Die beiden
Alten biegen von der Straße ab, schwenken ein in den schmalen Wirtschaftsweg,
der auf den Weinberg führt. Der Mann sieht sich sichernd um, lächelt zufrieden,
als er die menschenleere Landschaft sieht.
Es ist
still hier, nur ihre Schritte sind zu hören. Sie gehen langsam, vorsichtig,
weichen den Spuren der Wagenräder aus. Tastend schieben sich die Füße der Frau
vor, ohne dass sie den Boden verlassen; sein Schritt ist kräftiger, passt sich mühelos
ihrem Rhythmus an.
Sie ist
zierlich, fast dürr; die grauweißen Haare wirken ungepflegt, hängen bis zur
Schulter herunter. Sein rechter Arm umfasst ihre Taille, führt und stützt sie
so. Hin und wieder hebt er den Kopf, hält Ausschau nach seinem Ziel. Der Weg
steigt nicht sonderlich stark an, windet sich um den Berg und man sieht nur
wenige Meter voraus.
„Komm!“,
sagt er und sein Atem geht schwer. „Komm, du schaffst es. Nur noch bis da vorne
– es ist nicht mehr weit.“
Sie gehen
weiter, schweigend, setzen Fuß vor Fuß. Über ihren Köpfen hängt ein
Krähenschwarm, lässt sich nach rechts abkippen und verschwindet zwischen den
Reben.
„Siehst du
die Bank? – Ja? – Da, kurz vor der nächsten Biegung?“, fragt er leise und drückt
sie aufmunternd.
Sie sagt
nichts, schlurft weiter, setzt automatisch einen Fuß vor den anderen. Er lenkt ihre
Schritte so, dass sie zwischen den Furchen gehen kann, die schwer geladene Fuhrwerke
in den Boden gepresst haben.
„Nicht
schlapp machen! Wir haben’s uns doch vorgenommen für heute. Was hab ich zu dir gesagt?
Lass uns noch einmal zu unserer Bank gehen, hab ich gesagt. Wer weiß, wie oft
wir’s noch können. So viele Jahre waren wir nicht mehr hier, aber du wirst dich
an sie erinnern. Es war doch immer unsere Bank – schon seit damals. Du musst
dich erinnern! Du musst!“
Er ist
nicht viel größer als sie, auch nicht sonderlich kräftig, und man sieht an
seinen verzerrten Gesichtszügen, dass die Last ständig schwerer wird.
„Halt!
Warte einen Moment“, sagt er, keucht und drückt die Faust in die Seite.
Sie geht
weiter, gleitet aus seinem Arm, hängt schräg da und ihre Beine verheddern sich.
Er stolpert ihr nach und umfasst sie mit beiden Armen.
„Na, na!
Das war knapp“, sagt er vorwurfsvoll. „Kannst nie auf deinen Mann hören, was?
Bleib mal kurz so stehen, bis ich wieder bei Kräften bin. Runter geht’s nachher
leichter.“
Er lässt
sie nicht mehr los, atmet tief durch, bis die Seite nicht mehr so schmerzt. Langsam
gehen sie voran, heben nicht einmal den Kopf, sehen nicht auf zu den Rebstöcken,
die sich rechts, oberhalb der Stützmauer endlos dehnen. Die Blätter sind schon
voll entfaltet, die schlanken Triebe haben sich um die Drähte gewunden, treffen
Vorbereitungen für die schweren Lasten, die sie bald tragen müssen.
„Weißt du
noch, wie du plötzlich von der Bank aufsprangst, wenn ich dich zu sehr drängte?
Wie wir verlegen gelacht haben und dabei talwärts gerannt sind? Der Duft der
Trauben hing in der warmen Luft; wir waren erhitzt von – von unserer Liebe. Du
liefst immer vor, wolltest den Wind spüren, der dein Kleid anhob. Deine nackten
Beine flogen nur so – und du hattest die Hoffnung, dass ich dich einholen
würde. – Sag nicht, das stimme nicht! Wenn ich dich dann hatte – da hinten, da,
wo sie die Treppe in den Weinberg gebaut haben, hab ich’s meist geschafft – dann
drehtest du dich um und fingst mich auf. Weißt du noch, wie …“, sagt er und schweigt
– wie sie, die starr an seinem Gesicht vorbei zur Bank blickt.
„Wie du geduftet
hast! Nie vergesse ich das. Deine Haut hatte einen Duft! Konntest mich ganz
verrückt machen.“
Sie steht
starr, die Augen blicken ins Leere, als suche sie nach einer Erinnerung.
„Komm, mein
Mädchen“, sagt er leise. „Komm. Kannst dich nicht erinnern, was? Ist lange her;
viel zu lange. Vielleicht kommt’s ja noch, wer weiß …“
Sie ziehen
weiter, langsam, Schritt für Schritt. Vor der Bank bleiben sie stehen, atmen
schwer; er schiebt sie mit dem Rücken zur Sitzfläche, lässt sie sanft herunter
gleiten, drückt sie an die Rückenlehne, die voller Symbole der Liebe ist. Mit
dem Messer eingeritzte Herzen, vom Pfeil durchbohrt; Buchstaben ineinander
verschlungen, sich geheimnisvoll, rätselhaft fast, einen neuen Sinn gebend. Und
krakelig geritzt, kann man die Botschaft lesen: Ich liebe dich – E + E.
