Der Mann drehte das verkniffene Gesicht mit den schwarzen buschigen
Augenbrauen zur Seite. Hinter den Büschen, die den Waldweg säumten, lag
der Spielplatz. Er gehörte zur Neubausiedlung, die in den letzten fünf
Jahren entstanden war.
„Was für ein scheußlicher Krach! Unerträglich!“ Angewidert linste er durch die Sträucher.
Große Sandflächen schimmerten durch die Äste, geometrisch geformte
Eisen- und Holzkonstruktionen, Spielgeräte für die unterschiedlichen
Altersgruppen, waren schemenhaft zu erkennen. Und eine „Horde“ – wie er
sie nannte – von Kindern.
Er ärgerte sich über seine Entscheidung, den bequemen Sessel verlassen
zu haben. Selten unternahm er Spaziergänge – in den Park schon mal gar
nicht. Natur! Was die Leute bloß davon hatten. Ein Graus. Und die
Stadt? Ach Gott! Die hastenden Menschen. Ihre Blicke, ihr Gerede und
Gelächter störten ihn. Und ausgerechnet hierhin, wo ihn Bäume und
Büsche – und nun auch noch Kindergeschrei – störten, musste er heute
gehen. Was hatte ihn nur dazu bewogen?
Nach dem Mittagschlaf hatte ihn eine kribbelige Unruhe befallen, ihn
hinaus getrieben. Planlos hatte er vor der Tür gestanden und seine Füße
hatten ihn in diese Richtung gelenkt. In diesen Teil der Stadt ging er
sonst nie – und er wohnte schon mehr als dreißig Jahre in dem Haus am
Ortsrand.
„Ärgerlich! Bin doch sonst nicht so unüberlegt; was …“; er schüttelte
den Kopf und beschloss, gleich, in etwa einer Minute, umzukehren.
Der Weg machte eine sanfte Biegung, führte nun fast unmittelbar am
Spielplatz vorbei. Gelbe, blaue und rote Anoraks wuselten
durcheinander; bunte Kleider, die an Schaukeln schwangen, blitzten auf,
getrieben von lustvollen Schreien.
Die Kinder kreischten, riefen kommandierende Worte, schrieen sich
wichtige Botschaften zu, stießen gellende Warnrufe aus, forderten –
durch lautes und ständiges Wiederholen von Namen – Gehör und
Aufmerksamkeit ihrer Spielkameraden.
Er murmelte ärgerlich vor sich hin, schüttelte ablehnend,
verständnislos den Kopf und ging gebeugt, mit vorgezogenen Schultern
und gesenktem Kopf weiter. Nervös zog er immer wieder am eleganten
Seidenschal, verdeckte fröstelnd das Hemd und die dezent gemusterte
Krawatte. Er sah elegant aus; seine silbern glänzenden Haare wirkten
gepflegt.
Ein milder Frühlingswind streifte sein Gesicht. Die Luft schmeckte nach
frischem Grün und dem Moder des Winters, der dem leicht angewärmten
Waldboden entstieg. Ein kleiner, von dichten Kirschlorbeerbüschen
geschützter Platz öffnete sich. Hier würde er umkehren.
Er schaute auf die Lichtung. Die schräg am Himmel stehende Sonne hing
im filigranen Geäst einer Trauerbirke und beschien einen Teil des
ovalen Platzes. Er war gerade groß genug für das in den Boden
eingelassene Schachbrett aus Kunststoff und die zwei Bänke, die an den
Querseiten der Platte standen. Auf der Bank, an dieser Seite des
Schachbrettes, hockte ein alter Mann.
Die Schachfiguren sahen billig aus, waren aus wetterfestem Plastik
gemacht. Die Formen waren einfallslos, ohne Besonderheit, jedoch
typisch – Bedeutung und Rang leicht erkennbar. Sie standen, alle
einsatzbereit, in der vorgeschriebenen Ausgangsstellung, fein
säuberlich in der Mitte der ihnen laut Reglement zustehenden Quadrate.
Der Alte auf der Bank unter der Trauerbirke trug einen langen grünen
Parka; den haarlosen Kopf stützte er in der linken Hand ab. Reglos
betrachtete er die Schachfiguren, nahm keine Notiz von dem leise
hinzutretenden Mann, bewegte seine Lippen wie im Selbstgespräch; er
wirkte konzentriert, fast angespannt.
„Könnte mich doch noch einen Moment setzen, bevor ich zurück gehe“, dachte der Elegante.
Er ging zögernd auf die andere Seite des Schachbrettes, wischte mit
einem Tempotuch über die Sitzfläche der Bank, setzte sich umständlich,
schlug die Beine übereinander, legte die Mantelzipfel über die Knie,
steckte die Hände in die Taschen und beobachtete verstohlen den
seltsamen Alten, der offensichtlich Selbstgespräche führte.
„Sehr gewöhnlich; billig gekleidet“, urteilte er. „Niemand, mit dem ich eine Unterhaltung pflegen möchte.“
Der Lärm vom Spielplatz klang nur gedämpft durch das dichte Gebüsch. Er
musterte den Mann noch einmal gründlich, sah die schweren Tränensäcke
unter den Augen, die von Bartstoppeln bläulich gefärbte Haut, die
ungepflegten, im Nacken abstehenden Haarbüschel. Nein, der war kein
Gesprächspartner für ihn – da war er sicher.
Er hatte genug gesehen, lehnte sich zurück und versank in Überlegungen,
die nichts mit Schach zu tun hatten. Lange saß er da und vergaß seine
Umwelt.
