„Hier, hinter mir auf der Bronzetafel, stehen die Namen der Opfer beider Weltkriege, die Namen der Männer aus unserer Gemeinde, die durch die Nazis ermordet wurden oder an der Front für einen Wahnsinnigen starben; es sind die Namen der Verratenen und Verkauften, die uns mahnen und warnen wollen.“
Laut, durchdringend klang seine Stimme; es war nicht möglich, wegzuhören und sich, sagen wir mal aus Langeweile, mit dem Streit vom vergangenen Abend zu beschäftigen.
Sein Blick ging ins Leere; man musste annehmen, dass er die grellen Blitze der zerplatzenden Granaten, das Blut der qualvoll sterbenden Soldaten vor Augen hatte.
„Ob uns persönliche Betroffenheit bewegt, wie es bei mir der Fall ist, wenn ich hier den Namen meines Onkels, Heinrich Schulte, lese, oder ob wir die Toten nur als Nachbarn, Freunde oder Kollegen kannten, immer erlitten wir durch ihren Tod einen Verlust.“
Sein Kinn hob sich, der Blick schwenkte zum Himmel, als suche er ihn, Heinrich Schulte, um ihn persönlich anzusprechen.
„Ihm verdanken wir etwas! Er hat bewiesen, dass es hier einen Widerstand gab, dass dieses kleine Dorf sich nicht feige geduckt hat. Er musste dafür mit seinem Leben bezahlen, das er selbstlos hingab. Dafür danken wir ihm und gedenken seiner in jedem Jahr in besonderer Weise.“
Joseph Krüger blickte immer noch bedeutungsvoll zum dunklen Himmel, der mit regenschweren Wolken für die passende Stimmung sorgte. Bei einem böigen Windstoß entluden sie sich, warfen einige Tropfen auf die wohl hundert Zuhörer, gaben der Gedenkfeier so ihren Segen.
Joseph Krüger hatte das Ende seiner langen, frei gesprochenen, Trauerrede erreicht. Jeder, der in sein Gesicht blickte, das nun vom Regen glänzte, musste die tiefe Bewegung erkennen, konnte mühelos den Grad seiner Trauer ablesen.
„Ich lege jetzt – wie an jedem Volkstrauertag – im Namen des Heimatvereins einen Gedenkkranz nieder. Wir wollen danach stille werden und darum bitten, jeder für sich, dass so ein Krieg – nein, dass jeder Krieg – jetzt und in Zukunft nicht mehr möglich wird.“
Erst jetzt warf Joseph Krüger einen Blick hinüber zu den Zuschauern, die sich unter Regenschirmen duckten und sich gegen den Wind stemmten. Ihre Gesichter waren hinter den Regenschirmen versteckt, aber er wusste, wer da stand, wer, wie in jedem Jahr, zur Gedenkfeier gekommen war. Nicht ein Jugendlicher war dabei, nur ein paar Kinder, die sich an die Mäntel der Eltern oder Großeltern drängten.
Er konnte sich darüber erregen, im Lokalanzeiger an die Jugend appellieren – er sprach gegen eine Wand aus Gummi.
„Die Alten, die den Weltkrieg erlebt haben, die kommen bei Wind und Wetter; Leute, deren Eltern oder Verwandte gefallen sind oder vermisst waren, die sehen einen Sinn im Gedenken und Mahnen. Aber unsere Jugend? Sie ist gedankenlos, ohne Wissen über das, was mal war und ohne Sorge um das, was kommen könnte.“
„Ist doch alles uralter Mist! Wen interessiert das denn heute noch? Macht lieber ‘ne Demo gegen die Amis und ihren Chef, diesen Cowboy aus Texas, dann komme ich“, hatte ihm Tim, sein Sohn, beim Frühstück gesagt, als er ihn bat, zur Gedenkfeier zu gehen.
Er trat vom Mikrofon zurück und beobachtete die Feuerwehrleute, die den Kranz an den Steinsockel des Denkmals legten. Rote Nelken und gelbe Chrysanthemen symbolisierten die traditionellen Farben des Ortes und des Heimatvereins. Selbst die breite Schleife, die verdreht in einer Pfütze hing, war so gefärbt.
Tief bückte er sich, ordnete das Band betont langsam, las die Inschrift „Zum Gedenken – Der Vorstand des Heimatvereins“, erhob sich, senkte das Kinn auf die Brust und stand für einige Sekunden still; die Augen waren geschlossen, die Hände hingen schlaff herab. Das gab Stimmung, vermittelte den Zuschauern, die still ausharrten, seine tiefe Bewegung, seine höchste Anteilnahme.
