Eigentlich beginnt der Tag, wie Ralf ihn sich gedacht hat. Nichts
deutet darauf hin, dass er anders enden könnte, als all die Tage
vorher, an denen er dabei sein durfte.
Sie gehen schweigend, wie immer, wenn sie den Wald, die Gerüche und
Geräusche genießen. Er träumt gerne, denkt sich Bilder, betrachtet sie
versonnen, während seine Füße automatisch den richtigen Weg finden. Er
kann sich Tag und Nacht Bilder machen. Mit ihnen versteht er einfach
alles besser.
Neben ihm geht sein Onkel, trägt einen Farbeimer und einen Pinsel in
der Hand. Er verehrt seinen Onkel – oder besser, er hat ein Gefühl für
ihn, wie er es gerne für seinen Vater hätte – wenn er einen hätte.
Dieser stille alte Mann ersetzt ihm den Vater – er ist sein Freund.
„Wir müssen immer Freunde bleiben. Versprochen, Onkel Franz?“, hat er
an einem gefühlstaumeligen Heiligen Abend zu ihm gesagt, als er einen
Stabilbaukasten von ihm geschenkt bekam. Und Freunde sind sie auch
geblieben – bis zu diesem heißen Sommertag.
Er weiß nicht viel über die Vergangenheit seines Onkels. Onkel Franz
spricht wenig – und über sich schon gar nicht. Dass er bei der SS
gedient hat, das ist im Ort bekannt, das weiß er und er weiß durchaus,
was die SS gemacht hat. Sie haben in der Schule viel darüber gehört,
Bilder gesehen und Schuldzuweisung, aber auch Entschuldigungen zur
Genüge gehört. Niemand im Dorf spricht über die SS-Vergangenheit von
Onkel Franz, es ist ihnen nicht wichtig.
„Mein Onkel ist dabei gewesen – klar. Aber so einen Scheiß hat der
nicht gemacht – so was nicht! Leute totmachen und so, das könnte der
nie! Der kann keinem was tun“, hat er seinem Lehrer gestern gesagt, als
der abfragte, ob er ein SS-Mitglied kennen würde. Es war der letzte
Schultag vor den Ferien und im Geschichtsunterricht hatten sie mit der
Befreiung der Menschen aus den Konzentrationslagern das Kapitel „Das
dritte Reich“ abgeschlossen. Der Geschichtslehrer hatte umständlich den
Bildwerfer aufgebaut, während sie rumgealbert hatten. Als im
verdunkelten Raum das erste Bild aufleuchtete, war es still geworden.
Dieses Bild geht jetzt in seinem Kopf herum, will immer wieder
untersucht werde. Ein Menschenberg! Oder waren es Puppen? Tote,
grinsende Gesichter, verrenkte Arme und Beine – alles nackt. Ein
Uniformierter, der an einem weißen Arm zieht. Er sieht ihm die
Anstrengung an; seine Gesichtszüge sind verzerrt.
„Eine Verpflichtung durch die Besatzer. Sie verlangen es, dass ihr es
euch anseht. Wenn es nach mir ginge, würde … Jedenfalls beenden wir
damit das Kapitel deutscher Geschichte“, hatte der Lehrer gesagt und
die Bilder so schnell gewechselt, dass sie sie kaum richtig ansehen
konnten.
Aber er, Ralf, hat es nicht abgeschlossen, es rumort in ihm und kann
noch nicht abgelegt werden. Er denkt daran, wie das im letzten Jahr
war, als er ins Bad gerannt kam und seinen Onkel zum ersten Mal nackt
gesehen hat – ganz nackt. Erst hat er nicht verstanden, warum sein
Onkel so wütend wurde, als er auf das blau-schwarze Zeichen unter
seinem Arm gezeigt hat.
„Was ist das denn?“, hat er gefragt und mit dem Finger drauf gefasst.
Da ist Onkel Franz wütend geworden wie noch nie; so als schäme er sich,
weil Ralf das Zeichen befühlen wollte. Richtig geknurrt und gegrummelt
hat er.
„Ist eine SS-Nummer. Geht dich nichts an. Hast du nicht gesehen – verstanden? Und geredet wird darüber schon gar nicht!“
„Warum? Ist das denn schlimm? Das weiß doch jeder – das mit der SS.“
„Das ist scheißegal! Es gehört nicht ans Tageslicht; es ist vorbei!
Weg! Nie mehr wird das eine Rolle spielen! Bin nicht achtzig geworden,
um mich in diesem biblischen Alter noch an den Pranger stellen zu
lassen! Von keinem, hast du gehört?“
Der Tag beginnt, wie er sich die warmen Tage der Sommerferien
vorgestellt hat; er darf seinen Onkel auf den Streifzügen durch die
Wälder begleiten, lässt sich Bäume und Pflanzen erklären, lauscht mit
ihm auf den Ruf der Eichelhäher und muss immer wieder über komische
Geschichten lachen, die sein Onkel einstreut.