„Spielen Sie Schach?“
Er blinzelte, schaute rüber zu dem Mann. Der Alte hatte seinen Kopf bei
der leise gemurmelten Frage nicht von der stützenden Hand genommen,
blickte mit flachem Blick zu ihm rüber.
Er regte sich nicht, tat so, als habe er nichts gehört oder sei nicht angesprochen.
„Kommt selten einer auf diesen Platz. Scheint heute ein Glückstag zu
sein.“ Der Alte lachte leise, richtete sich langsam auf und musterte
sein Gegenüber.
Eine Amsel schwang sich aus der Birke, landete auf dem schwarzen König,
warf sich von dort mutig auf das Feld e7, direkt neben den schwarzen
Bauern, stolzierte kampfeslustig auf die weißen Figuren zu. Ein
Brotbrocken im Feld e5 stoppte den Vogel, wurde von ihm mit schräg
gelegtem Kopf betrachtet und schließlich aufgepickt. Mit der Beute im
Schnabel stob der Vogel davon.
„Komm jeden Tag hierher und hoffe – eigentlich immer vergeblich – auf
’nen Spielpartner. Muss mich also mit mir selber begnügen; spiel’ alles
in Gedanken durch. Hab’ gerade ‘ne Partie gespielt, die ich vor –
warten Sie mal – vor zwei Jahren im Turnier gewonnen hab’. Kenn’
natürlich jeden Zug auswendig!“
Sie schwiegen. Die Sonne verließ die Trauerbirke und konnte jetzt das
ganze Schachbrett erhellen; man sah, dass die Figuren abgegriffen und
verschrammt waren.
„Sie sind sicher auch mehr zufällig hier – oder? Nich’ wegen dem Schachspiel – oder?“
„Ja.“
Dieses widerwillige ‚Ja’ störte den Alten nicht; er betrachtete den
teilnahmslos wirkenden Eleganten und nickte. „Bin wirklich jeden Tag
hier – Sommer wie Winter. Man könnte sagen, es ist mein zweites
Zuhause.“ Er lachte und es klang ein wenig bitter.
Der Elegante stand langsam auf, schlurfte blick- und wortlos am
Schachbrett vorbei und verschwand im Waldweg.Der Alte saß am nächsten
Tag aufrecht da, schaute angespannt zum Weg. Ansonsten hatte sich nicht
viel am Bild geändert; alle Schachfiguren standen auf ihren Plätzen und
die Kinder lärmten, nicht anders als gestern. In der Spitze der Birke
saßen allerdings diesmal wesentlich mehr Amseln, putzten ihr schwarzes
Gefieder und sangen sich trillernd an.
Der Alte trug – wie am Vortag – den grünen Parka, der etwas
verschlissen aussah und zu lange Ärmel hatte. „Hallo! Einen schönen Tag
auch! Wusste genau, dass Sie kommen würden“, rief er, als er die
Gestalt am Rand der Lichtung erblickte.
„So? Dann wussten Sie mehr als ich.“ Die starren Augen des Eleganten
signalisierten Ablehnung – mindestens forderten sie Distanz.
Der glatzköpfige Alte lächelte den Mann wie einen guten Bekannten an.
Der trug wieder seinen warmen Wintermantel; die braunen Lederschuhe
glänzten fleckenlos, die Krawatte war heller, aber wieder dezent
gemustert.
Obwohl die Aprilsonne schon ganz ordentlich wärmte und ein angenehmer
Südwind durch die nur leicht begrünte Birke strich, trug er braune
Wollhandschuhe, die im Farbton zum Mantel passten. Er putzte die
Sitzfläche gründlich mit einem Tempotaschentuch ab, warf es in den
Papierkorb, setzte sich auf die Vorderkante der Bank und schaute den
Alten mit verkniffenen Augen an.
„Ähm! – Ich spiele Schach. – Ist aber mehr als zwanzig Jahre her.“
Der Alte richtete sich hoch auf, wischte sich über den Kopf. Ein
breites Lächeln zog über das volle Gesicht. Sie schauten sich an –
lange und forschend.
„Ja? – Sie spielen wirklich? Wunderbar! Ist wie Fahrrad fahren, das
verlernt man nie mehr. Könnten dann ja mal ’ne Partie spielen – oder
was meinen Sie?“
Die Amseln schienen wirklich hungrig zu sein; zwei Exemplare stürzten
sich aus dem Baum, hüpften quer über das Schachbrett, blieben neben der
Bank des Eleganten stehen, schielten zum blechernen Papierkorb,
trappelten ein wenig auf der Stelle und flogen geräuschvoll davon.
„Der Frühling; an den Vögeln sieht man’s zuerst. Wie die singen! Und
Nester bauen die, als wenn sie im Akkord arbeiten. Die Büsche werden
auch schon grün.“
„So? Interessiert mich nicht.“
„Entschuldigen Sie, aber ich bin richtig kribbelig. Meinen Sie, wir könnten?“
Der Elegante knetete seine Hände, schaute zweifelnd über das Spielfeld.
„Ja, wir könnten schon … Vielleicht … Muss mich etwas einüben.“
„Klar! Nichts dagegen. Gibt sich schnell; ich weiß noch, wie ich damals wieder angefangen habe, als meine Helga …“
Sie betrachteten sich, als gelte es, das Risiko einer größeren
Investition abzuschätzen; der Elegante knetete noch immer seine
Handschuhe und der Alte wischte sich mit dem Ärmel ein paar
Schweißperlen von der Stirn. Abrupt stand er auf und ging auf den
Eleganten zu, der ihn leicht irritiert und besorgt ansah. Etwa einen
Meter vor ihm blieb er stehen und sah lächelnd herunter.
