„Du musst ihn endlich besuchen. Warum sperrst du dich so? Immer nehme ich dir den Gang nicht ab."
„Dafür habe ich keine Zeit!", sagte er ungehalten; sein Gesicht lief rot an.
Corinna blickte von ihrem Frühstücksteller hoch, sah ihn kurz an und zuckte mit den Achseln.
„Du hast auch 24 Stunden zur Verfügung - wie ich und andere; dir fehlt nicht eine Minute."
„Meine 24 Stunden sind andere als deine", sagte Gunther leise, fast ein wenig drohend. „Mit wesentlichen Dingen gefüllt."
„Ach ja?"
„Ja, tatsächlich. Ich muss auf jede Minute achten, muss am Tag bis zu zehn Termine einhalten. Und du? - Du machst Frühstück für uns, kochst Mittagessen für dich und die Kinder; abends gehen wir meistens auswärts essen. Hab ich was vergessen? Ich glaube nicht. Rede du mir nicht über Zeit."
„Na wunderbar! Da waren wir schon oft. Dass ich den Haushalt schmeiße, mich um die Schularbeiten der Kinder kümmere, einkaufe und putze und alle Finanzsachen kläre, das ist natürlich nichts; das hast du noch nie verstanden."
Er grunzte und trank seinen Kaffee hastig, laut schlürfend. Den Streit über dieses Thema hatten sie schon zu oft geführt; es gab keine neuen Argumente mehr. Sie verstand ihn doch nicht.
„Was soll´s", dachte er und griff sich sein Handy. Während er die Kurzwahltaste für sein Büro drückte, goss er sich die letzte Tasse Kaffee ein.
„Ja, hier Schröder. - Morgen. - Gibt´s was Neues? - Aha! - Gut. Ich bin gleich um neun bei Simons & Schulte. - Ja. - Vergesse ich nicht; um 10 also bei Runkels. - Gut. Und, Frau Bürger, vergessen Sie den Vertrag nicht. - Ja, bis irgendwann."
Er legte das Handy neben sich und trank mit abwesendem Blick; er war längst eingetaucht in die Gesprächsproblematik mit den Herren bei Simons & Schulte.
„Frank hat aber heute Geburtstag. Hast du das vergessen? Allein deshalb solltest du ihn besuchen", sagte sie und ihr Ton war drängender.
Sein Blick kehrte zurück in die Gegenwart, streifte Kaffeetasse, Handy, ihr Gesicht.
„Ich sagte dir doch: Ich habe keine Zeit!"
„Er erwartet dich - heute!"
„Ach? Er erwartet mich? Und deshalb müssen wir ihn heute besuchen?"
„Wir? Er ist dein Bruder - und an seinem Geburtstag musst du ihn besuchen."
„Mein liebes Kind!", sagte er und sein belehrender Ton riss ihren Kopf hoch. „Weißt du überhaupt, was Zeit ist? Ahnst du, was eine gut geplante Zeiteinteilung bedeutet? Weißt du, seit wann die Termine dieses Tages geplant, abgestimmt, zeitlich koordiniert und letztlich festgelegt wurden? Ahnst du, wie viele Menschen von einer Terminverschiebung betroffen sein werden? Weißt du, was es heißt, wenn auch nur ein Termin platzt? - Natürlich weißt du das alles nicht - wen frage ich da."
„Du hättest deiner Frau Bürger, dieser Zeitverplanungsdame, den Geburtstagstermin deines Bruders aufschreiben müssen; das ist auch ein Termin - ein lange feststehender übrigens."
„Wenn ich meinen Bruder besuchen würde, müsste ich für Hin- und Rückfahrt, Blumenkauf und eine halbe Stunde Aufenthalt, mindestens zwei Termine des heutigen Tages absagen. Das geht nicht."
„Eine halbe Stunde? Aha! Es wird gehen müssen. Ich fahre in keinem Fall hin."
Die Töne hatten sich verschärft, waren dicht an der Grenze eines etwas abgehobenen Ehestreites angekommen.
Sein Blick wechselte von der Kaffeetasse zu ihrem Gesicht, beide Male forschend, fragend, glitt zögernd zum Handy, diesmal sehr, sehr unentschlossen, blieb an dem noch leuchtenden Display hängen.
„Du magst ihn nicht? Was hat er dir getan? Er ist ja immerhin dein Schwager."
