Wochenende und Bereitschaftsdienst! Bettina hasste diese Stunden, in denen alle Menschen, die sie kannte, tief und fest schliefen.
Andere taten das leider nicht; die verzogen das Gesicht vor Schmerzen oder blickten voller Panik auf ihren schwer atmenden Nachwuchs, rasten mitten in der Nacht zum diensthabenden Arzt, tauchten wenig später an der Apotheke auf und verlangten aufgeregt die verordneten Medikamente.
Es musste, da war sich Bettina sicher, einen besonderen Typ Mensch geben, der nur noch nicht genügend beschrieben, ausgeforscht und definiert war. Diese Leute bekam das Fieber, die Koliken, die Migräne und sonst was, immer dann, wenn alle normalen Menschen schliefen oder feierten.
Sie arbeitete schon mehr als acht Jahre in der Rathaus-Apotheke, die in der Fußgängerzone lag, hatte Spaß an ihrem Beruf und an den Gesprächen mit den Kunden – mit den meisten wenigstens. Mit manchen allerdings weniger – das waren die, deren Ärger über Zuzahlungen oder Verschreibungspflicht auf ihrem Haupt landete.
Da konnte sie schnippisch werden und das Gespräch so gestalten, dass der Kunde sich vornahm, beim nächsten Mal eine andere Apotheke oder wenigstens eine verständnisvollere Apothekenhelferin anzusteuern. Das war ihr egal – oder sogar ihr Recht.
Es war bereits dunkel und der Regen, der seit dem Morgen herunter rauschte und an dem großen Schaufenster ablief, hatte sie heute ausnahmsweise mal nicht gestört; sie war fast den ganzen Tag im Bett geblieben.
Die ausgelassene Geburtstagsfeier vom Vorabend steckte ihr in den Knochen. Sie war neunundzwanzig geworden und ihr Freund Günther hatte die Idee gehabt, diesen letzten „Zwanziger“, wie er sagte, vor dem „Zwangsumtausch“ richtig zu feiern. Das hatten sie dann auch gemacht.
„Dreißig feiert jeder; alles Quatsch – und schlaf gut auf deiner Pritsche“, hatte er gesagt, als sie missmutig die Wohnung verließ.
Jetzt freute sie sich tatsächlich auf die bequeme Liege im Hinterzimmer.
Sie hängte den Mantel in den Schrank, warf sich den Kittel über, ohne ihn zuzuknöpfen, was sie sich nur beim Bereitschaftsdienst erlaubte. Sie trug während des Nachtdienstes gerne weite Pullover und Jeans; damit konnte sie sich auf die Liege im Hinterzimmer werfen und brauchte keine Knitterfalten zu fürchten.
Sie drehte den Dimmschalter, bis die Lampen nur noch matt leuchteten, reckte sich und gähnte ausgiebig. Die mit Mahagoniholz ausgekleideten Wände, die indirekte Beleuchtung und die kaum wirksamen Reklamelichter erzeugten ein diffuses Dämmerlicht, das alle Kanten und Ecken der Theken und Schränke auflöste.
Sie fasste prüfend die Türklinke der Glastür an – verschlossen. Die Klappe für die Bedienung während des Bereitschaftsdienstes – verschlossen. Die Lampe, „Bereitschaftsdienst“, flackerte leicht; sie würde es am Montag dem Chef melden.

Im hinteren Raum, neben der winzigen Küche mit Kaffeeautomat und Waschbecken, stand ein niedriger Rollwagen mit der Lieferung, die ihre Kolleginnen am Tage nicht mehr ausgepackt hatten. Sie schob ihn an die Seite, legte den Kittel ab und warf ihn auf die Pakete.
Es war still, bis auf das Rauschen auf dem Flachdach. Die kleine Lampe, die neben der Liege auf einem Tischchen stand, beleuchtete den Radiowecker. Es war gerade 20:00 Uhr, als sie sich setzte; eine lange Nacht lag vor ihr. Langsam ließ sie sich fallen und schloss die Augen.
„Wenn ich Glück habe, schlaf ich gleich ein und wach erst wieder auf, wenn meine Ablösung kommt“, dachte sie und dämmerte schon rüber in einen Halbschlaf, bei dem ihre Sinne aus Gewohnheit wach blieben.
Die Klingel an der Tür schrillte; sie schlug die Augen auf und blickte zunächst auf die Uhr. „21:09“. Hastig strich sie sich die Haare aus dem Gesicht, schwang die Beine von der Liege und griff nach dem Kittel.
Der Mann hinter der gläsernen Tür schien noch jung zu sein. „Höchstens Anfang zwanzig“, dachte sie. In seinem Gesicht leuchteten rote Flecken; er wippte ungeduldig auf den Zehenspitzen und versuchte durch das Glas der Tür zu sehen.
Sie drehte das Licht voll auf und öffnete die Klappe. Sein Hemdkragen schaute spitz aus dem Anorak und gekämmt hatte er sich bestimmt nicht.
„Guten Abend. – Bitte?“ Sie blickte ihn freundlich an und lächelte
„Ich dachte schon, es wär keiner da.“
„So? War ich nicht schnell genug für Sie?“ Ihr Lächeln verschwand und die Stimme wurde rau wie eine Eisenfeile. Das war immer so, wenn sie sich ärgerte.
„Entschuldigen Sie; war nicht so gemeint. Sie ist ganz plötzlich so heiß geworden, hat schon vierzig Fieber. Vorher hat sie noch ganz normal gegessen – jetzt bricht sie alles aus. Äh – die Ärztin, also die vom Notdienst, meinte, unsere Kleine müsste die Medizin sehr schnell bekommen. Macht es Ihnen was aus, sich zu beeilen?“
„Kaum. Haben Sie kein Rezept?“
„Oh, doch! – Steht alles drauf.“ Er suchte in seinen Hemdtaschen, öffnete den Anorak, lächelte sie nervös an, suchte weiter und sagte „Aha! Ja, hier.“, als er fündig wurde. Hastig schob er das Rezept durch das Loch, glättete es auf dem Klappentischchen und sie konnte seine zitternden Hände sehen.