„Bin ja wohl der Ältere. Deshalb … Sollten uns – is’ einfacher – mit
Vornamen ansprechen. Franz. Allein und ungebunden.“ Er lachte hell,
zeigte dabei seine Zähne und an den Augen bildeten sich Strahlenkränze.
„Nun, ja … Meinetwegen – wenn Sie meinen – wenn du meinst. – Gerd, mein
Name ist Gerd.“ Verlegen ordnete er seinen leicht verrutschten Mantel
und schielte nach oben.
„Holla! So hieß mein alter Kumpel auch. Schlosser, wie ich. Haben uns
immer prima verstanden – sind sogar gemeinsam in den Ruhestand
gegangen. Liegt jetzt schon etliche Jahre unterm Rasen, der alte Gerd;
ist nur sechsundsechzig geworden. Bin schon zehn Jahre in Rente – und
du?“ Er ging zurück, setzte sich und suchte etwas in seiner Hosentasche.
Gerd sah den Mann mit verkniffenem Mund an, maß ihn von den braunen
ausgetretenen Schuhen bis zur vollendeten Glatze. Widerwillig quälte er
sich die Antwort heraus. „Ein Jahr. – Mit sechzig. – Bin letztes Jahr
pensioniert worden.“
„Junger Spund, was?“ Franz lachte laut und sah Gerd offen an. „Sieht
aber so aus, als wenn du zehn Jahre älter wärst. Ich meine …“
„Wie? Ich fühle mich jedenfalls nicht alt.“
„Was heißt schon alt! Hab’ mich nie jünger gefühlt – und dazu all meine
schönen Erfahrungen. Möchte nich’ mit so ’nem jungen Spund tauschen“,
sagte Franz und nickte heftig.
„Weiß – ich nehme weiß!“
„Wie? – Ach so! Die Jugend hat den Vortritt. Gut, fang an – äh – Gerd.“
Zögernd, sehr langsam stand Gerd auf, zog den Mantel gerade, stellte
sich hinter seine Figuren und betrachtete sie, als prüfe er ihre
Einsatzbereitschaft, ihre trainierte Schlagkraft,
„Sind ausgeruht, die Truppen. Hier hat ewig keiner mehr gespielt. Lässt
sich ja kaum einer blicken“, rief Franz, lachte und kratzte sich die
Glatze. Er fummelte in seinen Hosentaschen, fand endlich sein
kartiertes Taschentuch und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
„Liegt wohl am Lärm, dass da keiner kommt!“, sagte Gerd und zeigte mit dem Kopf in Richtung Spielplatz.
Franz folgte dem Blick und schüttelte erstaunt den Kopf. „Das da?
Mensch, das sind doch bloß Kinder. Nee, das is’ doch kein Lärm.“
Mit einer überraschend schnellen Bewegung fasste Gerd den weißen Bauern am Kopf und stellte ihn von e2 nach e4.
“Aha! Willst wohl die Spanische spielen, was? Gut!“ Er blieb sitzen,
während Gerd sich vorsichtig – mit einem sichernden Blick auf seinen
vorgepreschten Bauern – auf die Bank setzte.
Franz starrte auf das Schachfeld, lächelte, murmelte etwas und nickte
zufrieden. Er betrachtete die Schachfiguren, als gelte es bereits in
dieser Eröffnungsphase, den alles entscheidenden Zug zu planen.
Es war still, wenn man von den Stimmen der Kinder im Hintergrund absah;
selbst das Vogelgezwitscher klang gedämpft, als wollten die Nestbauer
diesen Kampf nicht stören.
„Biste allein’?“, fragte Franz leise und tupfte seine Glatze.
„Hm.“
„Ich auch!“ Franz lachte laut, hob den Kopf. „Schon seit acht Jahren.
Meine Helga hat sich blitzschnell davon gemacht. Haben nicht viel vom
Ruhestand gehabt – leider! Herzschlag! Und deine?“
Gerd runzelte die Stirn, betrachtete das Spielfeld; sein Mund war fast lippenlos.
Franz stand auf und reckte sich. „Herrlicher Tag! Typischer Frühling. Kannst die Vögel morgens schon um sechs hören.“
„So? Mag das Gekreische nicht.“„War schwer damals; meine Helga fehlte
mir vorn und hinten. Jetzt geht’s ganz gut. Jeder Tag is’ schön. Finde
ja immer einen zum Quatschen; hab’ dafür meine Familie. Und dann das
Schachspielen! Schach is’ ganz gut, wenn du viel allein bist; da
kannste bei nachdenken, reden und spielen – wenigstens hier. Im
Schachlokal da hinten, im ‚Gambit’, darfste das nich’; wenn du da
quatscht, wirste gleich angepfiffen.“ Er ging bedächtig rüber zum
Spielfeld und nickte.
„Die Spanische also? Dann man los!“ Er griff seinen Bauern e7, dessen Kopf ziemlich eingedrückt war, und stellte ihn auf e5.
„So! – Mensch bin ich froh, dass wir spielen.“ Er betrachtete sein Werk
und nickte zufrieden. „Ja, ja, die Frauen! Wenn du mehr als zwanzig
Jahre verheiratet warst, biste abhängig. – Is’ es nicht so, Gerd?“
„Hm. Keine Ahnung.“
„Musst nichts erzählen; is’ dein Bier. Jeder hat seine Probleme.“
„Hab keine Probleme; nur wenig Zeit. Muss los, hab was zu tun.“ Er klang brüsk und blickte seinen Spielpartner nicht an.