„Gunther! Er muss mir nichts getan haben, um dich heute sehen zu wollen. Das sind zwei völlig verschiedene Dinge. Ich mag ihn, aber er ist dein Bruder."
„Also hat er dir doch was getan."
„Hör auf", sagte sie flach.
„Also, - gut. Ich will´ s versuchen."
Er griff sich das Handy, während sie angestrengt in die Kaffeetasse schaute. Er war wütend, man sah es an jeder seiner etwas kantigen, ruckartigen Bewegungen.
„Ja, ich bin´s noch einmal. - Nein! - Verdammt, warten Sie doch. Hören Sie - was haben wir heute zwischen drei und halb fünf? - Ah! Grabbel um drei und Vorstand um vier? Das ist übel. - Passen Sie mal auf. Ich muss weg. - Ja, zwischen drei und halb fünf. Den Grabbel-Termin legen Sie um. - Nein, das ist nicht so wichtig. - Natürlich. Von mir aus auch nächste Woche. - Gut. Und im Vorstand vertritt mich Heimer. - Den soll er verlegen, klar? - Ja natürlich. Wofür hab ich einen Stellvertreter. Alles klar? Bis dann."
„Es geht also doch? Du fährst hin?"
Sie versteckte jedes Triumphgefühl; ihre Frage klang so sachlich und sanft, dass er keinen Ansatz für einen Ausbruch finden konnte.
„Ja. Ich muss jetzt los. Es wird Zeit für mich."
Er schob den Stuhl zurück und nickte ihr leicht zu; andere Formen des Abschieds waren längst dem leichten „Ich muss los" zum Opfer gefallen.
Frank hatte das Fenster genau vor dem Gesicht, es war höchstens drei Meter entfernt. Es war etwa einsfünfzig mal einsfünfzig, also nicht sehr groß. Es hatte keine Gardinen und das Glas war blank geputzt.
Von seinem Bett aus bestanden zwei Drittel des Ausblicks aus Himmel. Der war im Moment winterhell; dünne Hochnebel standen scheinbar starr, ließen keine Bewegung erkennen, obschon sie sicher da war. Das erkannte er am letzten Drittel seines Ausgucks; da schoben sich filigrane schwarze Zweige, Äste und Ästchen ins Bild, ließen in den Lücken Platz für das Graue am Himmel. Sie zitterten ab und zu, schüttelten sich, als ob sie die Januarkälte, der böige Wind, erschauern ließen.
Sein Bett hatte eine leichte Neigung nach unten, so dass sein Kopf erhöht war. Er lag starr, völlig bewegungslos; nicht einmal die Augenlider zuckten.
Ein Vogel warf sich ins Bild, schwarz, wie Wintervögel sind, strich quer durch und verschwand.
Es war totenstill in dem kleinen Zimmer, das außer dem Bett, einem kleinen quadratischen, mit Resopalplatte bedecktem Tisch, einem Besucherstuhl und einem hellgrünen Kunststoffschrank nichts enthielt. Ach ja, dicht neben seinem Kopf stand ein Plastik-Nachtschrank. Oben drauf lagen zwei Tuben Salben und eine Mullbinde.Er war frisch rasiert und gekämmt. Sein jugendlich wirkendes Gesicht leuchtete rot von der Behandlung durch Schwester Julia. Sie hatte ihn überredet, sich wegen eines möglichen Besuchs frisch machen zu lassen. Ihm war´s egal, aber sie - sie wollte ihn nicht so präsentieren.
„Das fällt zurück auf´s Haus, Herr Schröder; wir können das nicht durchgehen lassen", hatte sie ihn gerügt.
Er mochte ihren Duft, den er schon roch, wenn sie durch die Tür kam. Es hatte Zeiten gegeben, da hatte er auf sie, auf ihren Duft gewartet. Er war noch jung, gerade mal sechsunddreißig und da können einem solche Düfte schon ganz schön ansprechen. Es war so weit gegangen - aber das war schon drei Jahre her -, dass er in Gedanken bis sechzig gezählt hatte.
„Eine Minute, multipliziert mit sechzig. Ja, und noch einmal mit zwei, dann kommt sie wieder rein - oder ich klingele nach ihr."
