„Wenn ich tot bin, möchte ich unsichtbar über einem Meer schweben. Nicht mehr. Nichts anderes unter mir als dieses unendliche Wasser. Kein Himmel, keine Hölle. Nur das Meer."

Die Luft schmeckt nach Salz. Das Mondlicht spiegelt sich im kabbeligen Wasser, zeichnet bis zum Horizont Lichterbahnen. Die kleinen Wellen versuchen den Strand zu erobern; ermattet gleiten sie zurück. Ein beständiges Rauschen füllt die Stille an, ohne sie zu durchbrechen.

Er steht still, bohrt mit der Schuhspitze eine Kuhle in den von der letzten Flut wellig geformten Sand, fühlt die Kälte, die sich durch das Leder des Schuhs drückt.
Langsam dreht er sich um, blickt hoch zu den leuchtenden Hotelfenstern, zählt die Stockwerke und bildet sich ein, sein Zimmer gefunden zu haben; er hat vergessen, das Licht zu löschen.

Er fühlt Mitleid mit sich, genießt die süße Traurigkeit, die ihn seit drei Tagen befallen hat, und seufzt. Ohne Plan, ziellos, geht er los, immer scharf an der Wasserkante entlang, die sich langsam landeinwärts schiebt. Die kleinen Wellen erobern den Strand, schieben ihn unter sich, verschlucken ihn. Die Flut kommt.

Zwischen den Dünen entdeckt er einen schmalen Fußweg, dreht weg, steigt hoch zu den Sandhügeln, auf denen vom Wind gebeugte Grasbüschel wachsen. Das Mondlicht lässt den Sand weißlich leuchten, zeichnet Schatten, wo sich die Gräser recken. Der Weg schlängelt sich durch die Dünen, biegt schließlich scharf ab und die letzten Sandhügel laufen flach aus. Jetzt hat er freie Sicht, stellt fest, dass er sich ziemlich weit vom Hotel entfernt hat; schwach leuchten in der Ferne Straßenlampen.

Eine Wolkenbank schiebt sich vor den Mond und schlagartig wird es dunkel. Wind kommt auf, bläst in seinen Nacken. Er fröstelt, zieht die Schultern hoch. Langsam tastet er sich vorwärts, zögert einen Augenblick, als er einen gepflasterten Weg erreicht und biegt nach links ab, entfernt sich weiter vom Dorf und dem Hotel.

„Egal", denkt er müde. „Ist doch egal, wo ich hingehe und was ich mache. Wen interessiert das?"
Vergeblich versucht er, sich an sein Leben zu erinnern, an seine Lebensart, an das, was ihn immer restlos ausgefüllt hat.

„Was ist bloß los? Mein Kopf ist leer", denkt er, „völlig leer. Wo sind sie hin, meine Ideen, Pläne, Ziele, Wünsche und Ängste? Spurlos verschwunden! Bilder wollen sich nicht halten lassen, gleiten einfach weg."

Ein Bild schiebt sich vor seine Augen, lässt seine Traurigkeit stärker werden. „Was hat Tina gesagt, als ich am Freitagabend aus dem Büro kam? Es ist vorbei! Ja, es ist vorbei, hat sie gesagt. Und als ich sie verständnislos angesehen habe, hat sie nur mit den Achseln gezuckt."

Er bleibt stehen, blickt in Dunkelheit, als läge dort des Rätsels Lösung. „Sie hat es nicht mal begründet; keinen einzigen Grund hat sie genannt, hat mich nicht beschimpft. Wenn ich wenigstens wüsste, warum es aus sein soll. Was ist passiert, was nicht heilbar, was nicht zu verzeihen ist? Das war schlimmer als alles, was sie hätte sagen können. Ich war es nicht einmal wert, dass sie ihr Weggehen begründet. Ob sie einen anderen ...? Nein, das nicht. Sie ging wortlos und ohne ihm in die Augen zu sehen.

Er denkt daran, dass er, drei Tage gewartet hat; drei unendlich lange Tage und Nächte.