„Sie ist
wohl immer noch der Treffpunkt der Liebenden“, sagt er und setzt sich zu ihr.
„Weißt du noch, wie oft sie schon besetzt war, wenn wir hier ankamen? Hat mich
immer mächtig gewurmt, wenn da Fremde auf unserer Bank saßen.“
Still sitzen
sie da, sehr lange, rühren sich nicht. Er blickt auf die Wiese, die vor ihren
Füßen in sanften Schwüngen talwärts läuft; die Frau hat den Kopf noch nicht
bewegt, ihre Blickrichtung ist nicht genau bestimmbar.
Leise erst,
zögernd, als warte sie auf Zustimmung, beginnt eine Glocke zu läuten. Dann
mischt sich eine zweite ein, webt ihre tiefen Töne um die schlanken, umfasst
sie, bis sie eins werden.
„Ist gleich
Andacht. Waren lange nicht mehr in der Kirche, was mein Mädchen?“
Hinter den
Kirschbäumen, die den Weg auf der Talseite ein Stück säumen, sieht man den
nadelspitzen Kirchturm und hinter halbhohen Büschen ein Gewirr roter Dächer.
Der Blick
der Frau ist leer; sie nimmt die Amsel nicht wahr, die gegenüber im Gras
trampelt, um die Würmer an die Oberfläche zu locken; sie sieht nicht, dass ihr
Mann seinen Arm hebt und auf den aschefarbenen Platz zeigt, der da unten, am
Dorfrand, gerade noch zu sehen ist.
„Da, man
sieht ihn heute noch wie früher von hier oben – den Festplatz, meine ich. Ja,
schön ist es hier. Sie haben alles so gelassen, nichts zugebaut. Nur wir beide,
wir haben uns mächtig verändert, was?“, sagt er heiser und lacht.
Und wieder wird
es still. Es raschelt im Gras und hinter ihnen steigt der Krähenschwarm wütend
protestierend aus dem Weinberg hoch. Weit hinten schlängelt sich das bleigraue
Band der Mosel.
Sein Blick gleitet
vom Tal rüber zur Rechten, wo sich die Weinberge im Dunst dehnen und am
Horizont ihre Konturen verlieren. Steil steigen sie hier an, der Hang muss
gegen das Abrutschen durch eine Mauer gestützt werden, die den ganzen Weg säumt.
Viele Male ist er hier aufgestiegen, die schwere Kiepe auf dem Rücken, hat
gesungen – wie die alten Frauen von der Hunsrück-Höhenstraße, die täglich zur
Weinlese abgeholt wurden.
„War eine
prächtige Zeit, damals, was?“, sagt er und denkt an die Feste, die sie gefeiert
haben, wenn die Ernte eingebracht war. „Was konnten wir damals tanzen! Da waren
die Knochen noch elastisch. Aber jetzt? Alte Knochen sind morsch, sagte mein Vater
früher immer, morsch und brüchig. Na ja, es sind ja auch mehr als fünfzig Jahre
vergangen, seit damals. Fünfzig Jahre! Und mir ist, als wär’s gestern gewesen.
Denkst du auch so? Ich weiß noch genau, wie es damals war. Du auch? – Erinnere
dich!“
Sie schaut
blicklos zum Kirschbaum, knapp an seinem Blätterturm und Blütendach vorbei. In
ihrem Gesicht regt sich nichts. Das rechte Auge hängt ein wenig schief nach
unten, der rechte Mundwinkel glänzt vom Speichel, der in dünnem Faden am Kinn herunter läuft.
„Ja, ja. Besonders
das eine Winzerfest werde ich nie vergessen – und ich glaube, du auch nicht. Es
war das erste Fest nach dem Krieg und alle waren so voller Hoffnung und Freude.
Das ganze herrliche Leben lag vor uns. Musik war in der Luft.“
Er versinkt
in Gedanken, die Vergangenheit rauscht vorbei, Bilder und Klänge – Fetzen nur
und Bruchstücke. Langsam kommt er in die Gegenwart zurück, stampft energisch
mit dem rechten Fuß auf, als wolle er ein Ausrufezeichen setzen. Die Amsel bleibt
stehen, beäugt ihn misstrauisch.
„Sag mal,
weißt du eigentlich, dass du mich ganz wild gemacht hast, weil alle Burschen
dich zum Tanz holten? Und du hast sie angelacht! Menschenskind, was war ich
eifersüchtig. Wirklich, ich war da schon verliebt in dich, konnte es nur nicht
zeigen – war damals wohl ziemlich schüchtern.“
Er fasst
ihren Kopf mit beiden Händen, dreht ihn, der nicht widerstrebt, sanft nach links,
bis sie zur Kirchturmsspitze schaut, von der die letzten Glockenschläge ertönen.
„Da haben
wir geheiratet; schon sechs Monate nach dem Winzerfest. Es konnte uns alles
nicht schnell genug gehen. Quirlig waren wir, so richtig zappelig vor Ungeduld.