„Was? Schon?“
Hastig stand Gerd auf, strich den Mantel glatt, bürstete mit den
Handschuhen nicht sichtbare Krümel vom Mantel, rückte den
Krawattenknoten gerade und verschwand im Weg, aus dem er gekommen war.
Franz sah ihm lange nach, knöpfte schließlich den Parka zu und ging pfeifend in die entgegengesetzte Richtung.
„Bin schon immer um halb drei hier. Is’ die beste Zeit, was meinste?“
„Jede Zeit ist gut. Ich habe keine Vorliebe für eine bestimmte Tageszeit.“
„Ich hab’ den Rhythmus beibehalten, den Helga und ich uns angewöhnt
hatten – vom Frühstück bis zum Schlafen. Der Mensch ist ein
Gewohnheitstier“, sagte Franz.
„Mehr als dreißig Jahre. – Gertrud ist am Krebs gestorben.“ Gerd
murmelte, drückte die Worte widerwillig durch die zusammen gebissenen
Zähne.
„Mann, hast ’s aber lange ausgehalten, was? Lebenslängliche brauchen
nicht so lange sitzen!“, rief Franz, lachte und schlug sich auf die
Oberschenkel.
„Kann ich nicht drüber lachen.“
„Nee? Bist ’n ganz Stiller, was?“
„Dafür quatschen andere zu viel.“
Er war genau um drei erschienen, wie am Vortag, und trug den braunen
Mantel, eine gelbbraune Krawatte und die zum Mantel passenden
Handschuhe.
„Müssen uns ja nich’ überschlagen beim Spiel; könnte ja durchaus ’n
halbes Jahr – sagen wir bis zum Herbst – dauern, unsere erste Partie.
Is’ anders als beim Turnier! Wir haben Zeit.“ Franz klopfte sich wieder
auf die Schenkel und sein Gelächter ließ die Amseln in der Birke
erschreckt auffliegen.
„Hab schon verstanden – ich weiß, was du meinst.“
„So? Wirklich? War aber als Spaß gemeint. Wenn du immer nur zwei Züge
machen willst, dann … Franz sah forschend zu Gerd herüber, der die
behandschuhten Hände knetete.
Gerdas Gesicht hatte eigentümliche, senkrecht verlaufende Falten. Neben
dem Mund und an den mageren Wangen zogen sie sich wie eingekerbt durch
die Haut. Bitter, abweisend wirkte das ganze Gesicht; es lag wohl auch
an den tief liegenden Augen.
„Wenn du willst, können wir uns bei Sauwetter auch mal im ‚Gambit’
treffen. Kennste das Lokal übrigens? Sind meist viele Spieler da.
Kannst an Tischen spielen. Is’ aber nur bei schlechtem Wetter gut,
sonst is’ mir da zu viel Qualm in der Bude. Und die ewigen Kiebitze!
Wissen alles besser.“
„Nein, ich geh nie in Kneipen.“
„Warum nich’? Da haste Gesellschaft – jede Menge. Biste nich’ einsam?“
„Einsam? Ich? Du sagst das so, als wenn das eine Krankheit wäre. Ist es
nicht. Ich brauche keinen Menschen – keinen einzigen.“ Er klang zornig,
als fühle er sich angegriffen, stand abrupt auf, umrundete mit
schnellen Schritten das Spielfeld und stellte sich zu seinen weißen
Schachfiguren.
Nachdenklich betrachtete er die gegnerische Phalanx, senkte den Blick
und griff wieder überraschend zu, als wolle er den Gegner überraschen.
Der Springer wanderte von g1 nach f3.
„He! Gut! Spielst Standard! Ich mag auch keine Überraschungen bei der
Eröffnung. – Ich bin nich’ einsam – nich’ eine Minute. Schön is’ das
Leben; möchte hundert Jahre alt werden.“
Sie saßen sich gegenüber, blickten sich verstohlen an, warteten darauf,
dass der andere wegsah. Franz hatte seinen Parka geöffnet; er trug ein
buntes Buschhemd, dessen Knöpfe kurz vor dem Abplatzen schienen, der
Bauch wölbte sich über den Hosenbund.
Er war schlecht rasiert, das runde Gesicht mit dem feisten Kinn wirkte
dunkel und unsauber. Aber seine Augen waren frisch, lebendig, die
kleinen Falten, die sie wie Kränze umgaben, machten sein Gesicht
fröhlich, heiter und sympathisch.
„Du hast meine Frage nich’ beantwortet: Wie lange biste schon ohne deine Frau?“
„Warum? Was geht’s dich an? Setz deine Figur.“
„Ja, mach ich. Nur nich’ so hastig – is’ ja kein Turnier. Warst du mal auf einem? – Turnier mein’ ich?“
„Nein, Stresskram. Dumme Zurschaustellerei.“
„Kannste nich’ sagen. Hab’ dabei viele nette Kumpel kennen gelernt. He!