„Sie wird zurückkommen", dachte er zuerst.

„Sie muss zurückkommen", dachte er später. „Sie muss einfach. Sie kann doch nicht ..."

„Sie soll zurückkommen, bitte, lieber Gott", dachte er schließlich und schämte sich sofort, weil er den Mann um Hilfe gebeten hatte, der ihm noch nie etwas bedeutet hatte.

Er konnte nicht arbeiten, meldete sich bei seiner Sekretärin krank. Das Herz. Am vierten Tag hat er sich ins Auto gesetzt und ist losgefahren. Ohne Ziel, ohne Plan, ohne Gepäck.
„Warum bin ich ans Meer gefahren? Weshalb auf diese verschlafene Insel? Ich weiß es nicht. Warum in dieses tote Kaff, dieses mittelmäßige Hotel? Ich ahne es nicht einmal."

Er spürt eine grenzenlose Leere, beklemmende Traurigkeit, und denkt, dass er diesen Verlust nie verkraften wird - und fühlt sein eigenes Versagen.

Langsam, tastend fast, geht er weiter, spürt den scharfen Wind nicht mehr, der seine Haare aufrichtet. „Warum habe ich nicht versucht, sie zu halten? Warum habe vorher nichts gespürt? Sie hat doch bestimmt Signale gesendet. Bin ich so abgestumpft? Das kam doch nicht von einem Tag auf den anderen; es muss doch Gründe gegeben haben. Oder hat sie doch einen anderen? Nein! Nein! Daran darf ich nicht mal denken."

Der Himmel ist schwarz; er glaubt, dass der Seewind Wolken ins Land geschoben hat, sucht den Himmel ab und kann den Mond nicht mehr finden. Nicht ein Schimmer dringt durch die Wolkendecke.

„Ich sollte Schluss machen. Schluss! Schluss. Schluss? Ja! Was sonst? Was will ich noch? Alles, was es geben kann, habe ich erlebt. Also? Was will ich noch? Schluss? - Das heißt ..."

Er schluckt, als ihm einfällt, dass ‚Schluss' etwas von ihm fordert, dass er dazu etwas tun muss, was ihm verhasst ist. Gewalt! Gewalt gegen wen auch immer, das ist einfach undenkbar. Auch nicht gegen sich selbst. Er erinnert sich, dass er sich schon früher Gedanken darüber gemacht hat, in einer depressiven Phase - vor Tina. Sturz vom Hochhaus. Pulsadern öffnen. Vor ein Auto springen. Schlaftabletten schlucken; die letzte Überlegung war ihm noch als die Angenehmste erschienen - und gleichzeitig als unmöglich.

„Aber wie sonst könnte es gehen?", fragt er sich und alle schon einmal angedachten Möglichkeiten schießen ihm erneut durch den Kopf. „Schluss? Richtig Schluss, das heißt nun mal nicht aussteigen, übers Meer verschwinden, nachsehen, was hinter der Kante des Horizonts ist. Schluss, das heißt Ende! Aus! Weg!"

Er fühlt, dass seine Augen nass werden. „Egal. Ich mache Schluss! Bloß wie?", denkt er wieder und das ist der einzige Gedanke, der in seinem Kopf noch Platz hat.

Es beginnt zu nieseln und er zieht fröstelnd den Jackenkragen hoch. Die Dunkelheit ist total, er kann keinen Meter voraus sehen. Plötzlich endet der Weg, endet in spitzem Winkel an einer Straße, die schmal und sehr glatt ist. Er wundert sich; die Straße scheint vom Strand zu kommen, direkt aus den Dünen.

„Wo bin ich hier? Da hinten gibt es doch keine Brücke. Wer baut eine Straße, die am Strand anfängt? Wozu?"

Er steht still, blickt zurück, sieht den Weg nicht mehr, auf dem er gekommen ist. Und dann ist alles klar. Alle Zweifel sind weg. Es gibt keinen Weg zurück. Abgeschnitten, verschluckt. Und er weiß, dass er nun sicher ist. Er wird es tun! Schluss machen! Schluss machen; anders mag er es nicht nennen.

