„He, du Afschuum!“ Der Mann umkurvt ihn, bringt mühsam sein Gefährt
wieder in die Waagerechte. „Du Sackjeseech! Mach dat de fott küss.“
Er schüttelt den Kopf, geht unbeirrt weiter, schlürft quer über den
Altermarkt, bis zu den Gasthäusern. Er geht dicht an den noch immer
sonnenwarmen Wänden entlang, berührt sie, als suche er ihren Schutz,
wird nur schneller, als er die schmale Seitenstraße überquert.
Er hasst sie, diese Steinkästen mit den tausend Augen. Er weiß genau,
dass sie ihn beobachten. Die Lichter in den Kneipen und hinter den
Fenstern sind längst erloschen. Keine Gardine bewegt sich; keine Musik
spielt, niemand lacht und keiner streitet.
Er hat das Gefühl, als ob sich die Häuser über ihn beugen, ihn
niederdrücken wollen. Er ärgert sich, spürt ihre Blicke im gebeugten
Nacken.
„Lasst mich in Ruhe – hab nichts mit euch zu tun“, murrt er und droht mit geballter Faust.
Vor den Lokalen stehen Tische, umgefallene und schräg angelehnte
Stühle. Eingerollte Sonnenschirme strecken ihre Spitze in die Nacht;
Papierfetzen lassen sich vom Wind umblättern.
Hier sitzen an sonnigen Tagen die Menschen, flirten, lachen, trinken,
beobachten die Vorbeigehenden, kommentieren und belächeln die
Flanierenden. Er hat diesen Platz am Tage stets gemieden; so wie er
jetzt ist, so mag er ihn.
Er geht in Richtung Rhein, verschwindet in einer Unterführung aus Stahl
und Beton; es ist still in der feuchten Röhre, es riecht nach Urin,
Hundekot und Moder. Eine Reihe verdreckter Neonröhren beleuchtet
Graffitimalereien. Schwarz kämpft mit Rot, Gelb versteckt sich hinter
Grün. Hass, Aufrufe zu Gewalt und Widerspruch. Unsinnige Zeichen. Die
wilden Protestschreie interessieren ihn nicht; sie sprechen ihn nicht
an, sind nicht für ihn bestimmt.
Auf der anderen Seite der Unterführung trägt die leicht bewegte
Nachtluft den Dunst des nahen Flusses in die Stadt. Er ist nicht
angenehm, nicht so frisch wie eine Meerbrise. Er riecht und schmeckt
noch immer so, wie er ihn an jedem Tag seines Matrosenlebens gerochen
hat. Er mag diesen Geruch, er gehört zu seinem Dasein.
Die Gesichtshaut, vom Wetter gegerbt, liegt straff an; seine
Backenknochen stechen deutlich hervor. Die Haare sind schon lange nicht
mehr geschnitten worden; graue Strähnen kriechen über den Hemdkragen,
bedecken die Stirn und lassen seine Augen kaum erkennen.
Er geht nicht aufrecht, will keine Aussichten genießen, keine
Sehenswürdigkeiten bestaunen; nichts spricht ihn hier an, die Stadt ist
ihm fremd – er hasst sie sogar.
„Ist nicht mein Zuhause“, hat er früher oft gesagt, wenn seine Kapitäne
die Schönheit der alten Domstadt lobten, ihr Kneipen, das Bier und die
Gemütlichkeit rühmten.
„Jede Stadt am Strom ist gleich. Was wollt ihr aufrechnen und in die Waagschale werfen? Ich brauch das alles nicht.“
„Kommst doch aus der Altstadt, oder?“, fragten sie ohne Verständnis zurück.
Die Gedanken sind undeutlich, lösen nichts aus. Seine Empfindungen
wechseln schnell. Als sein Fuß eine leere Dose streift, zuckt er
zusammen, taumelt gegen die Wand. Gleich darauf lächelt er bei dem
Gedanken an seinen Fluss.
„Mein Fluss! Mir hat er gehört – nur mir. Warst meine Geliebte, mein Fluss. Wirst sicher genau so traurig sein wie ich.“
Ein ungewöhnlicher Drang befällt ihn plötzlich, lässt ihn verharren,
sich suchend umsehen. Er will zerstören, kaputt machen. Wenn er könnte,
würde er diese Häuser, Straßen und Brücken mit einem Schlag wegwischen.
Mit Wucht tritt er vor einen Stromkasten, spürt weder Schmerz noch
Erleichterung, reißt einen Papierkorb vom Pfahl und achtet nicht auf
das Scheppern, als der Behälter sich entleert und auf die Fahrbahn
rollt.
„Mein Fluss!“ murmelt er.
Nur dieser Gedanke zieht durch seinen Schädel, macht nirgendwo Halt,
zieht keinen Gedanken nach sich. „Mein Fluss! Meiner!“, schreit er und
lauscht auf das unklare Echo.
Er geht langsam weiter, ist nicht erleichtert, eher angespannt wie
lange nicht. Dann erblickt er das schwarzsilbern leuchtende Wasser,
saugt gierig das Gemisch aus lauer Nachtluft, Teer, Öl, Chemie und
totem Fisch in seine Nase.
