.
„Wie kann das sein, verdammt?“
Noch einmal nahm er allen Mut zusammen, bückte sich tief unter dem dicken Türbalken und betrat den Raum. Im Dämmerlicht sah er die Tür an der Rückwand und die verrostete Klinke. Seine Hand brauchte ewig, um sie zu ergreifen und nach unten zu drücken.
Die Tür ächzte und quietschte, als er sie mit der Schulter aufdrückte. Etwas stemmte sich von außen dagegen; nur mühsam ließ sich die Tür ein Stück weit öffnen.
Brennnesseln und Brombeergebüsch wucherten vor der Tür, quollen durch die Öffnung in den Raum. Das Gebüsch bildete ein richtiges Bollwerk. Unmittelbar dahinter erhoben sich kräftige Eichenbäume. Die Lichtung, auf der das Haus stand, war wirklich sehr klein.