„Wo kann ich Schluss machen? Wie? Schluss machen kann ich, wo immer ich gerade bin", murmelt er. „Es wird sich finden."


Er geht schneller als zuvor, hebt das Gesicht zum Himmel, schließt die Augen. Der Regen tut gut. Kühl ist er und fällt so leicht auf sein Gesicht, dass er die Tropfen kaum fühlt.
Er weiß nicht, wie lange er gegangen ist, als er in der Ferne eine Bushaltestelle entdeckt. Er wundert sich über das Licht, das den Unterstand umfließt; das Metall, selbst die seitlichen Milchglasscheiben, leuchten hellgrau.

Als er näher kommt, erblickt er vier Menschen, die auf siebartigen Schalen hocken, die an der Rückwand befestigt sind. Ein Platz ist frei. Acht Augen blicken ihn an; nicht neugierig, nein, vorwurfsvoll!

Er wundert sich über diese kollektive Zurechtweisung. Er kennt die Menschen nicht, hat sie nie gesehen. Ein Junge, nicht älter als achtzehn, lehnt mit der Schulter an der linken Seitenwand; das Mädchen neben ihm ist wesentlich jünger als er. Sie hat ihren Kopf auf seine Schulter gelegt. Ihr Rock ist kurz, zeigt blasse Oberschenkel.

Die Frau neben dem Mädchen ist alt. Graue Haare hängen strähnig in ihrem verwüsteten Gesicht. Sie hat einen schmuddeligen Mantel über die dürren Schultern gehängt. „Säuferin, Pennerin", denkt er.

Der Mann neben ihr ist ungefähr in seinem Alter, trägt einen hellgrauen Einreiher, schwarze, blank geputzte Schuhe. Seine Haare sind sauber gescheitelt. Seine Augen sind tiefschwarz, stechend.

„Du hast lange gebraucht", sagt der Mann leise. Hast wohl Zweifel gehabt? Wir warten schon eine Ewigkeit auf dich. Setz dich! Jetzt, wo wir fünf sind, wird er bald kommen."

„Wer?", fragt er ratlos. „Wer kommt? Und wieso warten Sie auf mich? Wer sind Sie?"

„Wozu willst du das wissen? Wozu?", flüstert die Alte. „Was willst du damit anfangen? Du bist gekommen, das ist es, worauf et ankommt. Sonst nichts".

„Setz dich endlich!", knurrt der Mann.

Die jungen Leute betrachten ihn wortlos, der traurige Blick des Mädchens tut ihm weh. Er dreht sich um und setzt sich auf die freie Schale. Der Sitz ist warm, so als wäre gerade erst jemand aufgestanden.

„Vielleicht das Mädchen?" Er denkt verwundert über die Begrüßung nach. „Wer kommt? Und warum haben alle auf mich gewartet?" Nichts ergibt einen Sinn.

Die Luft steht still; hier im Unterstand ist es warm. Er stößt den Mann an und schaut in ein Gesicht ohne jede Regung. „Wer kommt? Und warum habt ihr auf mich gewartet?"

„Weil wir das gleiche Ziel haben. Wer das gleiche Ziel hat, nimmt den gleichen Weg", sagt der Mann.

Er hat ihn nicht kommen hören, aber er ist da, hält direkt vor dem Unterstand. Die vordere Tür des Busses öffnet sich geräuschlos.

„Kommt", sagt der Mann, der neben ihm sitzt, und steht auf. „Kommt jetzt! Es wird Zeit."

Er geht zum Bus ohne sich umzudrehen und die Alte folgt sofort. Die jungen Leute erheben sich ebenfalls. Das Mädchen stellt sich auf die Zehenspitzen, küsst den Jungen flüchtig und er streicht ihr die langen Haare aus dem Gesicht. Dann gehen sie den anderen nach.

