„Haben Sie so etwas schon erlebt, Hensel? Da spinnt einer“, sagte Hauptkommissar Jansen und wackelte mit dem Kopf.
„Ist schon das fünfte Mal – und wir wissen so viel wie am Anfang“, seufzte Hensel.
„Wir kriegen ihn. Den Idioten packen wir uns schon noch. Wär doch gelacht. Bisher …“
Die Türglocke spielte ‚Wer soll das bezahlen?’, als die Kriminalbeamten die Boutique ‚Sandra’ betraten.
„Hallo, Frau Börger – Sie haben angerufen?“
„Ja! – Guten Tag Herr Kommissar Jansen; Herr …“
„Hauptkommissar! Seid letztem Jahr schon. Aber sagen Sie einfach
Jansen, ohne Titel, das reicht. Übrigens, das hier ist Herr Hensel,
mein Mitarbeiter. Spezialist für Sachbeschädigung, Betrug und
Diebstahl.“
„Tag!“, sagte Hensel und betrachtete genüsslich die gut gebaute
Boutiquechefin, die in ihrem modischen Top den gepiercten Bauchnabel
zeigte. „Wie bisher? Der gleiche Vorgang?“
„Ja, er hat es schon wieder getan! Kommen Sie, kommen Sie, meine
Herren. Sehen Sie? Hier! Sauber rausgetrennt; Futternaht geöffnet;
Etikett raus geschnitten. Immer das Gleiche. Das ist übelste
Sachbeschädigung. Was sollen meine Kunden bloß denken?“
Mit zornigem Blick hielt sie ihnen eine Übergangsjacke entgegen. Hensel
ergriff einen Ärmel, hob ihn an die Nase und schnupperte.
„Haben Sie eigentlich auch Männer als Kunden? Ich meine, nicht diese
Trans… Transdingsbums, sondern die, die was für ihre Freundin oder so
kaufen“, fragte Jansen.
Hensel hielt das Innenfutter vors Gesicht und zog geräuschvoll die Luft durch die Nase. „Veilchen!“
„Männer? – Meine Boutique ist … Wie soll ich es sagen? – Nicht für Männer geeignet!“
„Keine Männer?“, fragte Jansen. „Sie sagen aber immer: Er hat schon wieder.“
„Wer sonst? Aber als Kunden? Keine Männer. Wir beraten jede Frau entsprechend ihrem Typ. – Männer? – Nein!“
„Verstehe! Männer scheiden also aus. Das engt den Kreis der Verdächtigen – sagen wir mal so grob – um fünfzig Prozent ein.“
„Eindeutig! Ganz klar Veilchen“, murmelte Hensel.
„Hensel, was machen Sie da? Was erzählen Sie von Veilchen?“, sagte
Hauptkommissar Jansen und blickte seinen Kollegen an, der noch immer
das Gesicht in der Übergangsjacke stecken hatte.
„Hier, riechen Sie selber. Ganz klar Veilchen.“
Jansen zog die Jacke vors Gesicht und schnupperte. „Hm. Stimmt. – Und? Was sagt uns das, Hensel?“
„Die Täterin hat Veilchenduft getragen. Na? Ist das ’ne Spur?“, fragte
Kommissar Hensel und schaute die Boutiquechefin an. „Haben Sie einen
Verdacht, Frau Börger?“, fragte Hensel.
„Verdacht? Wollen sie von mir verlangen, dass ich eine meiner Stammkundinnen verdächtige? – Ich bitte Sie!“
„Jedenfalls“, sagte Jansen zufrieden, „engt das den Kreis der
Verdächtigen um …“, er überlegt, zog die Stirn kraus, „… jedenfalls
ganz wesentlich ein.“
„Genau! Das ergibt eine ganz einfache Frage: Wer von ihren
‚Stammkundinnen’ benutzt Veilchenparfüm?“, fragte Hensel und ließ seine
Augen auf dem tiefen Ausschnitt des Tops ausruhen.