Sogar richtige Akademiker waren dabei. Hab einen Doktor Sowieso drei
Mal besiegt – ich der alte Schlosser Franz. Da staunste, was? Und
welche Berufe die hatten! – War fast alles vertreten. Aber am
Schachbrett sind sie alle gleich. – Hauptsache sie spielen gut.“
„Drei Monate ist sie weg.“
„Wie? Was meinste?“
„Die Gertrud – vor drei Monaten hab ich sie beerdigt.“
„Aha! Biste noch ‚in Trauer’, wie man so schön sagt?“
„Nein, bin ich nicht.“
„Warum biste dann so still? – Wie viele Kinder haste?“
„Kinder? Keine – wollten wir nicht. Ist ja zum Glück keine Pflicht.“
„Keine Kinder? Oh Mann! Lebste ganz allein’?“
„Warum?“
„Warum, warum! Schachspieler sollten schon was voneinander wissen –
Familie und so. Ich könnt’ dir ’ne Menge erzählen – von meiner
Großfamilie“, sagte er und sein Lachen klang stolz und glücklich. „Vier
Kinder haben wir – hab ich -, sehr nette Kinder übrigens, alles
Studierte, wenn du weißt, was ich meine. Und ob du’s glaubst oder nich’
– ich hab’ schon sechs Enkelkinder. Was sagste dazu?“
„Wie ein Landwirt, der von seinen Zuchterfolgen spricht“, dachte Gerd. „Schrecklich!“, sagte er.
„Na, na! Wenn das meine Lieblinge gehört hätten.” Franz stand auf,
übernahm das Kommando über seine schwarzen Schachfiguren, dachte
längere Zeit nach. „Wenn die so weiter machen, bau’ ich aus meinen
Enkeln ’nen lebenden Satz Schachfiguren. Meine Älteste, die Ina, als
Dame, mein cleverer Kleiner – Sebastian heißt der übrigens – würde
König. Die zwei anderen Mädchen, Pia und Jana, könnten gut und gerne
Springer sein, so wie die durch die Welt hopsen. Paul und Jörg machen
die Türme. Du siehst, meine Mannschaft wächst. Fehlen noch die Läufer
und ein paar Bauern; kriegen wir auch noch hin.“ Wieder lachte er und
wischte sich erneut die glänzenden Perlen vom Kopf.
„Kinderkram! Alles dummes Zeug.“„Na, das glaub’ ich nu’ nich’“, sagte
Franz leicht pikiert und setzte seinen Springer von b8 nach c6. „Was du
kannst, kann ich auch! – Enkelkinder kannste nich’ genug haben!“
„Es reicht! Ich muss los. Bis morgen.“ Gerd stand schon, knöpfte den Mantel zu und verschwand im dämmrigen Weg.
„Ich dachte schon, du hättest aufgegeben. Wie is’ das werte Befinden?“
„Tag.“ Gerd zog die Handschuhe aus, legte sie sorgfältig auf die Bank,
fegte mit einem Tempotuch über die Sitzfläche, hielt den Mantel hinten
straff und setzte sich. Die Figuren standen wie am Vortag, wie er mit
einem langen, prüfenden Blick feststellte.
Franz hatte ihn beobachtet, stand auf, zog sein Taschentuch aus der Hose und wischte der Reihe nach die schwarzen Figuren ab.
„Die fasst hier keiner an; kannste dich drauf verlassen, stehen immer
wie am Vortag. Hat heute Nacht geregnet. Is’ mächtig viel Staub in der
Luft gewesen. Guck dir bloß mal die braunen Flecken an. Sollteste auch
wegmachen, bei deinen Weißen; versaust dir sonst die Hände – und den
schönen Mantel.“
„Hm.“
„Was machste so den ganzen Tag? Lieste oder guckste Fernsehen? Ich hab
‘ne Menge zu tun mit den Enkeln. Mann, oh Mann! Bloß am Mittag, da
lassen sie mich in Ruh’. Deshalb sitz ich ja immer hier, so von halb
drei bis viere. Dann muss ich meistens weg, die eine zum Sport bringen,
die andere zur Musikschule und den Ältesten, meinen Liebling, zum Judo.
Was die heute alles machen.“
Die Figuren, wenigsten die schwarzen, glänzten und sahen kampfbereit aus. Gerd blickte starr auf den weißen König.
„Also, dann wollen wir mal. – Leg los!“ Franz setzte sich und beugte sich gespannt vor.
„Hab keine Lust auf quakige Blagen.“
„Na, du hast ja ’ne Meinung über die kleinen Geister. Haste keinen Spaß
am Leben oder was? Mensch, wenn die zusammen sind, is’ richtig was los.
Leben is’ in der Bude, da haste keine Langeweile. Und die knusseln
dich, drücken dich und küssen dich; bloß, weil du der Opa bis’.“
„Ich mach’ nichts Besonderes.“
„Mann – du hopst aber mit deinen Gedanken. Wie meinste das, ‚ich mach
nichts’ Besonderes? Ach so! Lieste nich’? – Kein Fernsehen? – Keine
Kneipe? Mann, du bis’ ‘ne arme Socke, sag ich dir. Dafür biste so alt
geworden?“
Gerd stand auf, ging auf seine Seite und betrachtete das Schachbrett,
als sehe er es zum ersten Mal. „Gibt wichtigere Sachen.“ Mit einem
blitzschnellen Griff packte er den schmutzigen Kopf seines Läufers und
setzt ihn von f1 nach b5.
„Aha! – Gib zu, Schach is’ ’ne tolle Sache. So macht es jedenfalls mehr Spaß als allein’ zu spielen.“
„Spaß? Na, ja. Habe an anderen Sachen mehr Spaß.“
„Kommt noch; wart’ ab. – Mensch, Gerd. Komm nachher einfach mal mit.