Er ist ratlos, will sitzen bleiben. Etwas macht ihn unruhig, will, dass er aufsteht. Zögernd noch, steht er auf, nähert sich der Tür des Wagens, geht daran vorbei, blickt auf die Frontscheibe das Busses; sie ist tiefschwarz - in der Mitte schimmert und flirrt ein fünfzackiger Stern. Er sucht die Zielanzeige, aber da ist keine. Er geht zurück, bleibt vor der Tür stehen.

„Steig endlich ein", sagt der Fahrer mit kehliger Stimme.

Er zögert, weiß nicht, was er tun soll. „Wohin fahren Sie?", fragt er schließlich in die Dunkelheit hinein.

„Frag nicht so viel! Steig endlich ein. Ich hab noch andere Touren", raunzt ihn der Mann an.

„Was soll's", denkt er. „Ist doch egal, wo die Fahrt hingeht. Schluss machen kann man auf der ganzen Erde. Wer weiß, wozu das gut ist."

Er will einsteigen, stockt, denkt für einen kurzen Augenblick daran, dass er sich auch einfach vor die wuchtigen Hinterräder des Busses legen könnte.

„Würde der Fahrer bei der Dunkelheit nie sehen. Dann wäre Schluss! Ob es schmerzt? Jedenfalls müsste ich nichts tun, nur abwarten."

„Nein!", sagt der Fahrer. „So nicht! Das ist nicht geplant. Es geht anders. Jetzt mach keine Dummheiten und steig endlich ein."

Er zieht sich hoch in den dunklen Wagen und lässt sich auf den ersten Sitz fallen. Die Tür schließt sich und der Bus rollt los, fast ohne Geräusch. Der Kopf des Fahrers pendelt leicht hin und her.

„Moment! - Was hat der gesagt? So nicht? Hat der geahnt, was ich wollte? Es geht anders, hat der gesagt. Was meint der damit?" Seine Gedanken lass sich nicht ordnen, das gewohnte logische Denken will sich nicht starten lassen.

Er lehnt den Kopf zurück und wieder befällt ihn diese erdrückende Traurigkeit. „Tina!. Was ist bloß mit uns passiert?"

Der Bus rollt lautlos in die Nacht. Es ist still, unnatürlich still. Der Kopf ist wie mit Watte gefüllt, ohne Gehirn.

„Wie lange fahren wir schon?", denkt er schläfrig und gähnt. „Wo mag er hinfahren? Gibt es noch ein Dorf auf dieser Insel?"

Seine Gedanken rutschen weg. Bilder tauchen auf. Das Wohnzimmer. Das Bild gegenüber der Eingangstür; ein pastellfarbener Akt. Ihm wird warm und er spürt ein Prickeln im Nacken. Und plötzlich ist etwas da, was vorhin verschwunden war. Der Nebel lichtet sich, Bruchstücke von Gedanken, Erinnerungen.

„Mein Plan! - Plan? Was hatte ich mir noch vorgenommen? - Richtig! Einen neuen Roman wollte ich schreiben, einen, wie ich ihn noch nie geschrieben habe."

Der Nebel ist nun fast ganz verschwunden, lässt ihn klarer denken. Er sieht das fröhliche Gesicht von Karin, seiner Sekretärin. Sie lächelt. Er mag sie und ihre Art, seine Überlegungen abzuwägen. Er dreht sich um. Die Gesichter der vier Reisegefährten hängen wie blasse Monde hinter ihm; andere Personen scheinen nicht im Bus zu sein.

„Verdammt! Was mache ich hier? Verdammt! Wo fahre ich hin? Bin ich denn völlig verrückt geworden? Wenn Tina mich hier sehen könnte, würde sie den Kopf schütteln und mich verächtlich ansehen. Meine Güte, wie oft habe ich mir gewünscht, ihre Gedanken lesen zu können. - Vorbei! Vorbei!"

Er stützt den Kopf in die Hände, spürt seinen Bart, rau und kratzig. Das gibt ihm ein Gefühl der Wirklichkeit zurück, das so lange verschwunden war. Er versinkt in seine wieder entdeckten Gedanken, in sein altes Ich, das vorübergehend verloren war.