„Vermisst ihr mich?“, fragt er aus eingefallenem Mund ins Wasser; er weiß, dass sie ihn hören.
Fünfzig
Jahre hat er auf dem Rhein gelebt, hat immer Wasser unter den Füßen
gehabt. Zum Fluss, da hatte er Bindung. Nicht zu den Schiffen, nicht zu
den anderen Matrosen, nicht zu den Eignern oder den Kapitänen.
Im Wasser wusste er seine Gefährten, die silbrigen Flussgeister, mit
denen er Zwiesprache halten konnte, denen er von seinen Ängsten und
Sehnsüchten erzählen durfte, ohne dass sie ihn verlachten. Stundenlang
konnte er in der Nacht am Bug sitzen, die fliehenden Gestalten in der
wie Phosphor leuchtenden Gischt beobachten und ihr Lachen trinken.
In solchen Stunden wusste er, dass er da war, dass er lebte und dass
auf diese Nacht wieder ein Tag folgen würde. Er spürte, wie sich seine
Gedanken belebten, wie er frisch wurde und mit stiller Freude an den
kommenden Tag dachte.
Er wechselte die Kähne, wie es die Lage erforderte, hatte nie
Verlustgefühle. Die Geister seines Flusses waren immer da; egal ob der
Kahn unter deutscher oder holländischer Flagge fuhr.
„Heute hier – morgen da!“, war sein Lieblingsspruch, wenn er mit anderen Matrosen zusammen saß, was selten genug vorkam.
Sie prahlten mit ihrer Treue zum Schiff, nannten angeberisch den Namen,
als riefen sie einen Heiligen an, überboten sich mit der Zahl der
Jahre, die sie ihrem Schiff treu geblieben waren.
Er wusste oft nicht mal, wie sein Schiff gerade hieß, vergaß den Namen,
bis er am Ufer stand und dem Schiff beim Ablegen zusah. Irgendwo in
einem Rheinhafen, das wusste er, wartete ein neues Schiff auf ihn.
Er wollte keine Freunde; höchstens ein unverbindliches Gespräch bei einem Schluck Bier in einer stets fremden Kneipe.
„Bin ich nicht für gemacht, für Kumpels und Freunde; für so´n Kram bin
ich nicht. Bin mir selber genug!“, dachte er, wenn er das Lachen
anderer entdeckte, die ihre Freunde trafen. „Eine Kneipe ist wie die
andere.“
Was er zu sagen hatte, das erzählte er dem Wasser, wenn es, nachtdunkel
und aufgequierlt vom Schiffsrumpf, seine Freunde an die Oberfläche
trieb.Einmal nur hatte er einem Kapitän von den nassen Freunden erzählt
– danach nie wieder. Der Spott, das ungezügelte Lachen hatten ihn
beleidigt.
„Bin nicht blöd, Kapitän. Bin nicht das, was du denkst. Gibt mehr Dinge
auf der Welt, als du weißt. Glaubst ja auch an diesen unsichtbaren
Gott, oder? Wo soll der sein? Da oben, wo die Sterne sind? Nu ja. Meine
Freunde wohnen eben da unten.“
Er kannte alle Häfen am Rhein, hatte das Bier in jeder Hafen- und
Altstadtkneipe probiert. Er war im Schritttempo den Rhein bergauf
gekrochen und wie im Sturm zu Tal gefahren. Er hatte flaue Zeiten ohne
Fracht und gute mit vollen Ladebuchten bei Berg- und Talfahrt erlebt.
Es schien, als würde dieses Leben nie enden. Die Zeiten liefen ihm wie
Sand durch die Uhr; er dachte nie an die Zeit.
„Den tragen sie mit den Füßen voran vom Kahn. Freiwillig geht der nie!“, sagte man über ihn und schüttelte dabei den Kopf.
Dann kam doch – ganz plötzlich, wie er fassungslos dachte – das, was
kommen musste. Sie hatten es ihm längst gesagt, seine Geister des
Flusses. Er hatte nicht hingehört, hatte erstmals ihr Drängen, ihr
schäumendes Mahnen ignoriert.
„Bleib immer ein Mann des Wassers – kann keiner und nie beenden!“,
sagte er ihnen und drohte mit der Faust ins schäumende Wasser.
Er verließ das letzte Schiff ohne Abschied, ohne einen Blick zurück,
mit Groll in der Brust – und mit einer unbestimmten Angst vor dem
Neuen, das vor ihm lag.
In all den Jahren hatte er nie an die Zeit nach dem Abschied gedacht.
Dabei hätte er den Tag genau vorher sehen können – wenn er nur gewollt
hätte.
„In der Wohnung meiner Schwester. Die gehört ihr – nein, jetzt
eigentlich mir“, hatte er dem letzten Kapitän flach geantwortet, als
der wissen wollte, wo er bleiben würde. „Ist schon voraus gegangen, die
Mathilde; werd´ sie bald wiedersehen!“
Das war acht Jahre her, und es war alles schlimmer gekommen, als er es beim erzwungenen Abmustern befürchtet hatte.