„Weißt du, warum die Eichhörnchen auf den Bäumen leben? – Nein? – Weil
ihr Schwanz so steil nach oben zeigt – und da haben sie angenommen, das
wär ein Hinweis, dass sie nach oben klettern sollten. – Wirklich,
kannst du mir glauben!““
Er glaubt ihm meistens, aber bei solchen Geschichten ist er eher misstrauisch.
„Hörst du sie? Die Industrie-Bahn kommt!“
Sie sitzen am Abhang, lassen sich von der Sonne wärmen, hören, wie ein
Zug klackernd und rumpelnd die Weiche hinter der Tannenschonung
überrollt. Er muss an dieser Stelle langsam fahren, denn die Abzweigung
ist alt und der Untergrund nicht gerade fest. Die Züge bringen Material
zum Steinbruch und fahren mit Wagons voller Bruchsteine zurück.
„Da ist er! Siehst du den Dampf?“
Ralf zeigt auf den blauen Himmel über den schwarzgrünen Bäumen. Hinten,
über dem Kiefernwäldchen, steigt ein Gemisch aus weißem Dampf und
dunkelgrauem Rauch in die klare Luft, wandert von Wipfel zu Wipfel,
senkt sich nur langsam auf die Schonung und verschwindet sehr
zögerlich. Die schwarze Lokomotive kriecht um die Ecke, zieht sieben
völlig geschlossene Wagen hinter sich her.
„Warum fahren die noch immer, diese uralten Dinger? Gibt doch heute bessere Loks mit Dieselmotor?“
„Na ja, da hat sich der Besitzer der Industrie-Bahn seinen größten
Wunsch erfüllt. Der hat in den Fünfzigern etliche alte Loks und Wagen
aufgekauft, bevor sie verschrottet wurden. Dampfloks und alle alten
Wagen, die hat der schon immer auf Bildern gesammelt. Der ist ja auch
Mitglied in so einem Verein.“
Ein kleiner Lüftungskamin steht auf jedem Dach, lässt die Wagen wie
Häuser auf Rädern aussehen. Die schweren Rolltore sind mit Bolzen aus
Metall gesichert. Die grüne Farbe an den hölzernen Wänden wirkt selbst
aus der Entfernung alt und schorfig.
„Ich mag diese alten Züge auch, Onkel Franz. Sie sind schöner als die
neuen – und sie haben bestimmt viel erlebt. Dieser Zug ist sicher schon
vor dem Krieg gefahren, den Typ kenn ich gut“, sagt er und Onkel Franz
stimmt nickend zu.
„Seid ihr damit an die Front gefahren worden, damals?“
„Auch, aber mit anderen Wagen. Da waren Fenster drin und richtige
Türen. Später haben diese Dampfloks andere Transporte, mit Wagen wie
diesen hier, also mit Viehwagen, machen müssen.“
Der Zug fährt rechts an ihnen vorbei, schiebt sich hinter einen Hügel
und das Schnaufen der Lokomotive wird immer leiser; sie können die
Vögel wieder hören, die über ihnen in den Eichen sitzen.
„Stinkige Viehwagen? Bah! Wofür wurden sie benutzt?“
„Ach lass! Heute ist ein so schöner Tag, zu schön für alte, hässliche
Geschichten. Hörst du den Häher? Riech nur mal die wunderbare Luft.“
„Ich möchte es trotzdem gerne wissen!“„Später mal. Komm, Ralf! Ich muss
was tun.“ Er packt den Henkel des Farbtopfes und den zerfaserten alten
Pinsel und steht auf.
Onkel Franz ist kräftig, untersetzt, hat einen völlig haarlosen, vom
Schweiß glänzenden, mächtigen Kopf. Man sieht dem Mann sein Alter nicht
an; sein breites Gesicht ist faltenlos, wirkt immer freundlich,
gemütlich – und oft, wie gerade jetzt, sehr nachdenklich.
Er arbeitet eigentlich schon lange nicht mehr, aber als der
Gutsbesitzer ihn gefragt hat, ob er nicht einmal im Jahr die Auswahl
der zu fällenden Bäume übernehmen könne, da hat er sofort zugesagt.
„Sagt der doch glatt, es gäbe im ganzen Umkreis keinen, der mehr davon
verstünde als ich. Wollte mich wohl ködern, der alte Gauner“, erzählt
er mit unverhohlenem Stolz, bevor es an die Holzauswahl geht.