„Warum jammere ich eigentlich? Mir geht's doch gut, was? Ich bin gesund, meine Romane verkaufen sich fantastisch. Ich werde mich demnächst auf eine Lesetour begeben. Ja, ich fange neu an! - Ein Leben nach Tina. - Das wäre ein prima Romantitel. Genau, genau! Das Leben nach Tina. Ein Stück Rache, was alter Junge? Nicht schlecht!"

Er denkt an ihre Eifersucht, ihre oft schnippische Art, ihre Wutanfälle wenn er zu spät kam. Er sieht ihr gleichgültiges Gesicht vor sich, als er ihr von seinem neuen Romanprojekt erzählte. „Na und?", fragte sie flach. „Meinst du, das interessiert ein Schwein?"

Durch die Frontscheibe sieht er in der Ferne eine Brücke. In gelblichem Licht, das keine Quelle hat, heben sich die eleganten Bögen der Stahlkonstruktion deutlich vom heller gewordenen Himmel ab. Darunter ist Schwärze. Sie rollen auf die Brücke zu.

Er vermutet, dass es die Brücke zum Festland ist, über die er gestern gekommen ist. So hat er sie aber noch nie gesehen. Er will nicht rüber aufs Festland. Jetzt noch nicht. Er versteht. Es ist die Linie, die zur Stadt auf dem Festland führt. - Trotzdem! Das komische Gerede.

Er springt auf. „Halten Sie an der nächsten Haltestelle an. Bitte!"

Der Kopf des Fahrers pendelt nicht mehr. Er blickt starr auf die Straße, die lautlos unter ihnen weg gleitet.

„Haben Sie gehört? Ich möchte aussteigen!"

Der Mann hinter ihm räuspert sich. „Nicht jetzt", sagt er leise. „Es ist zu spät. Wir sind fünf und er wartet auf uns. Nur das ist wichtig. Wir sind und bleiben fünf."

Was soll der Quatsch?", ruft er und spürt sein altes Selbstbewußtsein, das ihn manchmal überheblich und hochnäsig erscheinen lässt. Wie hat Tina es noch genannt? „Lautsprecherverhalten! Ha!"

„Halten Sie sofort an! Sofort! Hören Sie nicht? Verdammt! Anhalten!"

„Es geht nicht", antwortet der Fahrer. „Jetzt nicht mehr. Ich muss fünf zu ihm hinbringen. Sie wollten es doch auch. Machen Sie jetzt keine Probleme. Wir sind gleich da."

„Ich will da nicht hin, wo Sie hin wollen!"

Er steht schwankend da, dreht sich und blickt in die blassen Mondgesichter der vier Mitfahrer. Ihre Augenhöhlen starren ihn an. Die Köpfe pendeln leicht.

„Warum?", fragte die Alte. „Du machst alles kaputt. Alles", sagt sie und er hört ihr Schluchzen.

„Egal! Ich habe mit Ihnen nichts zu tun! Nichts! Nichts! Ich habe andere Pläne als Sie, verdammt."

Er setzt sich, lehnt sich zurück, ist fassungslos, versteht nichts mehr. Wie konnte er nur einfach so durch die Dünen laufen; nachts und im Regen! Wie konnte er sich bloß auf diese Fahrt einlassen. Er kann es nicht begreifen, weiß einfach nicht, wieso er sich so verhalten hat. Er schließt die Augen, gleitet sofort weg. Der Nebel ist wieder da, schluckt die Gedanken, bevor sie zu Ende gedacht sind.

„Meine Güte! Ich bin todmüde. Ich bin es nicht gewohnt, so lange zu laufen. Müsste wohl häufiger mal joggen."

Die Wärme, die eigentümliche Wärme ist weg. Er friert entsetzlich. Seine Beine zittern so, dass die Absätze auf dem Boden einen fiebrigen Takt schlagen. Er blinzelt, will durch die Frontscheibe blicken und richtet sich mit einem Ruck auf. Der Regen peitscht schräg vom Meer her bis unter das Überdach. Seine Beine sind nass. Der Schalensitz der Bushaltestelle fühlt sich eiskalt an.