In der ersten Zeit war er ziellos durch die Straßen der Domstadt
geirrt, konnte sich in den Häuserschluchten nicht zurecht finden. In
den Nächten hatte er am Flussufer gestanden, hatte seine Freunde
gesucht und nicht gefunden. Er hatte sie gelockt, mit seinem Lied, das
sie so mochten. Sie hatten es nicht hören wollen.
„Die haben wohl anderes zu tun, sind mit den Schiffen auf Fahrt“,
dachte er enttäuscht und gab schließlich die Suche nach ihnen auf.
Den hektischen Betrieb in der Stadt fürchtete er wie früher die stinkige Brühe in der Bilge.
„Hier geht’s nicht talwärts und nicht auf Bergfahrt. Kannst nur quer
durch den Strom treiben, ohne Fracht, ohne Ruder und ohne Signale.“
Er hatte sich die Leute angesehen, die um ihn herum hasteten, die ihn
anrempelten und seine Fahrt beliebig kreuzten. Er verstand die Menschen
der Stadt nicht, sie machten ihm Angst.
Wenn sie lachten, sich hastig etwas zuriefen oder einfach nur freudig
erkennend ihre Namen nannten, dann blieb er verwirrt stehen. Er begriff
ihre Art nicht, konnte ihre Gesten und Stimmungen nicht deuten.
Dunkel ahnte er, dass er sie in ihrem Fluss störte; wie ein schroffer
Fels in der Fahrrinne den Kapitän zur Richtungsänderung zwang.
Zuerst hatte er noch mit stoischer Ruhe den Ansturm ignoriert, bis – ja, bis eines Tages die Menschen durch ihn hindurch gingen.
Er war für sie Luft geworden! Er spürte sie nicht mehr, und sie nahmen ihn nicht mehr wahr.
Er
ging zur Domplatte, blickte hoch zu den Türmen, die sich mit den
treibenden Wolken bewegten, auf ihn stürzen wollten. Pilger, Mönche,
Schulklassen brandeten um ihn herum. Er fühlte sich so klein und
winzig, dass er einen Augenblick lang befürchtete, von ihnen zertreten
zu werden. Aber sie umschifften ihn, taten so, als sähen sie ihn nicht
einmal. Er sprach sie an und sah ihre leeren Blicke. Und plötzlich fiel
ihm das Lied ein.
Dieses Lied, dachte er, würde er seinen Flussfreunden nie mehr
vorsingen, nie mehr. Aber er wusste, dass sie es gemocht hatten; damit
hatte er sie angelockt.
„Vielleicht“, so dachte er langsam, „kann ich sie auch damit locken.
Vielleicht erkennen sie mich dann, sehen mich, reden mit mir über den
Fluss und meine Freunde.“
Er holte sich am Obststand eine leere Apfelsinenkiste, stellte sie
mitten auf den Platz und stieg hinauf. Jetzt konnte er auf ihre Köpfe
sehen.
Er sang sein Lied. Seine Stimme war leise, sanft und glatt. Und die
Melodie strömte, formte sich in seinem Kopf, ohne dass er sie zwingen
musste. Und so trug er ihnen sein Lied vor, das er sonst nur für seine
Flussfreunde gesungen hatte. Er vergaß seine Umgebung, hörte die
Bugwelle rauschen, das flirrende Lachen seiner Freunde.
„Der Schiffer auf dem blanken Rhein,
Tratiketiketom,
Bist du der Meine, komm.
Er fährt die Bahn jahraus, jahrein,
Tratiketiketom,
Bist du der Meine, komm.
Er hat ein’n Schatz auf jeder Seit’
Jedwede ist die schönste Maid,
Und weiß er selbst nicht, die er freit,
Tratiketiketom,
Bist du die Rechte, komm.
Ich leg’ mein Ruder in den Kahn,
Tratiketiketom,
Bist du der Meine, komm.
Und will den Nachen treiben lassen,
Tratiketiketom,
Bist du der Meine, komm.
Treibt er mich rechts, treibt er mich links,
Das soll mir sein ein guter Wink,
Dann will ich geben schon den Ring,
Tratiketiketom,
Bist du die Rechte, komm.
Der Kahn, der geht nicht links, nicht rechts,
Tratiketiketom,
Bist du der Meine, komm.
Nach Holland geht er grades Wegs,
Tratiketiketom,
Bist du der Meine, komm.
Nach Holland und das Niederland,
Da sind die Mädel wohlbekannt,
Dahin ist auch mein Herz gewandt,
Tratiketiketom,
Bist du die Rechte,...“
Er
spürte den Tritt vor seine Kiste, hörte das Lachen und die Rufe eines
übermütigen Jungen. Die Bugwelle war plötzlich weg und er sah die
Menschenflut, die sich an ihm und seiner Kiste brach wie das Wasser am
Schiffsbug. Und da erst merkte er, dass sie ihn gar nicht hörten – sie
sahen und hörten ihn nicht.
Er schlich zurück in seine Wohnung und weinte. Zum ersten Mal, so lange
er zurück denken konnte, weinte er – und wusste nicht warum. Danach
vergaß er sein Lied, summte es nicht einmal mehr.