Das hatte er nie getan. Und das Zählen der Zeiteinheiten hatte er nach einer Woche aufgegeben; er entwickelte ein Gefühl für die Zeit. Eine Uhr hatte er nicht - und wollte auch keine. Auf die Fensterbank hatte ihm Gunther damals eine große, elektrische Uhr gestellt.
„Da kannst du die Zeiger sehen, weißt immer, wie spät es ist. Anders geht's ja nicht."
Er hatte sie nie wissen wollen, die Zeit; sie war ihm unwichtig geworden. Den gleichmäßigen Ruck des Sekundenzeigers, das Warten auf die nächste Zeiteinheit, das Staunen über das langsame Versickern der Zeit, all das hatte ihn aufgeregt. Am nächsten Tag hatte Schwester Julia die Uhr weggenommen; sie stand jetzt im Schwesternzimmer.
Ein heftiger Windstoß ließ die Äste fast vollständig aus dem Blickfeld verschwinden, als wären sie abgeschlagen worden; zögernd kamen sie zurück, schwankten, zitterten noch leicht nach. Er liebte diesen Ausblick, der seine ganze Welt war, alles hatte sich reduziert auf das Fenster mit gut zwei Quadratmetern Ausmaßen.
Er konnte den rechten Arm bewegen, mühsam zwar, aber es ging. Der gesamte Rest war steif, starr wie ein Holzbrett. Ach ja, die Augenlider konnte er senken, langsam, bedächtig, wie in Zeitlupe, und den Mund bewegen.
Seine Sprache war schleppend; zögerlich kamen die Worte heraus, wirkten gequetscht und verformt. Seit vier Jahren dieser Zustand. Seit vier Jahren hatte er das Wissen, dass es so bis zu seinem Lebensende bleiben würde.
Sie hatten es ihm schonend beigebracht, ihm, dem strebsamen, umtriebigen, erfolgreichen Informatiker, der voller Freude auf jeden Tag, auf jede neue Aufgabe gewartet hatte.
„Ich muss keinen Urlaub haben, Quatsch! Wo ist das Problem? Na also, lasst uns loslegen", so und ähnlich waren seine Sprüche gewesen.
Er hatte immer Freundinnen gehabt, häufig hatte er sie gewechselt; einmal war eine etwas enger an ihn heran gekommen, man sprach schon von Zukunft und Gemeinsamkeiten. Nur eine kurze Zeit war er schwach geworden; sie hatte ihn fast überredet. Wieder brach er aus, suchte die Unabhängigkeit - sie engte ihn ein.
„Ich kann meine und deine Zeit zusammen nicht so koordinieren, dass du zufrieden bist und ich meinen Job so machen kann, wie ich es möchte. Und täglich schleppe ich ein schlechtes Gewissen mit mir herum, muss dir Blumen als Entschuldigung bringen. Ich will mir nicht in meine Zeitplanung rein reden lassen. Verstehst du das?"
Sie hatte es nicht verstanden und war gegangen. Ein halbes Jahr danach war der Schlag gekommen.
„Einer der schlimmsten Hirnschläge, die ich bisher erlebt habe", hatte der Arzt ihm leise anvertraut.
Erst seit einem Jahr konnte er wieder einigermaßen sprechen; es war der härteste Kampf seines Lebens gewesen. Er hatte trainiert, geschrien und geweint. Über das erste Wort hatten Schwester Julia und er gelacht und gelacht, bis ihnen die Tränen kamen. Aber es war nur ein kleiner Anfang gewesen, der Fortschritt ließ sich nicht herbeilachen.
Das war die Zeit, in der ein Freund nach dem anderen weggeblieben war; seine Freundinnen waren nur zur ersten Schreckens- und Beileidsbekundung erschienen. Er war jetzt allein - nur Schwester Julia und ihr Duft, die Reinmachefrauen und ein Mal oder zwei Mal im Jahr sein Bruder, ganz selten Corinna - das war´s.

Er erkannte ihn am Schritt, draußen auf dem Linoleumboden klang jedes „Klack, Klack" wie ein Erkennungssignal.
„Hallo Frank! Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag. Wie geht's dir?"
„Hallo, Gunther!"
Zögernd quälten sich die Buchstaben heraus, als wollten sie lieber ungesagt bleiben, waren nur mühsam als Worte erkennbar. Gunther ekelte sich vor dieser unbeholfenen Sprache.