Ralf springt auf, klopft sich den Waldboden von der Hose und nimmt
Onkel Franz den Farbtopf aus der Hand. Sie gehen tiefer in den
Eichenwald, laufen scheinbar ziellos den Hügel herunter; mit suchendem
Blick bewertet Onkel Franz die alten Bäume. Hin und wieder befühlt er
ihre Rinde, blickt senkrecht am Stamm hoch, sucht totes Holz oder
abgebrochene Äste.
Ab und zu verharrt er, fasst den Stamm an, streicht über die Rinde und
nickt bedächtig, öffnet die Farbdose und malt ein großes X auf den
Stamm, genau in Augenhöhe. Seltener, nur bei besonders schön
gewachsenen Stämmen, setzt er ein S hinzu. Das soll „Selbstverbrauch“
heißen, erklärt er und das sei die Nachricht für die Holzfäller, den
Stamm nicht abzutransportieren.
„So ähnlich haben sie damals die Juden gekennzeichnet! Frei zum Abschuss!“, sagt er grimmig dem Stamm, den er gerade anmalt.
„Mit Farbe?“
„Hab dich ganz vergessen, Junge. – Nein, anders; aber sehr deutlich und wirkungsvoll. Ach Quatsch, was soll das alles.“
„Warum magst du nicht darüber reden, Onkel Franz?“
„Worüber?“
„Na, das mit den alten Zügen und mit den Juden. Ich bin ja nicht doof!“
„Nein, das bist du nicht. Aber noch sehr, sehr jung.“
„Und? War das denn schlimm, das mit den alten Zügen? Du sagst mir nie was.“
Er antwortet nicht, erledigt wortlos sein Tagespensum. Die Holzfäller
wollen am nächsten Morgen mit der Arbeit beginnen; der Gutsbesitzer
macht mächtig Druck, weil er Geld braucht.
Am frühen Nachmittag erreichen sie den Waldrand auf der anderen Seite.
Von hier erblicken sie den Fluss, der breit und schwarz, sehr langsam
durch die Wiesen strömt. Dahinter dehnt sich flaches Weideland bis zum
Horizont.
„Hier machen wir Rast; der Ausblick ist schön; er hat fast kein Ende;
ich mag das, wenn etwas ohne ein Ende erscheint“, sagt Onkel Franz und
sie setzen sich auf den alten Baumstamm, an dem die morsche Rinde in
Fetzen hängt; Käfer krabbeln geschäftig über den Stamm, lassen sich
kaum stören.
Sie packen ihre Brote aus, die sie in Umhängetaschen, zusammen mit
einer Blechflasche voll Tee, auf dem Rücken getragen haben. Sie essen,
trinken, betrachten die Fischreiher, die angeberisch über die Wiese
stolzieren, beiläufig ins Wasser schielen und ansonsten nichts tun.
Er spricht ganz leise, kaum vernehmbar, wischt sich dabei mit dem
Handrücken über den Mund. „Du weißt, was ich im Krieg gemacht habe?“
„Na klar. Du warst bei der SS; ich hab doch deine Nummer gesehen. – Und
vorher warst du Polizist; da haben sie dich und Bruno, deinen Freund,
zur SS eingezogen – hast du mal erzählt.“
„Genau! Hast gut aufgepasst. Was wir da machen mussten, das weißt du aber nicht? Du hast mich nie gefragt.“
„Warum? Was habt ihr schon gemacht? Gekämpft, geschossen, Verbrecher erschossen, Partisanen aufgehängt und so was.“
„Junge, Junge! Habt ihr das in der Schule gehört?“
„Auch! Und gelesen hab ich eine Menge. Gibt doch viele spannende
Soldatenbücher. Hab ich aus der Bibliothek der Kirche – die hole ich
mir jeden Sonntag nach dem Gottesdienst. War schon toll, was ihr damals
gemacht habt.“
„Glaubst du? – Ich will dir meine Geschichte erzählen – wenn du willst.
Sie ist nicht schön, toll schon gar nicht. – Aber das mit den Zügen,
das kommt auch darin vor.“
„Ich bin schon dreizehn! Mir kannst du alles erzählen – alles.“
Es wird still; Ralf wartete gelassen und gleichzeitig gespannt. Wenn
Onkel Franz erzählt, muss man Zeit haben und hier im Wald, da haben sie
immer alle Zeit der Welt.
Er kennt seinen Onkel Franz gut; da ist er sicher. Er ist der netteste
Mann, den er kennt. Eigentlich ist er nicht sein richtiger Onkel, aber
da spricht man nicht drüber, hat seine Oma gesagt, die mit ihm zusammen
ist.