Sein Kopf war ohne Melodie.Einige Tage danach war er noch einmal in die
Stadt gegangen. Mitten auf der Schildergasse, an dem steil aufragenden
Brunnen, zwischen zwei Obstständen, neben musizierenden Russen,
grölenden FC-Fans, kreischenden Jugendlichen, neugierigen Touristen und
singenden Freikirchlern hatte er sich aufgebaut, hatte ausloten wollen,
wie tief das Wasser unter seinem Kiel noch war.
Eine ausgeliehene Obstkiste diente ihm wieder als Podest. Die Hände formte er zum Trichter, drehte sich rufend im Kreis.
„Hallo – an alle! Hört Ihr mich? Seht Ihr mich? Ich bin hier! Hier bin
ich! Verdammt! Ich, der Matrose, bin hier! Könnt ihr mich sehen, ihr
dämlichen Schleppkähne, Tanker und Schnellboote? Verflucht! Schaut mich
an!“
Immer wieder rief er, schaute sie an, ruderte mit den Armen, drehte
sich um die Achse und hüpfte mit lächerlichen Sprüngen auf und ab.
Sie hatten ihn wohl nicht gehört, ihn völlig übersehen. Sie umschifften
seine Kiste, drehten den Kopf weg, lachten nicht einmal über ihn,
sprachen ihn nicht an – er war wirklich nicht mehr da.
Nach
diesem Tag hatte er aufgehört mit dem Herumlaufen, war im Bett
geblieben oder hatte stundenlang am Küchentisch gesessen und durch das
schmale Fenster auf das Nachbarhaus gestarrt.
Zum Wasser mochte er jetzt nicht mehr gehen; er wollte seine Gefährten nie wieder sehen. Sie hatten ihn verlassen.
„Könnt ja jetzt einen anderen verrückt machen – bin für euch nicht mehr da!“
Er ging nur noch aus dem Haus, um dringende Besorgungen zu machen – und
selbst das immer seltener. Wenn es sich nicht vermeiden ließ, dann
schlich er in den Laden an der Ecke, blieb in der Nähe der Tür stehen
und wartete.
Die Verkäuferin, jung, hübsch und gepflegt, sah ihn nie an, grüßte
nicht. Später gekommene Kunden wurden freundlich mit „Hallo! Wie
geht´s?“ oder „Guten Tag Frau Bischof, was macht die Gesundheit?“
begrüßt.
Fast war er froh, so unsichtbar zu sein, fühlte sich als Beobachter, der niemanden störte.
Erst, wenn niemand mehr bedient werden musste, trat er vor, schälte
sich aus seiner Unsichtbarkeit. Dann sah sie ihn fragend, richtig
erstaunt, an – lächelte sogar. Aber ihr Lächeln war im Mund, nicht in
den Augen. Er fror bei diesem Anblick; er gehörte da wirklich nicht
hin, das verstand er.
Anfangs
konnte er in den langen Nächten ohne Schlaf noch Erinnerungen abrufen,
sah in der überkippenden Gischt die schlanken Leiber der Geister, hörte
die Kommandos des Kapitäns, fühlte das steife Tau durch die rissigen
Hände gleiten, die schweren Lasten auf die Bretter knallen, schmeckte
die Bratkartoffeln und roch ihren Duft, der aus der Kombüse wehte.
Aber dann wollten die Bilder, die Stimmen und Gerüche nicht mehr
kommen, ließen ihn traumlos in ein unendliches Loch fallen, aus dem es
für ihn keinen Ausstieg gab – er suchte ihn gar nicht erst.
Unter der nächsten Straßenlaterne, neben einer Haltestelle, bleibt er
stehen, verharrt, als warte er auf einen fahrplanmäßigen Linienbus.
Aber die Stadt ist still um diese Zeit; alle Busse stehen im Depot.
Niemand muss ins Büro hasten, einkaufen, Kinder zur Schule bringen,
niemand will in einem der vielen Straßenlokale eine Erfrischung zu sich
nehmen. Es ist die tote Zeit einer Stadt, in der sie tief durchatmet;
sie braucht diese Zeit zwischen Mitternacht und Morgengrauen, um im
Sonnenlicht wieder jung und dynamisch zu sein.
Er wartet auf nichts; er muss nur noch einmal nachdenken, muss seine
Absicht bestätigen. Nachdenken kann er nur, wenn er still sitzt oder
steht.
Er
ist aus der Wohnung gegangen, als er plötzlich klar sah, alles deutlich
wurde. Er hat sich nicht erschrocken, war nur erstaunt, dass er acht
lange Jahre gebraucht hat, um es zu verstehen.
Er begriff, dass er für immer ohne Traum, ohne Melodie und ohne
Verstand war. Dieses Wissen war wie ein Blitz in ihn gefahren. Einmal
noch hat er nach seinem Lieblingslied gesucht, dass er ihnen immer
vorgesungen hat. Nichts, kein Wort, keine Note ist ihm eingefallen.
Da hatte er nicht mehr überlegen müssen; alles war schlagartig
durchsichtig und fassbar, ja sogar selbstverständlich. Er musste es nur
noch tun.
So, wie er früher ohne ein Kommando das Schiff traumhaft sicher vertäut
hatte, wie er den Anker an der richtigen Stelle schnell genug herunter
gelassen hatte, so sicher und ohne Bedenken wollte er nun dieses Letzte
erledigen.