Damals wartete man noch auf den Tag – die erste Nacht – und genoss die
Spannung. Wir hätten uns nicht getraut es zu tun. Obschon – was meinst du,
wie’s mich gedrängt hat. Aber damals …“
Vorsichtige
dreht er ihren Kopf zurück, in die alte Blickrichtung. Man sieht seine
feingliedrigen Finger, ahnt, dass sie nicht für schwere Winzerarbeit geeignet
waren.
„Eigentlich
wollt ich schon in dem Jahr zur Uni gehen. Bloß gut … Wer weiß, wie alles …
Jedenfalls, ich kam gerade aus dem Zelt, hatte mir einen Schoppen Wein geholt. Das
Weinglas wär mir fast aus der Hand gefallen – du ahnst nicht, wie erstaunt ich war,
als ich dich erblickte. Du hocktest auf der Bank, auf meinem Platz, und hast mich
angelächelt. Du hattest längst bemerkt, dass ich immer deinen Blick suchte. Ja,
mein Mädchen, ich weiß, du hast nur mit mir gespielt, wolltest sehen, ob ich
eifersüchtig wurde. Oh ja! Du warst ein richtiges Aas.“
Er lacht
und wischt sich mit dem Jackenärmel über das faltige Gesicht, in dem die
Bartstoppeln einen blauen Schatten zeichnen.
„Komm, hast
du gesagt, komm und setzt dich, ich rücke. Es war eng auf der Bank, wunderbar
eng. Ich hab meinen Wein vergessen, hatte mich ja eigentlich deinetwegen besaufen
wollen. Dein Arm lag zwischen uns, dein nackter Arm. Ich hab mir fast in die
Hose gemacht vor Angst, dachte, du würdest gleich aufspringen und mich
auslachen. Aber ich konnte nicht widerstehen. Weißt du, was ich meine? Wie ich
mich rangetastet habe?“
Er nimmt
vorsichtig ihren rechten Arm, zieht die leb- und gefühllose Hand von ihrem
Schoß auf die Bank und betrachtet sie. Da liegt sie, völlig ausgestreckt, wie
tot, der Handrücken voller Altersflecken, die geschrumpelte Haut in Falten.
Seine Finger schweben zittrig darüber, senken sich langsam, berühren die Haut
kaum, gleiten höher, bis zum nackten Arm, an dem ihre Knochen die Konturen
zeichnen.
„Weißt du’s
noch? So – genau so – vielleicht noch zittriger als heute, wo ich nicht mehr
die Gewalt drüber habe. Was hab ich gezögert, damals. Ich spürte in den
Fingerspitzen die Wärme deiner Haut, ich fühlte, wie sich die feinen Härchen
aufstellten, zu meinen Fingerspitzen strebten. Du bewegtest dich nicht – du
sahst mich nur an. Ich konnte nicht aufhören; noch nie hatte ich eine solche
Haut gespürt, so glatt, so weich, so warm, die sich meinen Fingern anbot“, sagt
er leise und sieht zu ihr hin.
Sie schaut
ihn an!
„Was ist da
…? Hat sie den Kopf gedreht?“, überlegt er verwirrt und wundert sich.
Sie sieht
ihn an!
Die Leere scheint
weg zu sein aus ihren Augen; er sieht sich da drin, glaubt ein Lächeln zu sehen,
das Lächeln, das er damals gesehen hat, als sie nebeneinander auf der Bank
saßen.
Er schluckt
und reibt sich verstört das Stoppelkinn. Er blickt weg, rüber zur Kirche und dann
erneut in ihre Augen, die ihn starr ansehen. Er merkt nicht, dass er noch immer
mit hauchzarter Berührung ihren Arm streichelt, den faltigen Handrücken, die
Finger.
„Damals – damals“,
sagt er und seine Stimme ist kratzig. „Hörst du? Damals, als wir uns zum ersten
Mal geküsst haben – das war hier auf der Bank –, da hast du gesagt, dass ich
dich verführt hätte, mit dieser – na ja, also mit dieser Berührung. So, hast du
gesagt, hat mich noch keine Hand berührt; so hat mich noch nie eine einzige Berührung
für ein ganzes Leben gefesselt. Das hast du gesagt und mich dabei angeschaut
wie jetzt.“
Er hört
wieder ihr Lachen, das so leicht und hell war; er sieht sie tanzen und fühlt noch
einmal ihr Glück.
„Später
hast du oft gesagt, ich sei ein Zauberer, ich würde dich mit meinen Händen
verzaubern“, sagt er leise. „Hast du alles verstanden? Du verstehst alles,
nicht wahr mein Mädchen? Kannst es eben nicht mehr so zeigen.“
Er weint
ein wenig; die Tränen holpern über seine faltigen Wangen. „Komm, ist schon gut.
Wir beiden, wir …“, sagt er und seine Stimme wird immer leiser.
Sie sieht
ihn an; ihre Augen sind starr und sie bewegt sich nicht, als er sie federleicht
auf die Augen küsst.
© Eduard Breimann März 2004