„Warten Sie bitte“, sagte sie mit weicher Stimme und dachte: „Was red’ ich für einen Quatsch! Als wenn der weglaufen würde.“
Sie wusste genau, wo jedes Medikament lag. Sicher half ihr dabei eine ausgeklügelte Ablagetechnik, aber sie brauchte auch so kaum darüber nachzudenken. Ohne Zögern fasste sie in der vierten Reihe, nach dem fünften Schubladengriff und zog die lange Lade heraus. Sie fasste zu, prüfte, verglich die Texte auf dem Rezept und der Packung. – „Richtig!“, dachte sie.
Nächstes Medikament. Die zweite Schublade, ganz oben. Wieder der Griff, die Kontrolle. Falsch! Die andere Größe. Sie suchte, tastete und dann wusste sie es wieder.
„Mist“, dachte sie. „N 2 hat die verschrieben. Gibt’s doch gar nicht. Die machen doch nur N 1.“
Sie nahm das Medikament, ging zum PC und zog die Verpackung über den Scanner. Ja, sie hatte Recht! Nur N 1 und kein N 2.
„Hören Sie! Das muss ich korrigieren. Die Ärztin hat eine Größe aufgeschrieben, die es nicht gibt – sie hat sich wohl vertan; ich muss ihnen die kleinere Packung geben.“
Er nickte, hüpfte ungeduldig auf und nieder. „Hoffentlich baut der nervöse Kerl keinen Unfall“, dachte sie.
„So, das Rezept ist frei. Aber ich muss drei Euro von Ihnen verlangen – wegen dem Bereitschaftsdienst – steht da angeschlagen.“ Sie zeigte auf einen imaginären Punkt an der Tür, wo der Zettel hängen musste.

„Okay, kein Problem“, sagte er und fummelte seine Börse raus. Sie gab ihm die Medikamente, strich das Geld ein, sagte: „Gute Besserung“, öffnete die Kasse und legte die drei Geldstücke ins Fach.
Die Klingel schrillte diesmal lange, viel zu lang. Das war die Länge, das wusste sie, wenn es einen extremen Notfall gab.
„00:23 Uhr!“ Sie sprang auf, vergaß den Kittel, den Dimmer und den sichernden Blick durch das Glas. Vor der Tür stand ein dunkler Schatten. Als sie die Klappe herunter riss, blickte sie in ein von Alkoholsucht gezeichnetes, dunkelrot fleckiges Gesicht mit wild wuchernden Bartstoppeln. Und direkt darunter glänzte der Lauf einer Waffe.
Sie kannte Pistolen und Revolver nur aus Krimis, hatte ein solches Ding noch nie wirklich, echt und bedrohend – eben so aus der Nähe –, gesehen. Das hier, das war Premiere und der Schock größer, als sie es jemals vermutet hätte. Ihr Magen revoltierte und die Beine zitterten so stark, dass sie sich an der Klappe festhalten musste.
„He! Mach nich schlapp, Kleine! Schließ die Tür auf, sonst spielt mein Freund verrückt. Mein Finger wackelt schon ziemlich, kann den kaum ruhig halten; wenn de verstehst, wat ich mein.“
„Ja, ja. Ich verstehe“, brachte sie zitternd heraus und schielte zur Wand.
Direkt neben ihr war der Knopf, der einen stillen Alarm bei der Polizei auslöste. Ihre Hand bewegte sich langsam auf die Wand zu, als müsse sie sich vor Schreck abstützen.
„Wenn de da drauf drückst, drück ich auch; wenn de verstehst, wat ich mein’. Is’ nich’ meine erste Apotheke.“
Ihre Hand zuckte zurück, als habe sie eine heiße Platte berührt; sie drehte den Schlüssel im Türschloss und trat zurück.
„Na also! Ging doch prima, Mädchen. Mach man so weiter. Machst nur dat, wat ich dir befehle. Okay?“, sagte er und drückte die Tür auf.
„Ja, ja. Bitte! Ich mach alles, was sie sagen. Tun Sie bitte das Ding da weg.“ Sie zeigte mit fahriger Hand auf die Pistole, die auf ihren Bauch gerichtet war.
„Nee. Is’ meine Versicherung; wenn de verstehst, wat ich mein’.“
„Ja, ich meine ja nur, wegen ihrer zittrigen Finger.“
„Dann pass einfach auf und schließ die Tür zu – und mach dat verdammte Licht aus.“
„Nein, das geht nicht. Ich mach das nicht aus. Dann ist es stockdunkel hier.“
„Mach et aus!“ Der Lauf der Pistole wanderte etwa zehn Zentimeter höher und das überzeugte sie restlos.
Sie wankte zum Schalter und dreht das Licht aus, schloss für einen Moment die Lider und als sie die Augen wieder öffnete, stellte sie fest, dass es nicht ganz so dunkel war, wie sie befürchtet hatte. Die Reklamebeleuchtung der Nachbargeschäfte warf ein mattes, buntes Farbengemisch durch Schaufenster und Glastür.

„Jetzt die Kasse. Mach auf!“
Sie drückte die Taste „Total“, öffnete die Kasse und zog sie ein Stück weit heraus. „Da hast du dich geschnitten, du Dreckskerl!“, dachte sie und war schon schadenfroh.
„Allet raus, allet! Und keine Tricks; wenn de verstehst, wat ich mein’.“
Sie nickte ergeben und legte die Geldscheine auf die Theke. Es war nicht viel, zehn 5er, sechs 10er und drei 20er Euroscheine – Wechselgeld eben. Dann klaubte sie das Kleingeld aus den Schälchen und legte es neben die Scheine.
„War nur etwas Wechselgeld drin“, sagte sie und ärgerte sich über den entschuldigenden Unterton. „Nachts haben wir nie mehr.

Es wird abends zur Bank gebracht.“
„Scheiße! Willste mich verarschen?“ Er riss die Schublade bis zum Anschlag auf, fegte die kleinen Einlagebecken für das Kleingeld raus, bückte sich, schielte in die dunkle Höhle.