„Die Blumen habe ich deiner hübschen Krankenschwester in die Hand gedrückt; sie stellt sie in eine Vase. Geschenk hab ich keins, du brauchst wohl nichts."
„Da hast du Recht; ich brauche wirklich nichts mehr."
Gunther zog den Besucherstuhl neben das Bett, so weit zum Fußende hin, dass er seinem Bruder ins Gesicht sehen konnte und setzte sich; den Mantel hatte er aufgeknöpft, die Zipfel hingen auf dem Boden.
Er sah sich um, blickte in das starre Gesicht. Er folgte den Augen, die wie festgebrannt zum Fenster starrten und prüfte eine Sekunde lang das Bild des grauen Himmels.
„Ödet dich der Ausblick nicht an? Ich würde verrückt."
„Nein! - Konntest du dich frei machen für mich?"
„Klar! Ist doch selbstverständlich; an deinem Geburtstag werde ich wohl Zeit für dich haben, Bruderherz."
Es klang nicht einmal falsch und trotzdem sagte Frank: „Hast nie Zeit? Was?"
„Du dafür umso mehr. Mein Gott! Einmal so in den Tag hinein leben können; was würde ich dafür geben."
„Ja."
„Im Ernst. Du glaubst nicht, wie mich das aufreibt. Jeden Tag erlebe ich diese Hetzerei. ‚Keine Zeit', sage ich meinen Kindern. ‚Keine Zeit', sage ich Corinna. ‚Keine Zeit', sage ich meinen Freunden."
„Hast du noch Freunde? Nein? Du bist selber Schuld. Du musst aufhören - bevor es zu spät ist."
„Ich versteh dich nicht gut. Sag das noch einmal", sagte Gunther mit spröder Stimme und war wütend auf sich. Noch langsamer als sonst, wiederholte Frank alles.
„Hör du auf. Du hast doch keine Ahnung. Weißt du, was heute draußen los ist? Sie warten nur darauf, dass du schwächelst, dass du angeschlagen wirkst. Wupps! Und du bist weg vom Fenster."
„Ich bin dran, am Fenster. Meine Zeit läuft da ab; da, in diesem Quadrat."
„Jeden Tag, jede Stunde, das selbe Bild. Du musst doch langsam überschnappen", sagte Gunther und drehte sich zum Fenster. „Grauenhaft!"„Hab's mir nicht ausgesucht. Trotzdem! Ist nicht immer dasselbe Bild. Schau dir den Himmel an. Siehst du, wie er sich bewegt? Aber das ist nicht mein Zeitmaß; mein Zeitmaß ist dieser Baum, den ich noch nie gesehen habe; nur seine Äste hält er mir vors Gesicht."
Das war die längste Rede, seit er im Heim war; er wirkte atemlos, seine Lippen bewegten sich ziellos, als wollten sie weitere Buchstaben formen.
„Und? Wo ist dein Zeitmaß? Was soll der Schwachsinn?"
„Sieh hin! Lange! Sie sind schwarz, heben und senken sich fast widerstandslos im Wind. Gestern lag Raureif auf den Ästen, sie wirkten wie Silber. Es ist Winter. Aber du wirst sehen, sie werden praller, fester, legen sich einen Grünschimmer auf. Sie werden so lange Kräfte sammeln, bis sie die Blättertriebe rausdrücken können."
Er redete wie im Fieber, schien flüssiger, schneller zu sprechen als sonst. Er machte eine Pause; es sah aus, als hätte er die restlichen Worte verloren. Leicht bewegte sich sein Mund und es ging wieder.
„Es wird Frühling sein. Sie werden wieder wachsen, ihre endgültige Form annehmen, sich bei jedem Windstoß schütteln, grün, mit sattem Grün, meinen Blick verstellen; es wird Sommer sein. Bald kannst du das beginnende Sterben beobachten. Zuerst gelblich grün, später gelb mit rötlichen Einschüssen, am Ende erst, braun. Wenn sie abfallen, ist es Herbst. Und jetzt kommt das, was du draußen, jetzt im Augenblick, sehen kannst. Im Winter seh ich nicht den Tod; ich erlebe die Vorfreude auf das Frühjahr."
„Mein Gott! Bist du noch ganz gescheit? Das ist deine Zeit? Das gibt dir den Takt, macht dein Zeitgefühl aus? Du spinnst, Frank - entschuldige - aber du spinnst wirklich."