Meine Tochter, die Dagmar, die kocht uns einen feinen Kaffee und du
lernst, – warte mal – heute ist Mittwoch, da sind die von der Dagmar zu
Hause, du lernst zwei von diesen kleinen Fegern kennen. Wirst Spaß dran
haben.“
Gerd saß schon wieder, zog langsam seine Handschuhe an. Er blickte
starr in die Büsche gegenüber, als lausche er auf den Lärm vom
Spielplatz. Sein Gesicht war leer, die Augenlider zuckten; die harten
Kerben wirkten besonders tief. „Ich muss gehen.“
„Moment, haben doch gerade erst angefangen. Und du sollst doch nachher
mitgehen – hab’ dich gerade eingeladen“, rief Franz, streichelte
hilflos den Turm auf a8 und blickte seinen Partner fragend an.
„Geh zu keinen fremden Leuten. Das ist nichts für mich. – Muss los.“ Er
knöpfte den Mantel zu, zog fröstelnd die Schultern zusammen und
verschwand im dunklen Weg.
„Gerd! Warte! Ist dir nicht gut? Soll ich mitkommen? Es gibt Kuchen, selbst gebackenen. Kommst du wenigstens morgen?“
Aber Gerd war schon längst weg. Franz stand ratlos vor dem Schachfeld,
zog seinen Bauern von a7 nach a6 und setzte ihn erschrocken zurück.
Er
wartete ungeduldig, stand immer wieder auf und starrte angestrengt in
den dämmrigen Waldweg. Sein ständiger Blick zur Uhr kam ihm inzwischen
albern vor.
„Sieht ja aus, als könnt’ ich’s nicht erwarten – wie ’n dummer Schuljunge.“
Und ausgerechnet heute musste er früher weg, hatte fest versprochen,
schon vor vier bei den Enkeln zu sein; Sebastian feierte Geburtstag und
er hatte für ihn und seine kleinen Gäste ein Kasperlespiel vorbereitet,
„Kasper ist einsam“.
In seinem Kopf drehten sich die Schachmuster, der leichte Schwindel kam
schon seit Wochen immer wieder. Ohne Grund – wie er vor sich selbst
behauptete. Gut, sein Blutdruck war etwas hoch – und das ständige
Murren seines Arztes über zu hohe Cholesterinwerte war wohl auch nicht
grundlos. „Alles ’ne Sache der Gewohnheit“, dachte er. „Hat sich mein
Korpus längst dran gewöhnt.“
Aber sonst? Er lebte doch gesund; täglich spazierte er in den Park,
atmete bewusst die gute Luft und regte sich selten auf. „Trink fast
nichts, das bisschen Essen braucht ’n Mensch mit meinem Gewicht; fall’
ja sonst vom Fleisch.“
Er holte sein Taschentuch heraus, zog es über den Kopf hinweg wie einen
Aufnehmer. Schwerfällig stand er auf, ging zu den Schachfiguren seines
Gegners und wischte mit dem Tuch über die weißen Figuren, die noch
immer die Spuren des nächtlichen Regens zeigten.
Wieder so ein saublöder Schwindel – graue Schleier – Brennen im linken
Arm – Übelkeit. Er musste sich setzen, wischte zittrig die
Schweißperlen von der Stirn.
„Wenigstens für die Geburtstagsfeier hättest du dich anständig anziehen
können.“ Er wusste, wie der kritische, missbilligende Blick seiner
Tochter ihn gleich vom schlecht rasierten Kinn, über die bequeme Jeans
bis zu den nicht ganz neuen Schuhen abstrafen würde.
„Wofür? Für wen soll ich mich schön machen? Was hat das für ’nen Sinn
in meinem Alter? Will keiner Frau mehr imponieren. Mein Leben is’ schon
in Ordnung. Wenn ich an Gerd denk’, diesen eleganten, einsamen Kerl,
der ohne Spaß am Leben durch den Tag schlurft“, hatte er ihr gestern
gesagt, als er das verständnislose Kopfschütteln bemerkt hatte.
Langsam schritt er um das Schachfeld, wischte mit dem Fuß einen
vertrockneten Ast vom Feld a3 und betrachtete seine gleichmütig
ausharrende Mannschaft. Schließlich hatte er sich entschieden,
stiefelte quer über das Feld, griff sich seinen schwarzen Bauern und
zog ihn von a7 nach a6.
Es wurde Zeit! Ärgerlich trat er eine verdötschte Coladose ins Gebüsch
und ging los.Die frühe Sonne war blass, kletterte langsam an den grün
schimmernden Ästen der Trauerbirke hoch und zeichnete zittrige Schatten
auf das Schachbrett. Es war noch eine Stunde bis Mittag.
Gerd fror entsetzlich, die Kälteschauer liefen den Rücken rauf und
runter, hefteten sich an den Nacken, krochen ins Gesicht; er spürte das
Kribbeln der Gänsehaut. Seit Gertruds Tod fror er ständig. Selbst im
Bett überfielen ihn die Kälteschauer.
„Die Nerven!“, hatte sein Arzt gesagt und zufrieden genickt. „Kein
Problem. Das legt sich bald. Wir müssen uns ablenken, an andere Dinge
denken. Haben wir kein Hobby? Das Leben geht weiter, mein Lieber.“
Natürlich würde er diesen Franz jetzt nicht treffen, das hatte er
gewusst. Er mochte ihn nicht besonders, diesen Schwätzer und
Kinderliebhaber.