Seine
Gestalt schwankt leicht, als er unter dem schwachen Licht der Laterne
auf die Hände sieht. Sie sind verschrumpelt, die zahlreichen Flecken
auf dem Handrücken sind tiefbraun, die Innenflächen schwielig, die
Folge von fünfzig harten Jahren auf den Rheinkähnen.
Er denkt daran, dass diese Hände Tausende Säcke Schüttgut geschleppt
haben, dass sie Ballen, Balken und Eisen gestemmt haben und harte,
widerspenstige Taue gezerrt, aufgerollt und vertäut haben. Sie mussten
Deckbalken schrubben, blättrige Farben und schmierigen Teer von den
Schiffswänden kratzen. Sie sind schmuddelig, der Dreck sitzt fest
zwischen den Falten. Er hat sich schon lange keine Mühe mehr mit ihnen
gemacht.
„Es wird Zeit“, murmelt er undeutlich durch den zahnlosen Mund; er hat
sein Gebiss nicht mehr rein gesteckt, obschon er es bereits in der Hand
gehabt hat. Nach einem Moment der Besinnung hat er es wieder ins Glas
gelegt.
„Wozu? Für wen?“, hat er gedacht, und ist rausgegangen auf die dunkle
Straße, die ihn mit einer Kühle empfangen hat, die seinen schweißnassen
Rücken schnell trocknen ließ.
Langsam bewegt er sich, setzt tastend die Füße auf das holprige Pflaster.
Endlich liegen die Häuser hinter ihm, die letzten Lichter verblassen.
Er taucht ein in die Schwärze, in der sein Fluss wie altes Silber
leuchtet.
Am schräg abfallenden Ufer bleibt er lange stehen, lauscht auf die
Geräusche, die der Rhein von sich gibt. Er kennt sie alle, weiß was sie
ihm sagen wollen – sein Fluss lebt.
Er hört die wandernden Strudel gurgeln und schlürfen, hört die
schnellen kurzen Wellen, die kabbelig und mit einem geheimnisvollen
Rhythmus, an die moosigen Randsteine schlagen.
In seinem Kopf entsteht das Bild seiner Gefährten, die ihn jetzt
vielleicht beobachten. Er denkt ganz intensiv an sie, will sie locken
und ködern.
„Die Melodie!“, denkt er.Er müsste sie ihnen vorsingen. Er weiß, dass
sie nicht anders können, als ihm zuzuhören. Er sucht in seinem Kopf
nach dem Anfang, stolpert über fremde Worte, kann keinen Ton finden.
„Sie ist weg. Werde sie euch nie mehr singen können. Schade, was? Könntet heute dabei sein – wär verdammt gut.“
Er lauscht. Und plötzlich ist er sicher, dass sie da sind. Er weiß
jetzt, dass sie ihn beobachten, sich tuschelnd anstoßen, neugierig
abwarten, was ihr alter Gefährte machen wird. Es ist kein Schiff in der
Nähe, weder stromauf noch stromab, das die langen, kräftigen Wellen
machen könnte, die da ans Ufer schlagen. Nur sie. Sie sind es!
Träge fließen Erinnerungen, Bilder tauchen auf, Stimmen überlagern sich, lassen sich nicht deuten.
Der Bug seines Schiffes, Abenddämmerung, die Ufer verschwinden, warmer
Fahrtwind, seine Zigarette lässt feine Kringel aufsteigen, das
Abendessen duftet. Und sie sind da! Sie lachen, zeigen Grimassen,
fliegen spielerisch um den Bug. Sie sind da, stürzen sich durch die
Flut, reißen das Wasser auf, lassen es schäumen. Sie sind da! Tropfen
spritzen auf seine Wangen, berühren seine Lippen; er wischt sie nicht
weg. Die Bilder verschwimmen und sind unwiederbringlich weg.
Er
geht – dicht am Wasser – über das lange, verschlungene Gras, das auf
die wandernden Schafherden wartet. Er hat kein bestimmtes Ziel, will
nur weg von der Stadt. Irgendwann hört er das Tuckern eines schweren
Schiffsmotors.
Ein tief liegender, voll beladener Frachter stürmt talwärts, die
Motorgeräusche kommen mit dem fliegenden Schiff nicht mit, laufen ihm
lange nach. Auf dem vom Wasser überspülten Schiffsumlauf rennt ein Hund
hin und her, schlägt wütend an.
„Hast die Flussgeister gesehen, was? Fürchtest dich vor ihnen, was?“, flüstert er und bleibt wieder stehen.
Das Schiff passiert ihn schnell, drängt das aufschäumende Wasser wild
beiseite, lässt es weißlich aufleuchten, wenn es sich vor dem Bug
bricht. Das verdrängte Wasser stürzt zurück, reißt alles mit sich, es
rauscht und strömt in langen Wellen zum Ufer.
Auf dem Wasser schwimmen Lichter, die aus den Bullaugen und dem
Ruderhaus scheinen. Die Spiegelungen zittern, laufen schnell mit dem
Schiff, lassen sich von den Wellen beugen und brechen. Zwei Gestalten
kann er ausmachen, die als reglose Schemen im schwachen Licht des
Ruderhauses stehen und durch die Scheiben starren.