„Mach Licht, sofort!“
Sie drehte den Dimmer auf und schielte zum Schaufenster. „Vielleicht gibt’s ja eine Glücksfee, die einen Nachtbummler vorbei schickt.“
Offensichtlich hatte niemand Lust, in dieser Nacht durch die öde, verregnete Fußgängerzone zu gehen und einen Blick in ein Apothekenfenster zu werfen. „Lieber Gott, schick einen – wenigstens einen einzigen Menschen – und wenn der noch so besoffen ist.“
„Verdammte Scheiße! Wo is’ euer Tresor?“
„Was?“ Sie starrte den Mann an. Seine Augen waren klein, kugelrund und blau. Sie sahen aus wie die von der fetten Sau im Stall ihres Onkels Willi; der war Bauer und züchtete Schweine.
„Haben alle Schweine blaue Augen?“, hatte sie ihn gefragt.
„Weiß nicht; meine jedenfalls haben die. Und wenn du einen Menschen siehst, der Schweineaugen hat, dann lauf schnell weg.“
„Der hat gut reden“, dachte sie. „Wie soll ich hier weglaufen? Und der stinkt tatsächlich so wie Onkel Willis Schweine. – Mensch, wir haben doch kein Geld im Tresor!“
„Wo is’ dat Ding? Erzähl mir nix, hörste? Mein Finger zittert schon ganz mächtig; kann den kaum noch beruhigen. Also los! Wo is’ euer Geld?“ Ein übler Geruch strömte bei diesem heftigen Ausbruch aus seinem Mund.
„Es gibt kein Geld hier. Wofür denn? Die Bank ist nebenan und der Chef bringt immer alles da hin. Wir haben nachts nie Geld hier – ehrlich.“
Sie sah das Flackern in den Augen und ihre Beine zitterten wieder. Ihre Gedanken ließen sich nicht ordnen. „Mist, gibt es denn keinen Ausweg?“
Plötzlich kam es ihr in den Sinn, und ohne nachzudenken sagte sie: „Ich hab heute Geld von der Bank geholt – vom Automaten. Da, hinten, in meiner Handtasche, sind hundert Euro. Die kann ich ihnen geben. Das ist alles.“
„Her mit dem Zaster. Ich nehm auch Kleinigkeiten“, sagte er und sie spürte die Wut, die ihn so gefährlich aussehen ließ.
Sie rannte nach hinten, nahm zwei 50er Scheine aus der Börse – und erblickte das Telefon auf der Küchenanrichte. Heiß wurde es in ihrem Nacken und die Haare standen weg wie bei einem Fieberanfall. Sie lauschte, zögerte, machte einen Schritt auf das Telefon zu und erstarrte mitten in der Bewegung.
„Lass dat sein! Dat überlebste nich’!“
„Gib mir mal ’ne Schere!“ Er schlurfte auf sie zu, sah sie mit einem komischen Blick an; sie fror plötzlich und begriff, dass sie jetzt nichts mehr riskieren durfte.
Er schnibbelte spielerisch, dicht vor ihrem Bauch, mit der Schere herum und schnitt blitzschnell die Telefonschnur durch. „Haste ’n Handy?“
Sie schüttelte den Kopf und hielt ihm die zwei Scheine hin. Achtlos stopfte er sie in die Tasche der zerrissenen Jacke zu dem anderen Geld und sah sie wieder lange an. Dann hatte er einen Entschluss gefasst; sie sah es daran, wie er sich straffte.

„Er wird jetzt gehen“, dachte sie erleichtert.
„Mach dat Licht wieder aus. Wir setzen uns hier in dein Kabuff, dat sieht ja ganz gemütlich aus.“
„Warum?“, fragte sie verzweifelt und hätte fast geweint.
„Wir warten auf Kundschaft. Allet wat du kassierst, lieferste bei mir ab. Und mach keine krummen Dinger! Wenn ich denk, du willst mich verarschen oder verpfeifen, dann macht’s Paff und du fällst um; wenn de verstehst, wat ich mein’.“
„Und wenn keiner mehr kommt?“
„Hä? Wat sachste da?“
„Ist doch möglich. Manchmal kommt kein einziger Kunde – während der ganzen Nacht nicht. Gehen Sie lieber, bevor Sie einer erwischt.“
„Egal. Lass ich drauf ankommen. Sitz ja hier gut und trocken – oder?“
Er hockte sich mitten auf die Liege und winkte mit der Pistole. Sie setzte sich zögernd ans äußerste Ende, fürchtete instinktiv das Schlimmste und ihr wurde schlecht.
„Ich muss aufs Klo. Mir ist schlecht.“
„Nix is’ mit Klo. Willste mich verarschen? Du bleibst! – Ach so! Nee, ich fass dich nich’ an; brauchst keine Bange zu haben. So einer bin ich nich’; kannst mich nich’ reizen.“
Sie sah ihn erstaunt an und bemerkte erstmals ein leichtes Lächeln. Seine Augen bekamen einen Kranz aus Falten und als er den Mund öffnete, sah sie etliche Lücken und braune Stummel. Von seinen aschfahlen Haaren tropfte das Wasser, lief über seine schorfige Stirn. Seine Kleidung war völlig nass, wie sie erst jetzt bemerkte – und er stank schrecklich.
„Meine schöne Liege!“, dachte sie voller Ekel.
„Hab keinen Spaß an euch Weibern; wenn de verstehst, wat ich mein’.“
Seine Augen sahen wirklich aus wie bei Onkel Willis Schweinen; jetzt, als er grinste, noch mehr. Und dann begriff sie: „Er kann mich nicht am Leben lassen! Ich könnte ihn beschreiben und das lässt er nicht zu. Dieser Stinker wird mich umbringen.“ Sie seufzte und blickte auf den Boden. Die Übelkeit war weg, aber die Angst war noch da; noch nie hatte sie eine solche Angst gespürt – Lebensangst.