„Was denken Sie von mir? Bin ich Sherlock Holmes? Ich schnuppere nicht an meinen Kundinnen. Das sind Damen!“
„Und Ihre Aushilfe?“
„Annette? Sind Sie noch bei Trost? Ich …“
„Na, na!“
„Entschuldigen Sie, aber sie arbeitet seit fünf Jahren hier.“
„Tja! Was dann? Sollen wir uns im Laden auf die Lauer legen?“, fragte
Hensel und löste den Blick von den zarten Rundungen, die der Ausschnitt
freilegte. „Ich wär schon bereit. So nach Dienstschluss …“
„Also, ich …“ Die Boutiquechefin stierte Hensel empört an. „Was sollen die Damen denken?“
„War ein Scherz! – Eine Kamera einbauen?“
„Ich verbitte mir Spionagegeräte. Machen Sie Ihre Arbeit wie immer, nur
mit viel, viel mehr Rücksicht – und baldigem Erfolg, wenn ich bitten
darf.“
*
„Wie gefalle ich dir, Liebling?“ Paula Hansen drehte sich auf den
Zehenspitzen, hatte mit den Händen neckisch den Kragen der
Übergangsjacke gepackt und warf dabei neckisch den Kopf in den Nacken.
„Äh – ganz gut“, sagte Erwin Hansen. Er schielte über den Rand der Lesebrille auf den breiten Rücken der Jacke.
„Was heißt das denn?“
„Nichts, Paula, nichts. Nur … Also gut, du siehst so unförmig aus in dem Ding.“
„Ich sehe was aus?“
„Unf… Entschuldige, es liegt vielleicht an deiner Figur – ich meine …
Ach, mein Gott! Was rede ich herum; du bist einfach zu stark für so
eine Jacke. Kannst du dir nicht einfach einen weiten Hänger …“
„Also! Das ist doch! Zunächst nehme ich mal den Liebling zurück. Dann
muss ich dir sagen, dass dein Bauch … Ach, lassen wir das.“
„Bei Frauen ist das was ganz …“
„Ha! Wieso dann nicht bei allen Frauen? Als Gundi am Samstag hier war –
und die hatte fast das gleiche Modell an – da hast du gesäuselt: ‚Nein,
wie sexy du aussiehst.’ Immer lobst du deren Figur. Und die hat 42!
Größe 42, genau wie ich! Schon seit der Schulzeit haben wir die gleiche
Figur.“
„Äh, ich kenn mich ja mit so was nicht so aus, aber bist du sicher?“
„Was soll das denn schon wieder heißen, Erwin?“
„Na ja, wenn die Gundi Größe 42 hat, dann … Was weiß ich, was du hast? – Vielleicht 46? – Oder 48?“
„Bist du wahnsinnig? Das ist eine Unverschämtheit, mir so eine Größe
anzudichten.“ Sie schluchzte, zog die Jacke aus und schleuderte sie auf
Erwins Schoß. „Ich würde mich schämen, so eine Jacke in einem
Restaurant dem Ober in die Hand zu drücken, wenn ich eine 48 da drin
stehen hätte. Was der von mir denken würde!“
„Aber … Man kann doch nicht dafür, wenn man …“
„Doch! Aber ich hab das Problem ja zum Glück nicht. Da, sieh doch selber!“
„Was soll ich sehen?“
„Du willst doch meine Größe wissen. Lies! Was steht da? – Na? 42! Na?“
„Stimmt! Eine 42er … tatsächlich. Hm, komisch.“
„Was ist daran komisch, Erwin?“
„Ich weiß vom Karl, dass seine Gundi 42er und manchmal sogar 40er
Sachen trägt – aber du? Was hat die aber auch für eine Taille!“
„Also, das ist doch … Worüber sprecht ihr Männer? Was hast du mit
Gundis Taille zu tun? Was für eine Körbchengröße hat sie, he? Ihr
Lüstlinge! Habt ihr wieder Männerwitze gemacht? Über Dicke und so?“
Sie riss die Jacke von seinem Schoß, warf sie über die Schulter, den
Kopf in den Nacken, schleuderte einen verächtlichen Blick auf den
geknickt da sitzenden Ehemann und knallte die Wohnzimmertür mit aller
Kraft ins Schloss.
„Wir
haben was vergessen, Jansen! Die Größe! Ist es immer dieselbe Größe?