„Sieht aus, als wenn der sich keine gute Kleidung leisten könnte; läuft
ständig ohne Krawatte rum. Schlosser! Na, ja! Und die Sprache! Und dann
die tolle Riesenfamilie. Angeber! Und das ständige Schwätzen. Der tut
so, als wenn er den Tod seiner Frau locker nehmen würde. Was hat der
für eine Ahnung, was mir der Tod von Gertrud bedeutet? Keine –
überhaupt keine.“
Er dachte an das kleine Appartement, das er nach Gertruds Tod im
gleichen Haus gemietet hatte; die alte Wohnung war zu groß für ihn,
hatte nur Arbeit gemacht und unnötig Geld gekostet. – Und sie hatte ihn
ständig erinnert. Diese kleine Wohnung war sein ganz persönliches
Zuhause, hier gab es keine Erinnerungen die weh taten; hier fühlte er
sich wohl.
„In die Kneipe? Nie, nie ging ich da rein. Weiß noch, wie Gertrud
darüber sprach. Oh Mann! Diese bierselige Kumpanei; diese schnellen
Verbrüderungen; das flache Schwätzen über Fußball und gerade noch
überlebte Krankheiten. Wie wertvoll ist dagegen die Einsamkeit. Können
die alle nicht nachvollziehen, diese Gruppen- und Familienmenschen.“
Prüfend betrachtete er seine geputzten Figuren, stellte fest, dass
Franz in seiner Abwesenheit außerdem einen Zug gemacht hatte und nickte
Einverständnis. Seine Hand krallte sich um den Läufer auf b5 und schob
ihn nach a4.
„Ob ich ihn schlagen kann? Würde mir ja Spaß machen. Egal! Warten wir’s mal ab, wie es sich entwickelt.“
Er musste zurück; sein Zimmer zog ihn magisch an. Er saß gerne in dem
gemütlichen Sessel, schaute auf die wuchtige, hoch gewachsene Tanne,
die vor fast dreißig Jahren ihr spiddeliger Weihnachtsbaum gewesen war;
sie hatten ihn damals einfach auf der Wäschewiese des Mietshauses
eingepflanzt. „Die lebt länger als wir beide“, hatte Gertrud damals
gesagt und laut gelacht.
Was hatte er noch überlegt, gestern Abend? Ach ja, ob Menschen dafür
gemacht waren, zusammen zu leben, ständig zusammen zu hocken. Nicht
einfach, das Thema. Wenn er an die Streitereien dachte, an die ewigen
Nörgeleien von Gertrud. Nichts konnte er ihr recht machen. Andererseits
… Waren auch schöne Tage gewesen; hatten so viel gemeinsam geplant,
aufgebaut und unternommen. Und jetzt – diese selbst verordnete Ruhe.
Etwas fehlte, ein … Noch war er sich nicht im Klaren, es gab zu viele
Dinge, die er bedenken musste. Einsamkeit? – Nein! Nur …
„Der war da, der Gerd. Da bin ich platt!“
Franz ging langsam um das Spielfeld herum, lächelte bei dem Gedanken,
dass sein Partner auf ihn gewartet hatte. „Kommt davon, wenn man zu
spät kommt. Macht nix. Wird heute wohl pünktlich sein.“
Der Rücken schmerzte seit gestern. Er hatte über eine Stunde hinter der
Bühnenwand gehockt, die er vor zwei Jahren als Kasperletheater
gebastelt hatte.
„Mit zwei Händen vier Kasperlefiguren lebendig werden lassen und dann
noch fehlerfrei vier Stimmen imitieren – das war harte Arbeit. Oh Mann!“
Er fühlte sich heute schlecht. Aber nie wäre er auf den Gedanken
gekommen, wegen so einem bisschen Unwohlsein das Schachspiel zu
verpassen.
„War schön gestern. Die Gretel war gut, is’ mir bestens gelungen.
Wusste gar nich’, dass ich so ’ne hohe Stimme hab’.“ Er lachte
zufrieden, dachte an den Lärm, den die Kinder in ihrer Begeisterung
gemacht hatten. „Wenn ich bloß nich’ so kaputt wär’ von so ’nem
bisschen Spielerei.“
Der Kuchen war lecker gewesen – der Kaffee auch. Bis zum Abend hatten
sie alle zusammen gehockt, gegessen, Bier getrunken, erzählt und viel
gelacht. „Das Glück solcher Stunden reicht für Tage“, dachte er.
Am späten Abend war ihm wieder so schwindelig geworden, und die
Beklemmungen in der Brust waren auch nicht ohne gewesen. Niemand hatte
was gemerkt.
„Bloß keine Aufregung!“
Dagmar ängstigte sich immer so schnell; sie hatte den schnellen Herztod ihrer Mutter nie verwunden.
„Drei Flaschen Bier! Meine Güte, das war früher nich’ mehr als ein Fingerhut voll.“
Warum dieser Gerd so unpünktlich war? Der hatte doch nichts, was ihn
aufhalten konnte. Manche Menschen waren eben so, da konnte man nichts
ändern.
Ein böiger Wind fiel in den Platz, ließ die Blätter der Büsche
aufgeregt rauschen und seinen schwarzen König wanken. „He, he! Wirst
doch wohl nich’ aufgeben, was? Will dich siegen seh’n, alter Junge“,
rief er ihm zu.
Er wartete zuerst geduldig, wurde dann immer kribbeliger. Er spürte die
Schweißperlen, die über die Stirn und in den Nacken liefen; das
Schwindelgefühl war stärker als je zuvor.