„Wie heißte? Ich bin Erwin, Erwin der Schreckliche, sagen meine Kumpels.“
Sie zögerte. Konnte es etwas ausmachen, ihm zu sagen, wie sie hieß? Vielleicht, wenn er ihren Namen wusste, konnte er sie nicht mehr umbringen. Sie musste wieder an Onkel Willi denken, der sich weigerte, seinen Schweinen einen Namen zu geben. „Wie soll ich ein Schwein umbringen, mit dem ich auf Du und Du stehe, he?“, hatte er ihr gesagt, als sie die dicke blauäugige Sau Jolante nennen wollte.
„Bettina heiß ich; ich sage der Polizei kein Wort – bitte tun Sie mir nichts.“
Er prustete los, schlug sich auf die dürren Oberschenkel. „Klar, sachste denen allet wat de weißt. Mensch, ich bin doch nich blöd. Kaum bin ich weg, palaverste mit denen und sachst allet, wat dir einfällt. – Also, red kein Blech, ja?“
Sie saßen lange still da, rührten sich beide nicht. Der Regen ließ nach, es tropfte über ihnen und irgendwo plätscherte Wasser vom Dach herunter.
„Wie komm ich hier bloß weg? Der bringt mich um, verdammt!“
„Mach mir mal nen Kaffee; ’ne Maschine habt ihr ja. Aber einen mit Schuss; wenn de verstehst, wat ich mein’. Wird ja wohl Schnaps im Haus sein oder irre ich mich?“
„Nein, nein. Sie irren sich nicht. Herr Börger, also unser Chef, hat immer einen Cognac im Schreibtisch stehen.“
„Na, dat is ´n Wort. Mach voran! Koch Kaffee und hol den Stoff.“
Sie setzte den Kaffee an und während die Maschine leise brodelte und schlürfte, holte sie die Flasche aus dem Schreibtisch; sie war noch fast voll. Sie zuckte zusammen, als die Klingel schrillte.
„Kundschaft!“, rief Erwin der Schreckliche. „Denk dran, ich knall dich ab, hab nix zu verlieren. Ich steh hinter der Ecke und mein Freund guckt auch.“ Er zeigte auf die Pistole und stand auf
„Ja, ich sag schon nichts. Sie können sich darauf verlassen.“
Vor der Tür stand Frau Bungert, eine Frau, deren Alter unbestimmbar war. Das lange Haar hing ihr ins Gesicht. Sie sah müde und grau aus.
Ihre Mutter hatte Darmkrebs im letzten Stadium, weigerte sich aber standhaft, in ein Krankenhaus oder ins Hospiz verlegt zu werden. Seit einigen Wochen bekam sie Morphium, damit die Schmerzen erträglich waren. Frau Bungert hatte ihr stückweise von ihrem täglichen Leiden berichtet. Bei jedem Besuch erzählte sie ein neues Kapitel; sie stand oft wartend da, wenn Bettina andere Kunden bedienen musste.
„Wie ein Fortsetzungsroman, ein böser mit albtraumartigen Szenen“, hatte sie dem Chef gesagt. „Aber sie muss ja mal mit jemandem darüber sprechen.“
Sie öffnete die Klappe und lächelte verkrampft. „Guten Abend, Frau Bungert.“
„Guten Abend. Ich bitte um Entschuldigung. Ich hab’s einfach übersehen. Ich hätte schon heute Vormittag kommen sollen. Mutter geht’s nicht gut, sonst hätte ich bis morgen gewartet.“
„Kein Problem, Frau Bungert; ich bin ja sowieso hier. Wie üblich?“
„Ja, so ist es. Hier ist das Rezept. Es ist hoffentlich bald vorbei. Der liebe Gott mag mir verzeihen, aber ich kann nicht mehr. Es muss bald ein Ende haben.“
„Sie tun mir so Leid. Warten Sie, ich hole es.“ Sie schaute auf das Rezept und kontrollierte die Dosierung. „Drei Mal täglich 200 mg – wie immer.“
Die Drogen lagen nicht in den Schubladen; die Vorschriften verlangten eine sichere Unterbringung. Sie bevorrateten nur die Mittel, die ständig verfügbar sein mussten; im Augenblick ausschließlich Morphium, da es für einige Stammkunden – wie für Frau Bungert – schnell verfügbar sein musste.
„Ich muss eben nach hinten; Sie wissen ja.“
Frau Bungert nickte und lehnte sich an die Tür. Als sie sich umdrehte und zum Hinterzimmer ging, sah sie den schwarzen Lauf auf sich gerichtet.
„Stecken Sie das blöde Ding weg. Mir flattern die Nerven und ich dreh gleich durch“, flüsterte sie.
Der Lauf verschwand und sie ging an Erwin vorbei, ohne zu ihm hin zu sehen. Aber sie roch ihn!
Sie holte den Schlüsselbund aus der Schublade des Chefs und als sie den Ring drehte, den richtigen Schlüssel suchte, da wusste sie es plötzlich! „Ich mach’s! Der wird nicht davon kommen. Wenn der aufwacht, ist er in der Zelle; die Liege da wird ihm weniger gefallen.“
Der Medikamenten-Tresor war hinter einer Wandtäfelung versteckt. Sie schob sie an die Seite, schloss auf, tippte die vierstellige Kombination in das Tastenfeld, zog die Tür auf und griff tastend hinein; sie wusste, wo jedes Mittel seinen Platz hatte.

„Da ham wir ja den Safe, meine Süße!“
Der stinkende Atem strich über ihre Wange; sie zuckte zusammen, stolperte nach hinten und fiel aufschreiend in seine Arme.
„Erwin der Schreckliche, heißt nich’ umsonst so. Mich verarscht keiner – auch du nich; wenn de verstehst, wat ich mein’. Wo is’ der Zaster?“
„Oh, mein Gott! Lassen Sie mich los oder ich schrei ganz laut um Hilfe. Die Frau holt die Polizei und dann ist es vorbei mit Ihnen.“
Sie drehte sich aus seinen Armen und zeigte auf den Schrank. „Sind Sie blind? Oder sind Sie so besoffen, dass Sie nicht mehr sehen können, dass das Medikamente sind?“, schrie sie flüsternd.