Nach dem Krieg ist er angekommen und hat als Möbelschreiner auf dem Gut
gearbeitet. Den Beruf hätte er früher, bevor er Polizist wurde,
gelernt, hatte er Ralf erzählt. „War damals so. Konntest nur Polizist
werden, wenn du vorher was Anständiges gelernt hattest.“
Ralf hat ihn oft beobachtet, wenn er mit seiner schwieligen Hand über
das glatt gehobelte Holz streicht – zärtlich, genau so, wie er seinen
Kopf streichelt, wenn er ihn tröstet. Und das ist oft der Fall in der
letzten Zeit, wenn er mit Mutter über Kreuz liegt, weil die so viele
Sorgen hat – und ihn nicht verstehen will. Bei ihm fühlt er sich sicher
und geborgen – eigentlich nur bei ihm.
„Im Februar 42 sind wir abgefahren, in so einem Zug – aber mit
Fenstern. Bruno und ich sind zusammen geblieben – aus Zufall wohl. Wir
wurden ins Generalgouvernement verlegt, also nach Polen – genauer, nach
Warschau. Da war dieses Judengetto. Wir mussten täglich Juden
rausholen, verladen und wegschicken. Da gab es vor der Mauer, mitten
zwischen hohem, abgestorbenem Gras und krüppeligen Büschen, einige
Gleise – einen vergammelten Verschiebebahnhof.“
„Da wurden die Juden verladen, stimmt´s?“
„Ja, da wurden die Juden verladen. – Hast du einen Freund?“
„Ja – David; er ist Jude, sagt er wenigstens. Aber bei ihm weiß man nie ob er daran glaubt, weil …“
„Aha! Macht dir das was?“
„Was? Das mit dem Juden? Wieso? Sollte es das?“
„Nein, nein! Ich meine nur. Ich habe in Warschau, im Getto, viele Juden gesehen – danach nie mehr.“
„Hast du welche umgebracht?“, fragt Ralf leise, mit verschwörerischer Stimme, Vertrauen signalisierend.
Franz antwortet nicht, blickt ihn nur forschend an, als wolle er
prüfen, wie die notwendige Antwort wirken würde. Mit der klobigen
Rechten fegt er ein paar Brotkrümel von der Hose, stiert auf den trägen
Fluss, als suche er dort eine Antwort.
„Nicht direkt, will ich mal sagen. Wir haben bei dem Aufstand im Getto
natürlich geschossen. Aber ob ich einen getroffen oder getötet habe,
weiß ich nicht.“
„War ja auch richtig wie im Krieg, oder?“
„Ja, das war Krieg. Da hatte ich auch keine Probleme mit. – Die hatte ich erst später, nach diesem Tag.“
„Da hast du welche erschossen, ja?“„Nein! Du hast eine völlig falsche
Vorstellung – und wie du das sagst. Deine Bücher sollte ich mir mal
ansehen. Das war kein Spiel. Und jemanden erschießen oder umbringen ist
furchtbar, es ist das Letzte, was man tun sollte.“
„Ich hab immer gesagt, dass du keinen umgebracht hast – mit Gas oder so.“
„Nein, aber ich war dabei, wenn sie die Juden auf dem Verschiebebahnhof
in Viehwagons und andere Güterwagen verladen haben. Das war nach der
Gettoauflösung. Sie brachten sie alle ins Konzentrationslager;
Treblinka hieß das. Viele wurden dort umgebracht, auch vergast. Aber
selber einen getötet? Nein, da hatte ich nichts mit zu tun.“
„Habt ihr viele Juden verladen?“
„Was nennst du viele?“
„Mehr als tausend?“
„Mehr – eine Menge mehr.
„Unser Kaplan hat im Religionsunterricht mal darüber gesprochen. Er
meinte, es wär schon hart gewesen, aber die Juden wären auch nicht
unschuldig. Immerhin hätten sie Jesus umgebracht; brutal und
unmenschlich. Die meisten Juden hätten keine Seele, sagte er.“
„Wenn er meint. Der muss es ja wissen. Direkt nach dem Kampf in
Warschau haben sie siebentausend Juden vergast; und dreißigtausend
erschossen. Auch brutal und unmenschlich, oder? Ob das reicht, als
Rache für den getöteten Jesus? Wie viel will denn dein Kaplan dagegen
aufrechnen? Was meinst du?“
„Weiß nicht … Sicher, ja, schon … irgendwie kann ich mir das alles
nicht vorstellen – so viele Tausende. So viele hat unser Dorf nicht
mal.“
Die folgende Stille ist anders als sonst. Noch nie hat er solche Fragen
gestellt und noch nie jemandem gesagt, wie viel er davon weiß. Jetzt
muss er über alles Gesagte nachdenken. Er schaut auf die Wiese, auf der
ein paar Kühe grasen, und versucht sich den Verschiebebahnhof
vorzustellen
Er hat Mühe, tauscht das sattgrüne Gras gegen verdorrtes, flach
liegendes, aus, schafft sich einen schienendurchzogenen Platz, vom Wind
gebeugte, blattlose, niedrige Sträucher, die er planlos, achtlos, wie
hingeworfen, verteilt. Noch kommt es ihm nicht trist genug vor, nicht
für so eine Geschichte. Da muss noch was her.