„Eigentümlicher Typ der Gerd; aber nich’ unsympathisch. Bisschen stur
und schweigsam; aber das legt sich noch. Tut so, als wenn er nich’
einsam wär’. Ha! Das sagen sie alle. Wär’ nich’ schlecht, wenn wir uns
regelmäßig …“
Er schaute auf die Armbanduhr, fühlte die wachsende Ungeduld und
Nervosität. „Bist selber dran schuld, lieber Gerd“, murmelte er und
setzte den Springer von g8 nach f6.
Leicht wankend ging er auf seine Bank zu, verharrte einen Augenblick und stakste mit steifen Beinen in den Weg.
Ein
sanfter Frühlingsregen hatte in der Nacht das Gras grüner und die
zarten Blätter an den Büschen und Bäumen glänzender gemacht. Die Luft
strich kühl über sein Gesicht und roch frisch. Die Kinder mieden die
nassen Geräte, den feuchten Sand und tobten wohl auf ihren Wohnstraßen;
vom Spielplatz kam kein Geräusch.
Gerd stand nachdenklich vor dem nass glänzenden Schachfeld und
betrachtete die Figuren. „Den Springer hat er
gesetzt?Verteidigungsstrategie wie im Lehrbuch. Na gut! Bisher hat er
mich nicht überrascht.“
Es war ihm schwer gefallen, er hatte lange mit sich gerungen. Eine
Stunde lang hatte er sich die sanft im Wind bewegten Tannenzweige
angesehen, hatte geträumt und dabei eine kleine Sehnsucht verspürt. Um
kurz vor drei hatte er sich auf den Weg gemacht; ärgerlich über seine
Entscheidung und doch voll gespannter Erwartung.
Was mochte dieser Franz wohl für ein Mensch sein? Lohnte es sich, ihn
näher kennen zu lernen? Ein komischer Mann; sehr einfach sah er aus,
lachte ständig und hatte den Spaß in den Augen. Was mochte er über ihn
gedacht haben? ‚Alter, schweigsamer Esel’? ‚Verbitterter Tölpel’?
„Hatte er Mitleid mit mir? Das wär mir aber ganz und gar nicht recht. Ich brauche kein Mitleid. Mir kann es nicht besser gehen.“
Er sah das runde, dunkle Gesicht vor sich, hörte das helle Lachen.
„Ich mag keine Leute, die ständig lachen. Das Leben ist ernst genug. –
Wo er bloß bleibt. Sonst war er um diese Zeit schon immer da; sicher
wieder was mit diesen zahlreichen Enkeln. Armer Mann!“, murmelte er und
war ein wenig unglücklich.
Mit einigen großen Schritten ging er zum Schachbrett, betrachtete seine
Figuren und lächelte. „Mal sehen, was der Franz dazu sagt. Die kleine
Rochade. Wird ihn überraschen. Habe noch nicht alles vergessen.“
Er wartete, bis es zu kalt wurde und sich seine Schultern fröstelnd
bogen. Langsam, sich immer wieder umsehend, schlich er vom Platz; er
freute sich zum ersten Mal seit Monaten nicht auf sein einsames Zimmer
und den gemütlichen Sessel.
Er ging hoch aufgerichtet, die Schultern gerade. Heute trug er den
Wintermantel offen, man sah das beige Designerhemd und die exakt
gebundene Krawatte. Die Hände pendelten rhythmisch und er sah
entschlossen aus. Schnell setzte er seine Füße, wie bewusst machte er
jeden Schritt – er schlurfte nicht. Vor dem Spielfeld blieb er
fassungslos stehen.
„Diese Kinder! Verdammt!“
Jemand hatte alle Figuren säuberlich um das Feld verteilt, in Reihe
geordnet, abwechselnd eine schwarze und eine weiße Figur. So umstanden
sie, wie eine Schar neugieriger Zuschauer, das Schachbrett. Bauern und
Springer, Damen, Türme, der weiße König und die Läufer blickten starr,
wie gebannt, auf die einsame Figur in der Mitte.
Der schwarze König lag da, wie erschlagen, mitten auf dem Feld, an der Schnittstelle der Felder d-e und 4-5.
„Wie tot“, dachte er und fühlte schon wieder die Kälte hochsteigen.
„Nein, nein! Nicht tot – schachmatt. Ich glaube nicht an solche
Symbole, an derartige Zeichen – zum Glück!“
Zwei Mal schritt er um das Schachbrett, betrachtete die sonst so
kämpferisch ausschauende Truppe, die sinnlos da stand, ging
entschlossen auf das Schachbrett, stellte den schwarzen König aufrecht
hin, genau auf den Schnittpunkt der mittleren Platten. Zufrieden nickte
er und ging schräg rüber zur Bank, auf der Franz sonst immer saß. Ein
beklemmendes Verlustgefühl befiel ihn, als er die leere Bank
betrachtete.
„Wieso kommt er nicht? Warum? Warum will er nicht mehr? Er wollte täglich hier sein – immer, sagte er.“
Lag es an ihm? Vielleicht war er zu überheblich erschienen? Aber es war
auch nicht so einfach, mit einem Wildfremden so … „Was jetzt?“
Er brauchte ihn – gerade jetzt, wo er zum ersten Mal Einsamkeit spürte,
gerade jetzt, wo er glaubte, mit Franz einen Menschen gefunden, im
Schach eine Herausforderung entdeckt zu haben. Wo mochte er sein?
Nachdenklich verließ er den Platz, diesmal in der anderen Richtung. Er
ging schnell, zielstrebig. Er musste das ‚Gambit’ suchen; es musste
hier in der Nähe sein. Vielleicht wusste jemand, wo Franz wohnte, wie
er hieß.