„Scheiße!“
„Also! Setzen Sie sich sofort hin, damit ich in Ruhe das richtige Medikament suchen kann.“
Sie drehte sich nicht um. Sein schlurfender Gang und der nachlassende Gestank sagten ihr genug. Sie fasste wieder in den Schrank, steckte ein Päckchen Morphiumtabletten mit 60 mg und eines mit 200 mg in die Kitteltasche und schloss sorgfältig ab.
„Die niedrige Dosis wird reichen; so verfallen, wie der aussieht.“
Ohne auf Erwin den Schrecklichen zu achten, ging sie nach vorne, reichte Frau Bungert das Morphium durch die Klappe und wünschte ihr eine einigermaßen ruhige Nacht.
„Und lassen Sie sich nicht unterkriegen, Frau Bungert. Ich wünsche Ihnen viel Kraft.“ Sie sprach sehr langsam, wühlte dabei in der Kitteltasche, riss mit der rechten Hand die zweite Verpackung auf und pulte eine Tablette aus der Pappe.
„Es kostet heute drei Euro mehr, wegen der Bereitschaft. Sie wissen ja, Frau Bungert.“
„Ja, natürlich. Hier ist das Geld. Es ist passend. Und danke. Sie sind immer so nett“, sagte sie mit leiser Stimme und verschwand in der Dunkelheit.
Sie schloss die Klappe, blickte sehnsüchtig auf den Alarmknopf, und als sie nach hinten kam, stand er da, grinste sie an und hielt die Hand auf. „Dat Geschäft läuft nich’ schlecht, wa? Wenn dat bis morgen früh so weiter geht, bin ich reich.“
Sie legte das Geld in die schmutzige Hand, ging um ihn herum und hielt dabei den Atem an. „Ihr Kaffee ist fertig. Soll ich den Cognac …“
„Schütt ’nen kräftigen Schluck aus der Pulle rein; aber nich’ zu wenig, hörste? So viel, wie für ’nen kräftigen Mann gerade gut is’; wenn de verstehst, wat ich mein’.“
„Du kriegst genau das, was du brauchst“, dachte sie und spürte ein leichtes Schwindelgefühl.
In die große Bürotasse gab sie einen mächtigen Schuss Cognac, griff beiläufig in die Kitteltasche, ertastete die Tablette und ließ sie in die Tasse fallen. Sie löste sich im Cognac sofort auf. Sie goss den Kaffee ein und rührte vorsichtig um.
„Hier, Ihr Kaffee“, sagte sie und hielt ihm die Tasse mit weit vorgestrecktem Arm entgegen.
„Der schlürfte wie die Elefanten im Zoo, wenn sie mit ihrem Rüssel Wasser aus dem Teich saugen“, dachte sie, schloss die Augen und machte sie erst wieder auf, als das Schlürfen aufhörte und während der ganzen Zeit sah sie tatsächlich die Riesentiere vor sich.
Er trank und trank, setzte die Tasse nicht ab, bevor sie leer war.
„Ahh! Dat muss Französischer sein. Wie der schmeckt! Kannst mir gleich noch einen einschütten. Mann, dat is’ bei dem Sauwetter genau dat Richtige. Erwin, wat biste gut. Wat war dat für ’ne Blitzidee, wa? ‚Geh in die Apotheke und erschreck dat Mäuschen’, sagte sich der Erwin und jetzt hat der gute Erwin Kohle, ein trockenes Bett, ’ne freundliche Bedienung und pausenlos den besten Drink, den er sich wünschen kann.“
Während er gähnte, starrte er sie lange und nachdenklich an. Er gab ihr die leere Tasse und warf sich auf die Liege; die Pistole legte er griffbereit auf den Bauch.
„Bist ein braves Mädchen. Voll machen, gleiche Mischung wie vorher“, sagte er mit müder Stimme und schloss die Augen.
Sie blieb regungslos stehen und wartete, atmete ganz flach und lauschte. Lautlos, blind tastend, stellte sie die Tasse hinter sich ab und beobachtete ihn.
Er schloss die Augen, blinzelte sie an, grinste, klappte die Lider wieder zu – und rülpste.
Sie wartete, wagte kaum zu atmen. Seine Augenlider zuckten, blieben aber geschlossen. Die Wirkungsweise des Morphiums war ihr bekannt, sie rechnete fieberhaft nach, wie schnell es bei diesem durch Alkoholsucht geschwächten Körper wirken würde. Sein Atem wurde lauter, hektischer, noch lauter; er röchelte und seine Beine zuckten.
„Lieber Gott, lass jetzt bloß keinen klingeln!“
Als ihre Oberschenkel sich verkrampften, machte sie vorsichtig einen Schritt nach vorne, stieß Erwin mit dem rechten Fuß ans Knie. Keine Reaktion. Sie hob den Fuß noch einmal, trat heftiger zu – er rührte sich nicht.
Sehr vorsichtig zog sie die Kartons von dem flachen Wagen, vermied dabei jeden Lärm und stapelte die Kisten an der Wand.
„Grrr“, machte es von der Liege und seine Beine schlugen heftig aus.
Ihr Puls raste. „Lass ihn nicht wach werden, lieber Gott“, flüsterte sie und beobachtete den wieder ruhig liegenden Mann.
Sie schob den Wagen vor die Liege, ging auf die andere Seite, winkelte den rechten Fuß, hielt sich an der Wand fest und drückte so lange in seinen Rücken, bis er von der Liege stürzte.
„Du hast kein Recht, auf meiner schönen Liege zu pennen, du Drecksack! Du bleibst so liegen, bis sie dich abholen; wenn du verstehst, was ich meine.“
Sie fühlte sich besser – deutlich besser. Das Telefon stand neben dem Kaffeeautomaten und sie schüttete sich einen Kaffee ein, bevor sie zum Hörer griff.
Sie hätte fast die Tasse fallen gelassen. „Mist!“, sagte sie laut und sah sich erschrocken um. „Hab’s völlig vergessen …“ Die Telefonschnur baumelte von der Anrichte herunter.
Leise schlich sie an ihm vorbei, den Blick fest auf die Ausgangstür gerichtet, und griff nach der Handtasche.
Die Telefonzelle!
Erwin stöhnte laut und seine Beine zuckten wild. Wieder dieses „Grrr“.