Er findet den Winter schrecklich; also lässt er nassen Schnee fallen,
der das bräunliche Gras kaum bedeckt. Schwarze Vögel denkt er sich noch
an den Winterhimmel und lässt sie langsam über den Platz kreisen.
Dunkel gekleidete Gestalten mit Kopftüchern oder großen Hüten müssen
jetzt in endloser Reihe über die dünne Schneedecke wanken. Er gibt
ihnen Reisekoffer in die eine und kleine Kinder an die andere Hand,
malt junge und alte Gesichter und legt ihnen traurige, verzweifelte
Augen zu.
Neben die Gleisanlage stellt er uniformierte Männer mit Gewehren auf
den Schultern und Pistolen in der Hand. Dem vordersten Soldaten, dem,
der seine Waffe in der Pistolentasche trägt, gibt er das Gesicht von
Onkel Franz und betrachtet seine glanzlosen Augen, die so traurig
blicken wie heute – wie an manchen anderen Tagen.
„Nein“, denkt er, „ich will’s nicht sehen! Bestimmt war’s anders.“
Er schüttelt den Kopf und wirft das Bild raus. „Mehr! Ich will mehr hören! Bitte!“
„Ach Junge! Wir sollten das nicht tun.“
„Doch, Onkel Franz – du musst! In meinem Kopf sind jede Menge Bilder und die sind bestimmt falsch.“
Onkel Franz bricht ein Stück der morschen Rinde ab, beobachtet die
hektisch krabbelnden Käfer, die fettleibige, weiße Made, die sich
langsam krümmt.
„Ja, du hast Recht; was soll’s. – Eigentlich war es immer derselbe
Ablauf. Sie kamen in endlosen Kolonnen aus dem Getto. Vor uns mussten
sie über eine Rampe in die Wagons steigen – so viele wie eben rein
gingen; ein paar von uns mussten ordentlich quetschen und kräftig
nachdrücken, damit sie keine Lücken ließen. Zuerst taten mir die Juden
Leid; sie sahen ärmlich und verhungert aus. Kinder, Frauen, alte
Männer. Aber jeden Tag war es dasselbe Bild. Da stumpfst du ab, du
merkst es überhaupt nicht.
Wir trieben sie auf die Rampe, drückten sie in die Wagen, bis nichts
mehr ging. Sie schrieen uns an, wehrten sich, spuckten uns an. Sie
waren nicht wie Lämmer, eher wie störrische Esel – besonders die
Frauen, wenn sie Kinder hatten.“
„Die wollten sie doch beschützen, oder?“
„Sicher, klar. Aber irgendwann wirst du wütend. Du machst ja
schließlich nur deine Arbeit. Und hinter uns standen sie, die
Kettenhunde und die Aufpasser mit dem Lametta an der Uniform. Bruno
sagte am Abend oft, dass er Angst gehabt hätte, sie würden ihn auch da
rein schieben. Besonders vor den Lamettaträgern hat er sich gefürchtet.
Bruno hat oft leise mit den Juden gesprochen, hat sie getröstet und
beruhigt – trotz seiner Angst.“
„Mit den Juden? – Und du nicht? Hast du sie gehasst?“
„Nein, nein. Ich hab keinen gehasst, nicht einen. Auch die Frau nicht,
die mir zwischen die Beine getreten hat, als ich ihr das Kind vom Arm
nahm; ich wollte ihr ja nur helfen, damit sie leichter die Rampe hoch
kam.“
„Konntest du nichts machen – ich meine wegen der Kinder. ‚Die nicht! Lasst die hier’, konntest du nicht sagen?“
„Du hast keine Ahnung, Junge. Sicher wollte ich gerne was machen, aber
es gab keine Möglichkeit, ihnen zu helfen. Und trösten konnte ich nicht
– womit denn? Ich hätte selber Trost gebraucht. Alle wussten, was denen
blühte. Treblinka! Und alle, die Gebrechen hatten, alle Alten und
Kranken gingen sofort in die Gaskammer. Wir wussten es genau. Unsere
Kameraden, die immer die Züge begleiteten, erzählten uns die tollsten
Geschichten, wenn wir am Abend zusammen saßen.“
„Und dann? Du bist ja früher zurückgekommen, als die anderen Soldaten – hast du gesagt.“
„Was denkst du von mir? Bin ich stark? Bin ich so einer, wie du ihn gerne magst; kräftig, ohne Angst; ein richtiger Mann also?“
„Ja sicher, Onkel Franz. Du bist stärker als alle Männer, die es im Dorf gibt.“
„So? Das hab ich mir gedacht. Ich will dir mal was erzählen. Ja, ich
bin in Warschau, im Getto umgefallen; Nervenzusammenbruch haben sie
gesagt. Ich konnte den Geruch der toten Kinder und Frauen nicht mehr
ertragen. Ich hab geschrien und geweint. Sie haben mich weggebracht, in
ein Lazarett. Danach wollten sie mich nicht mehr.“
„Aber … Warum denn? Ich meine … Du konntest doch nichts dafür, hast du gesagt.“
„Nein, wohl nicht, aber ich war nicht nervenstark. Ich war noch so jung
und hatte vorher noch nie einen Toten gesehen – außer meinen Großvater,
als der friedlich im Bett lag, mit gefalteten Händen.“
„Warst du deshalb ein Kriegsverbrecher? Haben sie dich verurteilt?“
„Nein. Ich war ihnen nicht wichtig genug. Meine Schuld liegt wo anders.