Er spürt ein Ziehen in der Brust; es ist, als hätte ihn etwas ganz
sachte gestreichelt, zärtlich berührt. Er erinnert sich plötzlich sehr
intensiv an etwas aus einem anderen Leben.
„Nein! Ich will’s nicht denken. Heut’ nicht!“
Salzwasser läuft über sein Gesicht, fällt auf die geöffneten Lippen.
Dann ist es vorbei und die Erinnerung erlischt. Das Schiff ist schon
weg; die Positionslichter des Kahns verlöschen an der großen Biegung
des Flusses. Jetzt ist wieder Ruhe.
Er
steht immer noch und lauscht. Da ist etwas, was hier nicht hin gehört.
Ein Ton, der in dieser Stille überlaut klingt. Er wendet den Kopf,
sucht und sieht nichts. Das Geräusch ist dem Wellenschlag angepasst,
lässt sich vorausahnen. In seinem Hinterkopf hat er längst eine
Erklärung gefunden, aber er kann sie nicht deuten.
Er geht noch ein paar Schritte, bleibt erneut stehen. Mühsam zieht er
die Schuhe aus, stellt sie genau nebeneinander. Dann muss er sich
setzen, um die Socken auszuziehen.
Sorgfältig stopft er sie in die Schuhe. Seine dünne Jacke und das Hemd,
an dem zwei Knöpfe fehlen, faltet er ordentlich, legt alles dicht vor
die Schuhe.
Zuletzt zieht er die Hose aus, legt sie zusammen und packt sie auf die
anderen Kleider. Einen Augenblick sitzt er unschlüssig da, betrachtet
seinen mageren Körper. Soll er die Unterhose auch ausziehen?
„Sonst ist es nicht vollständig. Ich brauch sie nicht. – Aber wie sehe
ich aus ohne Unterhose? Ganz nackt? Wer weiß, wer mich findet.“
Er lässt sie an und will aufstehen, als er am Ufer, da wo der gequälte
Ton herkommt, eine schwarze Wand erkennt, die sich im Wellengang bewegt.
Ein großes Boot reibt sich mit dem Kiel an den dicken Ufersteinen. Die
Planken geben bei jeder Berührung diesen Quietschton von sich. Ein
dünner Mast sticht in die wolkenlose Nacht, zeichnet in den etwas
helleren Himmel geheimnisvolle Figuren.
Jetzt versteht er, empfindet Ungeduld und Ärger; er ist nicht allein!
Plötzlich ist eine Bewegung erkennbar. Eine große, schwere Gestalt
bekommt Konturen, zieht sich an den Steinen hoch, fasst die erste
Grasnabe und kommt genau auf ihn zu. Über ihm hängt die dunkle Gestalt,
ohne Gesicht, hat keine Hände und keine Füße.
„Sie kommen an Land! Sie sind doch gekommen!“, denkt er und spürt frostige Schauer auf der nackten Schulter.
Jetzt dreht die Gestalt sich etwas und er kann den Kopf erkennen, einen
dicken Hals, auf dem ein haarloser, runder Schädel sitzt. Bis zu den
Augen wellt sich ein kleinkrausiger Bart. Der Mann ist alt.
Matt und enttäuscht entkrampft er sich; so sehen sie nicht aus!
„Deine weiße Haut sieht man bis nach Köln-Nippes! Willst du baden?“
„Nein.“
„Was dann? Ist dir heiß?“
„Nein.“
„Verdammt nochmal! Was macht ein nackter Mann in der Nacht am Rheinufer, wenn er nicht baden will?“
Er bedenkt sich nicht eine Sekunde; er hat nichts mehr zu verbergen; es
ist längst alles entschieden. Dieses Wenige weiß er genau. Langsam
spuckt er die Worte in den Fluss, ohne den Mann anzusehen.
„Will zurück zum Wasser. Ist mein letzter Hafen. – Endstation!“
„Ach so! – Willst dich ertränken?“
„Wenn … Wenn du´s so nennen willst.“
Es fällt ihm schwer, die Worte mit der Zunge zu formen; sie ist wie ein
vollgesogener Schwamm, lässt jedes Wort verwischt klingen.
„Warum ziehst du dich dafür aus? Nackte Leichen sind scheußlich; kenn ich zur Genüge.“
„Das Zeug geht sonst kaputt.“
„Was interessiert’s dich?“
„Hab sie gesehen, wenn sie durch die Schiffsschrauben gedreht waren.“
„Und warum willst du’s machen? Hast du Sorgen? – Liebeskummer?“ fragt der Mann und lacht dunkel.
Das ist ein Lachen – er erinnert sich plötzlich – das er von seinem
Vater kannte. Ein warmes, verzeihendes, verstehendes, wohl auch
überbrückendes Lachen, das im Kopf gut tat – und in der Seele auch.
„Vater! Ich …“, denkt er, aber da ist der Gedanke schon wieder weggeschwemmt.„Nein.“
„Was, ‚nein’? Bist du krank? Hast du Angst vor dem Siechtum, vor Schmerzen?“
„Nichts.“
„Hoffnungslos?“
„Ohne Hoffnung auf Besserung.“
„Besserung von was? Mensch sprich nicht in Rätseln.“
Er sucht angestrengt nach Worten, kaut sie bedächtig zurecht, spuckt sie aus, wie früher den ausgekauten Priem.