Sie blieb stehen und sah in sein Gesicht. Er lag noch wie vorher, nur sein Kopf war zur Seite geneigt. Er schien sie anzublicken, seine kugelrunden Augen waren größer, als sie es in Erinnerung gehabt hatte.
„Hallo! – Ausgeschlafen?“, stotterte sie. Sie spürte ihre Blase und glaubte sterben zu müssen.

Er blickte sie an, als überlege er, ob er sie erst erschießen oder vorher aufstehen sollte. Ihre Gedanken schlugen Purzelbäume; voller Panik suchte sie nach einer sinnvollen Erklärung dafür, dass er auf dem harten Wagen und nicht auf der bequemen Liege lag. Dann hatte sie es!
„Sie haben sich so toll gedreht, dass sie glatt runter gefallen sind. Sie sind davon noch nicht einmal wach geworden.“
Er blickte sie stur an, als warte er auf weitere Erklärungen; aber es fiel ihr nichts mehr ein.
„Er bringt mich um!“, dachte sie entsetzt.
Erwin bewegte sich nicht. Die Hände hingen schlaff herunter. Plötzlich begriff sie, dass er sie gar nicht gehört hatte. Sie ging langsam auf ihn zu, um ihn herum, und war sprungbereit.
Sie lauschte und hörte ihr Blut rauschen. Wie in Zeitlupe ging sie in die Knie, streckte die Hand aus. Dicht über seinem Hals stoppte sie, betrachtete ihre zittrigen Finger.
„Ich fall tot um, wenn der sich jetzt bewegt“, dachte sie und legte die Fingerspitzen auf seine Halsschlagader.
Sie fühlte nichts – überhaupt nichts. Sie tastete weiter, rief alle ihre Erfahrungen ab; sie machte das doch nicht zum ersten Mal.
„Nichts!“, sagte sie halblaut und erschrak über ihre raue Stimme.
Mit einem quiekenden Aufschrei fiel sie nach hinten, stieß mit dem Rücken an die Liege.
„Ich hab ihn umgebracht! Oh mein Gott! Ich hab ihn getötet!“
Die Schachtel wollte nicht raus aus der Kitteltasche. Sie zerrte und riss, hielt sie dicht vor ihr Gesicht und dann blieb ihr die Luft weg.
„Scheiße! Scheiße! Die Packungen! Ich hab die Packungen vertauscht. 200 mg Morphium! Erwin hat die hohe Dosis von der Bungert bekommen! Oh, mein Gott!“
Sie zog sich an der Liege hoch, rannte auf die andere Seite des Wagens, kniete, blickte in die blauen Augen, fasste nach dem Puls, stieß Erwin mit der anderen Hand kräftig in die Rippen.
„Wach auf, du Dreckskerl! Das tust du mir nicht an! Ich geh nicht für dich ins Gefängnis! Oh, lieber Gott, mach ihn wach! Bitte!“
Kein Puls; keine Reaktion; auch Gott hatte kein Einsehen – oder fand er die Sache vielleicht ganz in Ordnung?
„Ich wollte das doch nicht; du solltest doch bloß schlafen. Bitte, bitte, wach auf.“
Er schwieg! Sie setzte sich auf den Boden, faltete die Hände und dachte an ihren Freund. Was würde er sagen, wenn er erfuhr, dass sie einen Mann umgebracht hatte?
„Der zieht aus! Ein angehender Jurist und eine Mörderin – unmöglich. Aber vielleicht …“
Sie atmete tief durch, betrachtete das verwüstete Gesicht von Erwin dem Schrecklichen, und wusste plötzlich, was zu tun war.
„Den Triumph kriegst du nicht, du schrecklicher Erwin. Ich pack das schon; wenn du verstehst, was ich meine.“
Sie zitterte zwar immer noch, aber ihr Kopf war jetzt völlig klar. Erwin war gut und praktisch auf den Wagen gefallen, wie sie zufrieden feststellte. Die Beine hingen zwar herunter, aber das würde kein Problem sein. Sie öffnete die Hintertür, die zum schräg abfallenden Parkplatz führte, stellte sie fest und zog den Wagen raus. Der Parkplatz war leer; nur ihr Auto stand dort. Es regnete nicht mehr. Die Luft roch frisch und sauber. Sie schloss die Tür ab und schob den Wagen auf die schräge Fläche.
„Oh, lieber Gott! Das Geld!“
Sie zitterte so stark, dass sie ihre Rechte mit der linken Hand abstützen musste. Langsam krochen ihre Finger in seine Rocktasche. Ja! – Da waren die Scheine. Sie zog sie heraus, wollte sie in ihre Tasche stecken und sah entsetzt zu, wie sie auf den Boden flattern.
„Hilf mir doch einer! Ich schaff das nicht“, dachte sie.
Hektisch sammelte sie die Scheine ein und stopfte sie in die Kitteltasche. Sie griff noch einmal in seine Tasche, fand einen weiteren Schein und fühlte Kleingeld. Sie würgte, als sie zerkaute Kaugummireste, grobe Krümel, undefinierbare, klebrige Dinge und ein gebrauchtes Papiertaschentuch fand. Sie pulte das Geld raus und stopfte den Rest zurück. Dann musste sie sich an den Laternenmast lehnen, erbrach sich und weinte.
Auf dem Parkplatz rollte der Wagen von ganz alleine, sie musste nur bremsen und lenken. Der Asphalt glänzte und die Lampen der Straßenbeleuchtung spiegelten sich; sie ärgerte sich zum ersten Mal über die gute Beleuchtung. An dieser Straße gab es keine Häuser, nur Gärten und Parkplätze für die Geschäfte an der Fußgängerzone.
Unten an der Straße bog sie ab, fuhr etwa hundert Meter weiter, bis zu einem Gartenhäuschen, das dicht an der Straße stand. Sie sah sich immer wieder um, aber hier unten ging um diese Zeit ganz sicher kein Mensch spazieren. Sie fasste seine Beine, drehte ihn, zog und zerrte. Als er vom Wagen stürzte, gab es einen satten Klang.