Es ist vorher passiert, als wir sie der Reihe nach raus holten aus dem
Getto und abtransportierten.“
„Und das war schlimm, das hat dich getroffen?“„Ja“, sagt er
nachdenklich, „es fing damit an, dass sie mir erst egal wurden und ich
sie plötzlich sogar verachtete – das kennst du doch auch, das Gefühl.
Jedenfalls, nach einigen Wochen war das Mitleid weg. Du musst dir diese
riesigen Schlangen, grau und dunkel gekleideter Leute vorstellen. Sie
krochen aus den Ruinen, über den Platz, du sahst kein Gesicht, keinen
Menschen; es waren nur noch Transporteinheiten. Mehr nicht. Du stumpfst
erst ab und dann geht es schnell. Du ärgerst dich über jeden
Widerstand, über unnötige Verzögerungen. Irgendwann kommt die Wut und
du gibst ihnen die Schuld an der ganzen Scheiße. Du weißt genau, dass
jetzt der Moment ist, wo du versagst – trotzdem wirst du zum Unmenschen
und bedauerst es nicht einmal.“
„Du hast die Juden gehasst, weil du versagt hast?“
„Ich weiß nicht. Hass ist was anderes. Hass hat man auf ein bestimmtes
Gesicht, in das man rein hauen möchte. Da war kein Gesicht. Vielleicht
– vielleicht war das alles auch nur ein Alptraum.“
„Aber sie haben dir nichts getan – und du ihnen auch nicht. Das war doch damals so. Du konntest nichts dafür.”
„Wenn du dich da man nicht irrst. An einem Tag, Anfang Juni 42, standen
Bruno und ich vor dem Verschiebebahnhof und dirigierten die Schlange in
die Wagen. Es musste schnell gehen; der ganze Abtransport dauerte ihnen
zu lange. Wir sollten mächtig Druck machen, sagten sie. Bruno stand mir
gegenüber und wir schimpften mit den Leuten, schoben sie vorwärts.
Eigentlich war Bruno an dem, was passierte, schuld.“
„Du sagtest doch, dass Bruno …“
„Ja, aber ihm ging’s wie mir. Er war auch abgestumpft. Er stieß eine
Frau mit dem Gewehrkolben – nicht vor den Körper, das hät er nie
gemacht – nein, er schlug auf den Koffer, den sie mühsam trug – und der
platzte auf. Er war wohl ziemlich alt, dieser Pappkoffer, nur mit
Schnüren und Bändern gehalten. Er klappte auf und alles flog in den
Dreck. Es war heiß an dem Tag, staubig, und wir waren genervt von den
ständigen Unterbrechungen. Mal konnte eine alte Frau nicht mehr gehen,
und sie trugen sie erst, wenn man sie anbrüllte, mal fiel einer einfach
um und blieb liegen; es stockte pausenlos. Und dann dieser Mist mit dem
Koffer!“
„Die hab ich gesehen, auf den Bildern. Die trugen immer solche Pappdinger mit Riemen und Bänder drum.“
„Ja, so einer war das. Die Frau hatte ein leichtes, geblümtes
Sommerkleid an und einen grauen Staubmantel auf dem Arm. Und da lag
plötzlich ihr ganzer Besitz im Dreck: Unterwäsche, Strümpfe, Kleider,
Briefe, zwei Bücher. Sie wollte sich bücken und alles wieder
einsammeln. Stell dir das vor, sie hielt den ganzen Transport auf wegen
dieser erbärmlichen Sachen.