Das wär doch was! – Veilchen und eine bestimmte Größe. Das würde ja
nochmals eingrenzen – den Täterkreis, meine ich.“
„Mensch, Hensel! Du schaffst es noch zum BKA! Ruf an, schnell!“
„Ok! Soll ich nicht lieber hingehen?“
„Was? Nee. Ich hab deinen Blick gesehen. Dir sind ja fast die Augen aus
dem Kopf gefallen, bei dem, was die Börger nicht verpackt hatte.“
„Ich kann’s mir erlauben. Schließlich bin ich ja noch … Ah! Hallo? –
Ja, hier ist Hensel; Kripo Großenbodden. – Fein. Sagen Sie mal, Frau
Börger, welche Größe hatten diese geschändeten, äh, beschnittenen -St…
– Aha! 42er? – Alle? – Wunderbar! Fällt Ihnen dazu nichts ein? – 42er
Größe hat doch nicht jeder, oder? – Doch? So oft? – Und Veilchend… –
Entschuldigen Sie, ich wollte nicht … Sie melden sich sofort? – Ja? –
Bis dann.“
„Wer hat denn vorgestern 42er Sachen anprobiert, Annette? Und wer von
denen hat Veilchenparfüm? Fällt Ihnen dazu wirklich nichts ein?“
„Ich weiß nicht … Da waren drei, glaube ich. Die Frau Krüger, die … Oh,
mein Gott! Einen Moment! – Genau! Die hat dieses aufdringliche Parfüm –
die Frau Hansen!“
„Ist das wahr, Annette?“
„Ja sicher! Wir haben nur eine Stammkundin mit diesem ‚Bernadottes Violette’.“
„Das Sie das kennen! – Ach, Gottchen. Furchtbar!“
„Na, ja. Furchtbar? Mein Geschmack ist es zwar …“
„Quatsch! Furchtbar ist das mit der Hansen. Warum macht sie das? Halt!
Das kann nicht sein – sie ist eine 48erin! Manchmal sogar eine … Oh,
mein Gott!“
„Das hieße ja … – Moment, aber sie sagt immer, sie müsse auch die kleineren Größen probieren – besonders 42er.“
„Sagt sie? Oh. mein Gott! Was machen wir bloß, Annette?“
„Die Polizei anrufen? Diesen Herrn Hensel, der immer in Ihren Ausschnitt linst?“
„Auf gar keinen Fall! Wir müssen die Anzeige zurückziehen, Annette. Und
noch was: Sie müssen sich opfern. Wird Ihr Schaden nicht sein.“
„Jansen; Kripo Großenbodden.“ Er zog die Füße vom Tisch und blickte
Hensel an, der auf der Wandtafel mit Kreide die Zahlen 42, 44, 46 und
48 aufgemalt hatte und sie gerade mit dem Wort ‚Veilchenparfüm’
verband. „Ah, die Boutique Sandra. – Wie? – Sind Sie sicher? – Und
warum? – Irrtum? – Nicht? – Ach so! Ihre Annette hat gestanden? – Ein
Scherz? – Nun ja, wenn Sie meinen. – Keine Anzeige? – Aha, treue Seele?
– Na, gut, Frau Börger – Ja, da kann man nichts machen. Ja, ja. Gutes
Personal ist knapp. – Ihnen auch. Tschüss.“
„Hensel, Sie glauben es nicht! Diese Annette hat gestanden und sie haben die Anzeige zurückgezogen.“
„Kam mir gleich verdächtig vor, diese Annette. Haben Sie gesehen, wie
zugeknöpft die war? Kleidmäßig, meine ich. Schade. War mal ein
angenehmer Tatort, diese Boutique.“
*
In Erwin Hansens Kopf kreisten die Zahlen: „42er? 46er? 48er? Da stimmt doch was nicht!“
Er schloss die Augen, sah Gundi neben seiner Paula, verglich ihre
Figuren, schüttelte den Kopf – und dann musste er es klären. Die
Kleiderstange im begehbaren Kleiderschrank war mit Zetteln unterteilt.
„Für Kleidersammlung“, „Anschaffungen 2002“, „Anschaffung 2003“, „Anschaffung 2004“.
Er riss wahllos Kleider und Jacken heraus, suchte hastig nach den Etiketten, lehnte sich an die Wand und schüttelte den Kopf.
„Alles 42er! Verdammt, hab ich mich so vertan?“
Auf dem Boden lag eine Plastiktüte mit einem Aufkleber: „In den
Mülleimer“. Ein Tütchen lugte unter dem Sack hervor, klein und
unbedeutend, halb verdeckt vom Sack und einigen Kleiderbügeln. Mit dem
Fuß zog er die Tüte heraus und schüttete den Inhalt auf den Boden.
„Etiketten! – 48 und 48, 48, 48 … Ich fass es nicht! Wieso … So ist das
also! Hochstaplerin! Nee, Tiefstaplerin. So ein Etikettenschwindel!“