„Nein! Ich habe nur noch das."
„So lange bist du noch nicht raus aus dem Trott. Erinnere dich doch! Quartalsbericht, Halbjahresabschluss, Jahresabschluss, Jahreshauptversammlung - das sind die großen Meilensteine, die Zeittakte, die das Leben bestimmen. Und dazwischen? Die Arbeitstermine, die Brainstormingtermine, die Reisen. Das Glück, wenn du Erfolg hast. Himmel, Frank! Was sollte einer mit deinem Jahreszeitentakt anfangen? Treffen wir uns, wenn die Blätter rot werden?"
Er lachte schallend und suchte Verständnis in den Augen, in den Mundwinkeln seines Bruders; er musste es doch noch wissen. - Verdammt noch Mal!
Aber da war nichts; nur ein starrer Blick und die eingefrorenen Gesichtszüge. Fast tat er ihm Leid, fast. Er schüttelte den Kopf und beugte sich vor.
„Du musst an dir arbeiten, Frank. Du willst doch wieder loslegen können. Sagen wir mal, in zwei Jahren? Du musst das schaffen! Vergiss diesen Jahreszeitenscheiß. Lös dich von diesem Mist!"
„Nein! Ich weiß es jetzt besser. Schade nur, dass ich erst diesen Schlag bekommen musste. Jetzt weiß ich es besser. Wir stecken alle im gleichen Zeitfluss, du genau so wie Corinna und ich - und wie alle anderen auch. Es ist für uns alle der gleiche Fluss; nur jeder empfindet ihn anders, lebt mit ihm auf andere Weise. Du siehst die Ufer des Flusses nicht mehr, du suchst nach der Zeit und findest sie nicht."
„Hör auf! Lass uns über was anderes reden; ich hab nicht so viel Zeit. Wie kommst du mit dieser Schwester - wie heißt sie noch - aus?"
„Julia. Du hast keine Zeit. Du bist hoffnungslos blind gegenüber der Zeit. Du sprichst ständig von Zeit, dass du sie nicht hast, oder sie verplant hast; du sprichst von etwas, was du nicht verstehst."
„Mach dich nicht lächerlich! Wenn einer Zeiten schätzt, bin ich das!"
„Es gibt nur eine Zeit. Nicht mehrere, nicht verschiedene, keine kürzere und keine längere. Ich - ich habe die Zeit wiedergefunden. Ich lebe mit ihr und trinke aus diesem Fluss, ohne Hast und ohne Qual. Corinna. Corinna hat nicht deine Hast, nicht deine Hetze; sie könnte was anfangen mit der Zeit. Aber sie hat das Gefühl für die Kostbarkeit der Zeit verloren. Sie muss geweckt werden, Frank. Sie muss etwas anfangen mit ihrer Zeit. Sie hat nur ein Leben - so wie du und ich."
Gunther lehnte sich angewidert zurück; er war fassungslos und ratlos. Dieser Idiot hatte alles verloren, sogar die Zeit. Was war da noch zu besprechen. Er blickte auf seine Armbanduhr. Es wurde Zeit für ihn.
„Hast du das der Corinna gesagt? Will sie dich deshalb nicht mehr besuchen? Ich könnte sie verstehen. Sie kommt prima mit ihrer Zeit zurecht; ich weiß nicht, was du hast."
„Ja, ich hab mit ihr darüber gesprochen. Sie versteht mich schon. Aber sie sagt, es gäbe nicht nur den Zeitfluss, der sie einengt, ihr Leben taktet. Da sei noch mehr, du wüstest es schon."
Gunther saß einen Augenblick wie erstarrt da, stand abrupt auf, zog den Mantel heftig zusammen und knöpfte ihn zu.
„Ich muss jetzt gehen. Mein Büro verlangt nach mir. Auf das Frühjahr kann ich nicht warten. Leb wohl, Frank."
Er wollte zur Tür, als die sich direkt vor ihm öffnete.
„Julia!", dachte Frank und sog langsam den sich ausbreitenden Duft ein.
„Sie gehen schon?", sagte sie zu Gunther und stellte die Vase mit dem breiten, dicken Blumestrauß auf die Fensterbank.
„Tun sie die da weg, Julia. Sie verstellen mir den Blick. Setzen sie die Blumenvase auf den Tisch. Mein Bruder wird es verstehen."