„Na ja! Wenn meine Klamotten da gelegen hätten … Durftet ihr nicht helfen?“
„Bist du verrückt? Sie hätten uns anschließend erschossen oder ins
Lager gesteckt – glaubte ich damals wenigstens; es wurde uns immer
erzählt. Nein, nein. Ich brüllte also diese Frau an, sie solle den Mist
liegen lassen und weitergehen. Aber die hat mich nicht mal angesehen;
sie fiel auf die Knie und sammelte alles ein – hastig, sehr hastig,
machte sie das. Sie raffte alles einfach zusammen und warf es in den
Koffer. Zuerst die Wäsche, die Briefe und … Stell dir vor, sie wollte
die Bücher abstauben. Vielleicht war das ihre Bibel, was weiß ich.
Stell dir das vor! Es dauerte einfach zu lange; ich sah schon rot. Ich
hab sie angeschrien: ‚Los, los! Voran!’, hab ich geschrien. Alles stand
doch still und am Wagen warteten sie.“
Er atmet schwer und holt sein riesiges kariertes Taschentuch raus. Ralf
sieht die schweißnasse Stirn und den roten Schädel, auf dem die
Wasserperlen glitzern. Onkel Franz putzt sich über den Kopf und
schnauft kräftig und laut ins Tuch, faltet es sorgfältig und steckt es
langsam wieder in die Hosentasche.
„Mir ist ein bisschen schlecht“, stöhnt Ralf, „ich hab das Brot nicht vertragen – und ich hab schreckliche Bilder im Kopf.“
„Komm, wir gehen lieber. Es wird Zeit.“
„Nein, nein! Die Bilder verschwinden doch nicht mehr.“
„Also gut. Obschon das Schlimmste … Es dauerte einfach zu lange. – Ich
weiß nicht, wie es kam, ich bin einfach wütend geworden, furchtbar
wütend. Ich hab geschrien und mit dem Gewehrkolben zugeschlagen. Auf
den nackten rechten Arm. Es hat gekracht, als der Knochen brach. Der
Arm hing einfach runter. Es war ganz still rundum. Sie hat nicht
geschrien. Wär mir lieber gewesen, sie hätte es getan. Nur angeschaut
hat sie mich, nur … – Bruno hat es gemacht, er hat ihr den Rest
eingepackt, hat den Koffer zugebunden und in ihre linke Hand gedrückt.“
Ein grauer Reiher erhebt sich, zieht seine langen Beine nach hinten,
streicht über die Wiese und lässt sich am Ufer sanft ins seichte Wasser
runtergleiten.
Ralf friert plötzlich, die Übelkeit ist schlimmer geworden. „Mir ist kalt“ sagt er flach.
Er glaubt, dass es am auffrischenden Wind liegt, der vom Fluss kommt, über das Gras streicht und sich in den Bäumen fängt.
„Es gibt anderes Wetter“, sagt Onkel Franz, als ein heftiger Windstoß in die Bäume fällt; es rauscht und die Äste knarren.
„Was wurde mit Bruno?“
„Nichts! Gar nichts. Bruno war nicht dumm. Er hat einfach laut dabei
gelacht und der Frau nachgerufen, sie soll nächstens aufpassen, sonst
müsse er sie selber in den Koffer stopfen. Da haben die Kettenhunde
gelacht, alle anderen auch. – Ich nicht! – Ich wusste was ich gemacht
hatte. Ich hatte sie zum Tode verurteilt, sie einfach umgebracht.“
„Was? Wieso das? Du hast sie doch nur einmal geschlagen. War doch nur ein Armbruch.“
„Du weißt nichts, gar nichts. Ich hab sie in die Gaskammer geschickt,
direkt nach der Ankunft in Treblinka ist sie hingerichtet worden“, sagt
er so heftig, dass Ralf zusammen zuckt.
„Was? Deswegen? Woher weißt du das?“
„Ach Junge, das ist einfach; es war halt so; sie brachten alle sofort
um, die zu alt, die gebrechlich oder krank waren. Die konnten eine Frau
mit zersplittertem Arm nicht gebrauchen für die Arbeit; sie war nichts
mehr wert.“
Ralf schluckt. Er versteht nur ganz langsam, jetzt begreift er das
lange Zögern von Onkel Franz. Sein Bild, sein schönes, in Jahren
gebasteltes Bild gerät ins Wanken, als zerre ein heftiger Sturm daran.
Er versucht zu retten, sucht fieberhaft nach Entschuldigungen; er
braucht jetzt Hilfe, viel Hilfe – das spürt er und fühlt sich furchtbar
im Stich gelassen.