Eine leichte Rosafärbung am Horizont kündigt den neuen Tag an. Mühsam dreht er den Kopf; der Nacken ist steif, schmerzt bei jeder Bewegung.

Er ist alleine. Vier leere Sitze sieht er, ein paar Papierfetzen, einige Zigarettenkippen. Der Abfalleimer an der Stange mit dem Halteschild quillt über; eine leere Flasche schaut heraus.

„Was ... Was ist das? Was ist passiert? Wo sind die anderen? Der Bus?", denkt er verwirrt.

Er kann den grauen, glatten Asphalt erkennen, kann ein ganzes Stück weit die einsame Straße überblicken.

„Es wird Tag", denkt er. „Ich muss zurück. Ich muss ins Bett. Ich werde bestimmt krank. Ein Schnupfen oder so was. Verdammt! Ich hasse Schnupfen. Ich brauche einen warmen Tee, ein Aspirin, ein heißes Bad. Wie bin ich hierher gekommen? Wie hat der mich abgesetzt, ohne dass ich wach wurde?"

Sein Kopf schmerzt und mit der feuchten Hand streicht er sich über Stirn, Wange und Kinn. „Der Bart!" Er erinnert sich an den Moment der wachsenden Klarheit. „Habe ich geträumt? Geschlafen? Hier? Auf diesem harten Sitz?"

Er steht auf, stöhnt über den steifen Rücken und stakst langsam los. Er geht immer am Rande der Straße, die in leichten Windungen in Richtung Dorf führt. Nach der nächsten Biegung sieht er das Rechteck des Hotels gegen den grauen Himmel aufragen.

„Wieso dachte ich, die Straße käme vom Strand? Ein Irrtum. Die Dunkelheit! Mein Gemüt; alles wegen ihr. Ich war wirklich neben der Spur."

Nichts von dem, was er sich vorgenommen hat, unternimmt er. Als er sein Zimmer betritt, sieht er nur noch das Bett, legt sich angezogen hin und schläft sofort ein.
Es ist taghell, als er erwacht. Er duscht, fühlt sich wohler, rasiert sich, spürt neue Lebensgeister und Hunger.

Er blickt sich im Spiegel an und plötzlich ist alles wieder da: Die letzte Nacht! Die schwarze Straße, die vier Menschen an der Bushaltestelle. Der Bus und sein Fahrer, der nicht anhalten wollte.
„Meine Güte! Das Drama mit Tina hat mich wirklich völlig verrückt gemacht. Wie kann man nur so einen Mist träumen? Fast real? Noch nie, wirklich, noch nie, habe ich so gegenständlich geträumt. Aber genau das ist die Erklärung. Bin einfach total müde gewesen. Hab mich wegen des Regens im Unterstand hingehockt und bin eingeschlafen. - Na ja. Kein Wunder. War ja auch ein Scheißtag!"

Im Frühstücksraum sitzen drei Paare, die keine Kenntnis von ihm nehmen. Sie sind zu sehr mit dem Frühstück und ihren Partnern beschäftigt.

„Verliebte", denkt er etwas neidisch. „Tina! Mein Gott! Das waren noch Zeiten, als wir verliebt beim Frühstück saßen und nicht wussten, was wir aßen. Nur dem anderen in die Augen sehen, mit den Füßen geheime Botschaften austauschen. An all das denken, was in der Nacht geschehen war. - Was soll's! Es gibt immer einen Neuanfang. Immer!"

Er trinkt genüsslich den Kaffee, den ihm die Serviererin einschenkt. Sie ist jung, gut gewachsen.

„Richtig hübsch", denkt er. „Sieht gut aus, mit dieser neckisch kleinen Schürze. Siehste Tina? So schnell kommt man vom Tal auf einen neuen Berg."