„Oh! Das war sein Kopf. Was soll’s, der bekommt garantiert keine Kopfschmerzen mehr“, dachte sie.
Nachdenklich betrachtete sie Erwin den Schrecklichen, als er endlich wie ein Sack Mehl am Gartenhäuschen lehnte. „Hab ich nicht gewollt, Erwin. Warst wohl nicht gut bei Kräften, was?“ Sie erlaubte sich ein winziges Triumphgefühl.
„Er sieht irgendwie glücklich aus“, dachte sie. „War sicher ein schöner Tod für ihn.“
Sie sah sich nicht mehr um, schob den Wagen mühsam den Parkplatz hoch und schloss die Tür auf. Es klingelte Sturm! Der Mann vor der Glastür war groß und bullig. Er hämmerte mit der Faust auf das Glas; erst als sie auf die Tür zulief, hörte er auf.
„Wo bleiben Sie denn? Verdammt, Fräulein. Es ist eilig.“
„Entschuldigen Sie – bitte! Stundenlang kommt keiner und ausgerechnet dann, wenn ich auf die Toilette muss, dann klingelt es.“
„Ist schon gut.“
Ihre Nerven vibrierten; in ihrem Kopf summte es. Sie schluckte und riss sich zusammen. Er bekam krampflösende Mittel und fiebersenkende Zäpfchen; seine Frau hatte wohl eine fiebrige Bronchitis. Sie kassierte den Eigenanteil und gab die Medikamente raus. Er war schon weg, als ihr einfiel, dass sie die Bereitschaftsgebühr nicht verlangt hatte.
„Was tue ich jetzt? Zuerst mache ich sauber. Alles muss weg, was der Kerl berührt hat. Er ist nie hier gewesen. Niemand wird dich verdächtigen, Bettina.“
Sie zog das Geld aus der Tasche, ordnete und glättete es auf der Theke, nahm ihr eigenes Geld und steckte es in ihre Börse. Den Rest verstaute sie ordentlich in der Kasse. Sie dachte sogar an die vergessene Bereitschaftsgebühr und legte die drei Euro aus ihrem Portmonee dazu.

Dann ging sie ins Hinterzimmer, goss Kaffee auf die Decke der Liege, riss sie sofort herunter und steckte sie in den Wäschesack. Die Cognacflasche füllte sie mit etwas Wasser auf und stellte sie zurück, dann wusch sie die Tasse sehr gründlich aus.
„Die Wassertropfen! Mist! Die machen Flecken.“
Auf dem dunklen Linoleumboden des Hinterzimmers sah man sehr deutlich die Spuren von Erwins nasser Kleidung; sie würden Flecken hinterlassen. Sie wischte sie mit einem Staubtuch weg, rubbelte gründlich, sogar unter der Liege, und schrie auf, als sie mit ihren Fingerspitzen an einen harten Gegenstand stieß.
„Oh verdammt! Die Pistole!“
Mit spitzen Fingern hob sie die Waffe hoch und atmete tief durch. „Wie konnte ich die … Das wär ins Auge gegangen. Du bist kopflos und machst nur Fehler.“
Mit dem Staubtuch fasste sie die Waffe, steckte sie mit dem Lappen zusammen in die Kitteltasche. Die schwarzen Regenwolken waren völlig verschwunden; sie konnte jetzt sogar die Sterne sehen. Sie raffte den Kittel zusammen und rannte los. Kurz vor dem Gartenhäuschen packte sie das Staubtuch, zog die Pistole raus, wollte ausholen – und sie fiel ihr aus der kraftlosen Hand.
Erwin war weg!
„Nein!“, flüsterte sie. „Das kann nicht sein. Oh mein Gott!“ Ihr wurde schwindelig und dann vernahm sie ein Geräusch.
Er kam auf sie zu! Da! Deutlich hörte sie seine Schritte! Sie flog herum, suchte im Dunkeln nach einer Bewegung. Da war nichts. – Oder doch? Sie hielt den Atem an und lauschte. Nichts. Im Garten raschelte es. Dann flog ein Vogel hoch, rauschte dicht über ihrem Kopf in den Nachthimmel.
„Wie kann der Kerl verschwinden? Der war also gar nicht tot. Oh, verdammt, Bettina, du hast dich nur selbst verrückt gemacht.“
Wieder ein Geräusch – diesmal hinter dem Gartenhaus. „Meine Nerven! Ich dreh durch!“ Sie hob die Pistole vom Boden hoch, wollte sie mit Schwung in den Garten werfen. In dieser Stellung verharrte sie einen Moment, dann ließ sie den Arm langsam sinken.
Der Gedanke war ihr so plötzlich gekommen, dass sie ihn wie eine göttliche Eingebung empfand.
„Warum?“, dachte sie. „Warum muss ich mich wie ein Verbrecher benehmen? Was hab ich eigentlich gemacht? Menschenskind! – Ich bin Opfer und nicht Täter!“ Sie nickte heftig, wie sie es immer machte, wenn sie einen letzten Rest Unsicherheit abschütteln wollte. Jetzt war sie einverstanden mit ihrer Überlegung und hatte nur noch einen Gedanken: „Wie kann ich das alles erklären?“
Mit großen Schritten eilte sie zurück, schloss die Tür zwei Mal ab und legte die Pistole unter die Liege. Sie nahm ihre Handtasche, suchte die Telefonkarte raus, öffnete die Eingangstür und ging raus zur Fußgängerzone.
Das öffentliche Telefon war nur zwanzig Meter von der Apotheke entfernt; es hing in einer hübschen Glas-Stahlkonstruktion.
Sie wählte 110 und als sie die ruhige Stimme hörte, die sie nach Namen und Standort fragte, merkte sie, dass ihre Hände nass vom Schweiß waren. Ihre Stimme vibrierte, als sie dem Beamten eine ungefähre Darstellung des Vorgangs gab; sie folgte dem Rat des Polizisten, sofort wieder in die Apotheke zu gehen, abzuschließen und in Ruhe auf die Kollegen zu warten.
„Unsere Beamten sind schon auf dem Weg.“ Diese Worte wiederholten sich in ihrem Kopf, wirkten auf eigentümliche Weise beruhigend. Sie schloss ab und setzte sich auf die Liege.