„Onkel Franz! Überleg doch mal. War die Frau nicht schon alt?“
„Nein, sie war jung, sehr jung.“
„Wie jung denn, fünfzehn, zwanzig?“
„Mehr, dreißig – sicher.“
„Siehst du! Also doch schon ganz schön alt. Da hätte sie auch so
vergast werden können.“„Nein, lass das sein. Sprich nicht so über das
Vergasen. Du weißt nicht, worüber du sprichst.“
„Aber. – Ich meine doch nur … Wenn sie doch sowieso …“
„Nein! Nein! Sie war zu jung.“
„Bitte! Onkel Franz, bitte …“
„Ich kann dir nicht helfen“, sagt Onkel Franz leise, als er das
Salzwasser in den Augen des Jungen sieht. „Ich kann nichts anderes
sagen.“
Er steht auf, wischt fahrig über den Hosenboden und greift seine Sachen.
„Komm, wir müssen gehen. Es wird Zeit.“
Sie laufen wortlos in den Wald; Ralf schlägt mit einem Ast an jeden
Baum, der ihm im Wege ist. Es klingt wie ein Trommelschlag durch den
Wald. Sie sehen das rote Dach ihres Hauses schon zwischen den
Birkenbäumen, als Ralf plötzlich stehen bleibt und den Stock weit in
den Wald wirft.
„Wie sah sie aus, Onkel Franz? War sie schön?“
Franz schaut ihn verwirrt an; er war weit weg mit seinen Gedanken. Er
lehnt sich an einen Birkenbaum, stemmt die Beine in den weichen Boden.
Er sieht den Jungen an, der ihm so wichtig ist wie sein eigener Sohn.
„Warum willst du das wissen?“
„Ich will an sie denken; ich muss an sie denken können. Gib ihr ein Gesicht, bitte.“
„Nein! Hör endlich auf! Es war schon mehr als genug.“
„Wie sah sie aus?“
Es dauert lange, bis Onkel Franz redet, halb für sich selber. „Ich war
ein Narr, dass ich diesem unreifen Jungen – den ich auch noch so gerne
mag – das erzählt habe. Ich hätte es nicht tun dürfen – seinetwegen.“
„Ihr Gesicht!“
„Ach Junge! Das eben war mein Problem, – das kannst du nicht verstehen.
Es gab auf einmal ein Gesicht – und was für eins! Die Juden hatten
tatsächlich Gesichter. Es waren Menschen. Richtige, normale Menschen.
Frauen, jung und hübsch. Alte, die ihre Falten hatten, aus denen man
das Leben ablesen konnte. Nichts war mehr wie vorher. Aus den anonymen
Menschenschlangen war ein Gesicht heraus gekommen – alle hatten solche
und ähnliche Gesichter, das wurde mir klar.“
„Und sie? Wie war sie?“
Onkel Franz macht den Mund kaum auf; seine schmalen Lippen bewegen sich
nur unmerklich. Ralf starrt in das Gesicht, das ihm so vertraut ist,
liest jedes Wort ab.
„Ihre Haare waren schwarz, schulterlang; ihr Gesicht schmal, sehr blass
mit hohen Backenknochen. Ihre Augen! Mein Gott – Augen machen es, nur
die Augen. Sie waren grün, ja, richtig grün. Ihr Kleid hatte einen
Ausschnitt. Man konnte … ich … an ihrem Hals pulsierte eine blaue Ader,
schnell wie bei einem ängstlichen Tier. Ihre Augen. Sie hat mich nur
angesehen – ich hätte mich am liebsten versteckt. Sie hat nicht
geweint, nicht geschrien, sie hat mich nur ewig lange angesehen.“
Ralf hat das Bild nachgemalt, in seinem Kopf ist es fertig. Sie ist
wunderschön und zart, gebrechlich fast. Er starrt seinen Onkel an; ihm
ist eiskalt und als er in seine Augen blickt, sieht er keine Regung. In
diesen Augen ist nichts, was ihm helfen könnte.
„Ist das mein Onkel, mein Taufpate – mein Freund? Ist das der Mann, der
aus dem Stall gehen muss, wenn ein Schwein geschlachtet wird?“
Der Halt, den er für sicher gehalten hat, an dem er sich geklammert
hat, wenn’s schwierig wurde, der nie infrage stand, gibt plötzlich
nach, stützt ihn nicht mehr. Er weiß nicht, ob er alles verstanden hat,
ist unsicher und hat Angst, dass es eine ganz andere Wahrheit geben
könnte, als die, die er bisher gekannt hat.
„Ich will nichts mehr davon hören, nichts!“, sagt er sehr leise. Onkel Franz nickt und schweigend gehen sie auf´s Haus zu.
„Er hat dieses Mädchen einfach geschlagen! Warum?“, denkt er
verzweifelt. „So was kann doch keiner machen, verdammt!“ Er drückt die
Tränen herunter. Nie wird er wegen dem Mädchen weinen, schwört er sich.
Nie! Und plötzlich hat er Angst vor der Nacht und grünen Augen.