„Hab mein Leben gelebt – so gut´s ging.“
„Quatsch! Solange du lebst, kannste auch was machen. Mist manchmal,
vielleicht aber auch was Gutes. – Aber Schluss ist erst später.“
„Will nichts mehr sagen.“
„Und alles, was du erlebt hast, willste mitnehmen? Hast doch bestimmt was geschaffen.“
„Hab nichts geschaffen. Hab nur geschuftet – sonst war nix!“
„Deshalb bringt man sich nicht um!“
„Das Lied ist weg.“
„Das Lied ist weg? Was für ein Lied?“
„Weiß nicht mehr. Ist eben weg. Hab keine Melodie mehr im Kopf.“
„Der hat keine Melodie und will sich deshalb umbringen! Mann! Soll ich dir eins vorsingen? Lässt du’s dann sein?“
„Nein.“
„Hör zu, Kumpel: Es gibt Schallplatten, CDs und sonst was. Kauf dir deine Melodie. Die gibt’s im Kaufhaus.“
„Kann sein. Ich mach´s aber. Es ist so – und du kannst mich nicht davon abbringen.“
„Will ich ja gar nicht. Gott bewahre! Das muss jeder selber wissen.
Weißt du, hab selber genug Sorgen gehabt; hab Jahrzehnte auf diesem
Fluss meine Fische gefangen. Da unten, da – das ist mein altes Kahn.
Dann war´s plötzlich vorbei, kein Fisch mehr da, in diesem stinkigen
Fluss. Mist! Dann – nach langen Jahren – sind sie wiedergekommen – aber
da war ich zu alt für die Fischerei – sagten sie und schoben mich weg.
Außerdem war´s kein Geschäft mehr; kein Mensch will die Rheinfische
essen. Was soll´s! Hatte mir was zurückgelegt, kann gut davon leben.
Hab meinen alten Kahn, die ‚Marie’, selber umgebaut und fahr nach Lust
und Laune stromauf und stromab. Ganz alleine!“
„Meinetwegen.“
„Mann, bist wirklich schon ganz weg, was? Wie heißt du?“
„Hab den Namen vergessen – Matrose eben.“
„Ah! Nicht mehr? Verwechselst du nicht Beruf und Name?“
„Weiß nicht. Alle riefen mich nur Matrose – oder höchstens noch Alfons. Aber selten – ist auch schon lange her.“
„Ich heiße Fischer! Ha! Wie mein Beruf – mein früherer Beruf. Ist das nicht komisch?“
„Nein.“
„Du warst Matrose auf den Rheinkähnen – stimmt´s? Bist den Rhein rauf bis nach Basel und wieder runter bis zur Mündung?“
„Ja, so ungefähr.“
„Mann, lass dir nicht jedes Wort wie einen Wurm rausziehen. Sprechen
ist immer gut. Kannste ja bald nicht mehr reden. – Also, wie lange
biste gefahren?“
„Hab´s fünfzig Jahre so gemacht.“
„Warum willste wirklich sterben? Du hast doch noch ’ne Menge zu erleben.“
„Ach? – Ich glaub nicht.“
„Erzähl mir keinen Quatsch!“
Wieder zieht es in seiner Brust und er schmeckt das Salz, das ihm über
die Wangen in den Mund läuft. Er zerbeißt es, will nichts mehr sagen.
Dann fließt es heraus; die Zunge ist plötzlich nicht mehr geschwollen.
„Ich bin leer, verstehst du? Unsichtbar und schon nicht mehr da. Mein
Lied, das mein Leben lang bei mir war, ist weg. Hab keine Hoffnung für
nichts. Hab alles schon zerdacht, hab alles schon verträumt – und alle
Erwartungen schon zerbissen; waren zum Schluss gallebitter; hab sie in
den Rhein gespuckt.“
„Mann, oh Mann! Erwartet dich keiner?“
„Doch – sicher. Nur hier nicht. – Nicht hier.“
„Haste keine Familie? – Keine Frau?“
„Nein.“
„Nie ’ne Freundin gehabt? Kein Mädchen in den Häfen, wie andere Matrosen? Man sagt euch doch dolle Sachen nach.“
Er schweigt, denkt nach. Das Reden fällt ihm schwer; die Gedanken
wollen sich nicht zu Worten machen lassen. Er schmeckt die Worte wie
schimmeliges Brot; will den Geschmack loswerden. Aber das geht nicht,
der Mann macht ihn unruhig.
„Nein – war immer alleine.“
„Kann ich nicht glauben!“
Gedanken tropfen, verbinden sich. Duftendes Grün – buntes Kleid – langsame Musik – Tanz – Lachen.
„Doch. – Da war mal was. – Ist ewig her. – War wohl noch jung.“
„Wann war das? Wie sah sie aus? Habt ihr euch geliebt? – Ich meine richtig, mit allem drum und dran?“
„Ist zu lange her. – Kann mich nicht erinnern. – Ich glaube, es war
hier. – Auf der Rheinwiese, oder? – Ich meine, es stand eine Kirmes da.