Hoch oben an der Wand hängt ein Fernseher, schräg nach unten geneigt. Die Bilder wechseln hektisch. Grün folgt auf Blau, dann wieder Grün. Er trinkt einen Schluck, schaut auf das Flimmern, sieht das Meer, kabbelige Wellen, ein schwarzes Schlauchboot, das auf den Wellen tanzt. Drei Männer sitzen auf den Bootsrändern. Im Hintergrund entdeckt er eine Brücke.

„Die Brücke!" - Er weiß sofort, dass es die Brücke ist.

„Was? - Ich hab doch geträumt und nicht ... Wieso kenne ich die denn? Das ist doch ..."

Die Kamera schwenkt zur Seite, zeigt einen zertrampelten Strand. Vier längliche Hügel, Körperformen, mit Laken bedeckt. Rot gekleidete Männer rennen scheinbar ziellos herum. Im Hintergrund stehen Krankenwagen, Polizisten spannen Absperrbänder.

Er vergisst zu kauen, stellt die Kaffeetasse langsam ab. Ein erneuter Schwenk der Kamera. Nahaufnahme. Eine müde aussehende Frau spricht in ein Mikrofon, das vor ihrem Mund schwebt.
Er blickt auf ungeschminkte Lippen, die sich schnell bewegen. Ein Untertitel erscheint. Ein Name, der ihm gleich wieder entfällt, Sprecherin der Staatsanwaltschaft. Der Ton ist so leise gedreht, dass man nicht verstehen kann, was die Frau sagt.

„Lauter!", ruft er. „Machen Sie doch den Ton lauter!"

Das Mädchen mit der Servierschürze steigt auf einen Stuhl und er blickt kurz auf ihre langen Beine, die glatten Oberschenkel. „Die Fernbedienung ist kaputt." Sie fummelt an einem Stellrad und dann ist die Stimme deutlich zu hören.

„... noch nicht geklärt. Das wird die Obduktion zeigen. - Nein, ihre Identität ist völlig unklar. - Sie waren sozusagen gefesselt, in Lederschlaufen. Möglich, dass sie es selber taten. Ja, in diesem Stern mit fünf Zacken - wohl ein Pentagramm. - Nein, nein, das ist Metall, das schwimmt nicht. Einem Fischer hat es das Netz zerrissen.

Ein hartes, faltenreiches Männergesicht füllt den ganzen Bildschirm. „Wer bezahlt mir den Schaden, he? Wir sind die Dummen, wenn ein paar Irre so 'nen Scheiß machen. Wissen se wat so 'n Netz kostet?"

Die Kamera schwenkt nach unten. Ein wuchtiger Stern, bestimmt zwei Meter im Durchmesser. Fünf Schlaufenpaare, eins an jedem Zacken. Und an jedem eine Schlinge, die sich im Sand kräuselt. An jeder Schlinge hängt ein Satanskreuz.

„Warum fünf?", fragt der Reporter. „Es waren doch nur vier, odel?" Seine Stimme ist heiser und er verspricht sich, sagt odel statt oder.

„Ja", bestätigt die Frau, deren Gesicht jetzt wieder den Bildschirm füllt. „Fünf Schlaufenpaare für fünf Armpaare, fünf Schlingen, die sie um die Hälse gelegt hatten. Das ist ein Zeichen für ihre Religion - Satansreligion. Aber nur vier Opfer - bisher. Kollektiver Selbstmord im Zeichen des Satans. Davon gehen wir vorläufig aus. Es sieht nicht nach Fremdverschulden aus. - Nach dem fünften Opfer suchen wir noch."

Ihm wird schwindelig. Er steht hastig auf, rennt fast, stolpert über ein Stuhlbein. Als er den Kopf an die kalten Fliesen im Waschraum der Toilette lehnt, merkt er, dass seine Beine nur aus Gummi bestehen. Er öffnet eine Toilettentür, setzt sich auf den geschlossenen Deckel und stiert vor sich hin.

„Es war kein Traum! Es war, verdammt noch mal, kein Traum! Ich! Ich bin der, den sie suchen. Ich bin der Fünfte!"