„Ein bisschen darf ich ja wohl schwindeln; die halten mich sonst noch für blöd“, dachte sie und fühlte bleierne Müdigkeit.

Als es klingelte, sprang sie auf und rannte zur Tür. Ein Polizeiwagen stand direkt vor dem Fenster. Sie öffnete und als sie das freundliche Gesicht eines uniformierten Mannes sah, schossen ihr die Tränen aus den Augen.
„Ich bin Kommissar Funke, Walter Funke – und das hier ist mein Kollege Schröder“, sagte ein kleiner, drahtiger Mann in Zivil und zeigte auf den Uniformierten. „Und hinter mir, der Riese, das ist mein Boss, Hauptkommissar Hans Bach.“
„Ich heiße Bettina Grund. Entschuldigen Sie; ich heul sonst selten.“
„Macht nichts. Das sind die Nerven. Kommen Sie. Können wir uns setzen?“, fragte der Kommissar und sie zeigte nach hinten.
Sie führte die Männer ins Hinterzimmer, setzte sich auf die Liege und wies auf die Stühle neben dem Schreibtisch. Als alle saßen, steckte sie die Füße weit nach hinten und stieß mit dem Fuß vor die Pistole. Es schepperte vernehmlich und mit überraschtem Gesicht bückte sie sich.
„Oh, mein Gott. Da liegt ja seine Pistole! Himmel, die hab ich total übersehen.“
Die Waffe wurde begutachtet, berochen und in einen Plastikbeutel gesteckt. Kommissar Funke untersuchte die zerschnittene Telefonschnur und setzte sich zu seinem Chef. Beide Männer sahen sie an und lächelten freundlich.
„Dann erzählen Sie mal, Frau Grund. Langsam und ausführlich. Lassen Sie sich ruhig Zeit dabei.“
Sie begann stockend, suchte immer wieder nach Worten, spürte noch einmal die gerade durchgestandenen Ängste.
Allmählich wurde sie schneller, raste zum Schluss durch das Geschehen, als müsse sie eine vorgegebene Zeit einhalten.
„Ich hab das Morphium, also das zu starke, in den Kaffee getan und als er wie tot da lag, hab ich ihn raus gefahren – mit dem Wagen da. Er stank doch so furchtbar. Bestimmt ist er tot, bestimmt hab ich ihn umgebracht – dachte ich. Und dann war er weg, einfach weg.“ Sie sah die Männer an, die sie nachdenklich beobachteten.
„Sie glauben mir nicht.“
„Doch, doch. Erwin der Schreckliche ist kein Unbekannter für uns. Das passt haargenau, was Sie da schildern.“ Er sprach leise, sie konnte ihn kaum verstehen.
„Ich wollte ihn nicht umbringen, ganz bestimmt nicht.“
„Wär nicht schade um den Kotzbrocken“, sagte Kommissar Funke grinsend.
„Na, na! Lass das! Damit spaßt man nicht“, fuhr Hauptkommissar Bach ihn an. „Zeigen Sie uns mal, wo Sie ihn abgelegt haben.“
Das Handy des Hauptkommissars spielte einen verrückten Beatsong.
„Bach.“ – „Na wunderbar.“ – „Das erspart uns eine Menge.“ – „Was will der haben? Spinnt der?“ – „Nein. Gebt ihm Tee!“ – „Dann legt ihr das Stinktier eben ins sichere Nest, fertig. Nein, wartet mal. Könntet ihr den nicht vorher unter die Dusche stellen?“ – „Aber irgendwo wird es doch alte, saubere Klamotten geben.“ – „Na, also!“
„So, Ihr Erwin …“

„Das ist nicht mein Erwin!“
„Natürlich nicht; und er ist nicht tot. Er war nur betäubt durch ihren Cocktail. Als er aufwachte, ist er weggerannt. Jedenfalls haben meine Kollegen ihn vor wenigen Minuten aufgegriffen.“
„Gott sei Dank! Wo – ich meine, wieso …“
„Er taumelte durch den Westpark und fiel immer wieder auf die Nase. Sie schaffen ihn gerade in die Ausnüchterungszelle – nach dem Duschen, damit ihn jemand verhören kann. Die dachten, er wäre sturzbetrunken und müsse zur Ausnüchterung in die Zelle. Jetzt wissen wir ja, was es ist.“
„Übrigens, Frau Grund, wissen Sie, warum er der Schreckliche gerufen wird?“
„Nein – wahrscheinlich wegen seiner Grausamkeit.“
„Oh, nein! Wegen seiner grausamen Stinkerei. Er riecht halt schrecklich; das ist sein Markenzeichen. ‚Mich stört´s nicht. Mein Riechorgan ist kaputt’, sagt der Kerl, wenn ihn einer deshalb anmacht.“
„Furchtbar!“, stöhnte Bettina. „Ich riech ihn in hundert Jahren noch.“
„Wie lange hält das noch an?“, fragte Kommissar Funke.
„Der Gestank? Ich …“
„Nein, nein!“, lachte der Kommissar. „Ich meine die Wirkung des Morphiums.“
„Ach so. – Ich weiß nicht genau. So drei bis fünf Stunden – bei seiner geschwächten Konstitution kann es auch länger anhalten.“
„Na ja, ist ja auch egal. Er bleibt sowieso in der Zelle. Also, Sie brauchen keine Angst zu haben, der schreckliche Erwin ist vorläufig schachmatt.“
„Das ist gut; ich dachte wirklich, ich hätte ihn umgebracht. Der hat den Riesentopf mit Kaffee und Cognac – und dem Morphium – in einem Zug ausgetrunken. Das muss dem geschmeckt haben.“
„Kaffee mit Cognac? Ich fasse es nicht! Und meine Kollegen wundern sich, weil er immer wieder Kaffee mit Cognac verlangt. Frisch aufgebrüht und Französischer Cognac müsse es sein, er sei gute Sachen gewöhnt, sagt er alle paar Minuten“, lachte der Kommissar. „Jetzt versteh ich, was der meint.“