– Da auf dem Gras“, sagt er versonnen und zeigt zittrig ins Dunkel.
„Wie sah sie aus? War sie schön?“
Neue Gedankenstücke. Haare fliegen – Tränen – Schmerz in der Brust – Wortfetzen.
„Weiß nicht mehr. – Blond? – Glaub eher nicht. – Hab sie nur getroffen,
wenn wir hier anlegten. – Dann … Dann war sie weg. – Hab sie nie mehr
gesehen.“
„Verdammt! Du kannst doch nicht fünfzig Jahre auf den Pötten gefahren
sein, hast nie eine Frau gehabt, hast deine Familie nicht gesehen, hast
keine Freunde gehabt? Was hast du in all der Zeit gemacht?“
„Zeit? – All die Zeit? – Weiß nicht – lief einfach so weg. – Hab sie
nicht beachtet. – Geträumt? – Ja, meistens hab ich geträumt – wenn
keine Arbeit anstand.“
„Hast du keine Bücher gehabt? Träume kommen oft aus Büchern. Ich schenk
dir welche, dann kannst du unzerdachte Sachen träumen – die Bücher sind
voll davon.“
„Ich kann´s nicht. Hab noch nie so ´n Buch gelesen. Brauchte ich auch
nicht. Hab nichts vermisst. Die haben mir immer alles erklärt, was ich
wissen musste.“
Der Fischer seufzt, drückt die Hand in den Rücken, der ihn schmerzt.
„Bin auch nicht der Jüngste. Die alten Knochen schmerzen. Will mich
lieber setzen; sieht blöd aus, wenn ich immer auf dich runter gucke.“
Sie schweigen, starren zum anderen Rheinufer, nach Osten. Leichtes Grau
in vielen Untertönen drückt sich vom baumlosen Horizont langsam höher.
Ein scharfkantiger Turm begrenzt die Sicht, trägt auf seinem Kopf eine
rote Neonbeleuchtung. Dahinter kann man schon Häusergiebel erkennen;
der Tag ist nicht mehr weit.
„Kannst ja gehen. Bin lieber alleine. Du fragst zu viel.“
„Wollte dir nur neuen Stoff zum Nachdenken geben, Matrose. Wollte dich nicht aushorchen.“
„Ja.“
Sie schweigen. Als das Grau am Horizont immer heller, die Neonfarbe immer blasser wird, steht der alte Matrose schwerfällig auf.
„Es wird Zeit. Ich muss gehen.“
„Ja – musst du wohl. – Warte! – Warte noch! Ich hab eine Idee! Setz
dich noch mal hin“, fordert der Fischer aufgeregt, mit dringender
Stimme.
Widerstrebend gibt der Matrose nach, hockt sich, um schnell wieder auf
die Beine zu kommen. Er will sich nicht mehr aufhalten lassen. Er ist
sich seiner Sache sicher.„Du liebst doch den Rhein – ja? Du bist ganz
alleine – stimmt´s? Du hast Zeit? – Also! Ich mach dir einen Vorschlag:
Mein Boot hat Platz für zwei Personen. Du fährst mit mir den Strom rauf
und runter. Wir legen an, wo wir wollen. Wir singen. Und vielleicht
fällt dir deine Melodie wieder ein. Na? Wir schwätzen über Land und
Leute und genießen die herrlichen, alten Tage. – Was sagst du dazu?“
Der Matrose starrt aufs Wasser, blicklos, ist tief in sich versunken.
Es dauert, bis er sich bewegt. Dann wendet er den Kopf zum Fischer.
„Dank dir fürs Angebot, aber es geht nicht. Ich … Ich sagte dir ja, ich
bin leer, ich bin sozusagen aus Luft. Es ist alles anders, als du
denkst. Ich hab meine Melodie verloren; ich kann sie nicht mehr finden.
Ist für immer weg. – Verstehst du das?“
„Nein! Ich müsste lügen – ich versteh´s nicht!“
„Ist nicht wichtig. Bin längst ausgelöscht. Die haben nur vergessen,
mich abzuwracken. Muss es selber machen. Meine alten Freunde – die da
im Wasser – die warten auf mich.“
Er steht auf, sieht den Fischer nicht an, schiebt den Kleiderhaufen zurecht und geht zum Ufer.
In dem Grauschimmer, der die Uferkonturen unscharf zeichnet, kann der
Fischer den weißen Körper auf den glitschigen, algenbewachsenen
Ufersteinen sehen. Er rutscht, wankt und balanciert; aber er bleibt
nicht stehen, zögert nicht, geht Schritt für Schritt in den Fluss,
verschwindet sozusagen scheibchenweise.
Der Rhein fließt ruhig, wie zuvor, kein Schiff ist in Sicht und
trotzdem stoßen plötzlich harte Wellen aufgeregt an die
Uferbefestigung. Das alte Fischerboot schaukelt träge und behäbig, gibt
Töne von sich, als seufze es.
Der Fischer wirft keinen Blick auf´s Wasser, als er mühsam die
Uferböschung herunter steigt und sich an der niedrigen Bordwand hoch
zieht.