Sie wussten, dass er an ihn dachte, an seinen Onkel, Heinrich Schulte, den er zwar kaum gekannt hatte, aber der ihm so nahe war, wie kaum sonst jemand.
Heinrich Schulte, der Mythos, der tragische Held, dessen Name im Dorf mit Ehrfurcht genannt wurde; der im Geschichtsunterricht sozusagen als Kronzeuge aufgerufen wurde, wenn es um Widerstand gegen den Reichskanzler und Verderber Deutschlands, um Adolf Hitler und seine Nazi-Diktatur ging.
Vor Jahren, als endlich alle historischen Quellen erschöpfend abgesucht und erforscht waren, hatte ihm der Heimatverein Bergfeld ein besonderes Kapitel im „Historischen Bergfelder Heimatbuch“ gewidmet: „Heinrich Schulte – Tod durch Verrat!“
Er wurde zum Helden ernannt, zum Vorzeigewiderständler. An ihm konnte man sich aufrichten nach dem Krieg. Mit Nennung seines Namens ließen sich alle kritischen Fragen beantworten. An seinem Todestag wurde in St. Martinus eine Messe für ihn gelesen; immer im Auftrag seines Neffen Joseph Krüger.
„Als Heinrich und ich damals …“, so begannen viele Gespräche an der Theke, in denen Gemeinsamkeiten beschrieben und festgehalten wurden.
Joseph Krügers Seufzer war tief, durchaus vernehmlich für seine neben ihm stehenden Vorstandskollegen.
„Das kam von Herzen!“, sagte man später beim Bier und mochte nur zustimmend nicken.
„Ich werde dich nie vergessen, Onkel Heinrich!“, sprach er mit bröseliger Stimme und gab damit das verabredete Zeichen, nunmehr die Gedenkminute zu beenden.
Joseph Krüger, der langjährige Vorsitzende des Heimatvereins, und seine Vorstandsmitglieder, die schräg hinter ihm ausharrten, waren vom kalten Regen durchnässt; nicht einer trug einen Schirm bei sich – dieser Moment ertrug keine Weichlinge!
Die grünschwarz gekleideten Musiker blickten mürrisch auf ihre durchnässten Notenblätter; der Musikzugführer hob den Taktstock, verharrte so und sah Joseph Krüger auffordernd an.
Der wartete genau die Sekunden ab, die eine Spannung ins Unerträgliche treiben können, nickte endlich bedächtig – und erleichtert stach der Taktstock senkrecht in den Regen.
In der beachtlichen Stille klangen die hellen Trompetenstöße, die dumpfen Trommelschläge überlaut. Langsam und träge blies man, schlug die Trommel in einem verzögerten Takt.
Es musste jedem Zuhörer sofort klar werden, dass hier nicht nur die Pflicht, sondern auch ein Auftrag erfüllt wurde. Dieses Lied, „Ich hatt´ einen Kameraden“, klang wie eine letzte Botschaft, wie ein heiliges Versprechen.Als wollte der Himmel den Musikern beistehen, hörte der Regen schlagartig auf. Die Zuhörer stutzten, blickten misstrauisch zum Himmel, entdeckten einen hellen Schimmer, falteten erleichtert die Schirme zusammen, schüttelten sie aus und richteten ihre Blicke – neu gesammelt – auf die Menschen vor dem Denkmal, lauschten der vertrauten Melodie – einige Männer summten sie sogar mit.
Joseph Krüger blickte hinüber zu den Menschen, die in einer Reihe, wie Perlen auf einer Schnur, gegenüber auf dem Bürgersteig standen. Jetzt konnte er die Gesichter der Versammelten sehen.
Ganz links, abgerückt von den anderen, stand der alte Hubert Wickert, der pensionierte Dorfpolizist, der schon die Neunzig überschritten hatte. Er stand dort mit gesenktem Kopf, schwer abgestützt auf einem knorrigen Stock.
Der Abstand zwischen Hubert Wickert und der nächsten Gruppe war zu groß, als dass man ihn für zufällig halten konnte. Die anderen standen Schulter an Schulter, dicht gedrängt, als suchten sie Schutz vor dem eisigen Wind.
„Bergfelder“ nannten sich die Männer und Frauen dieser Gruppe; diesen Sammelbegriff verstand man als so etwas wie eine Auszeichnung, wie ein Adelsprädikat. Joseph Krüger streifte die Gesichter nur flüchtig, reagierte nicht auf vereinzeltes Nicken, das ihm Zustimmung und Zugehörigkeit signalisierte.
Diese Bergfelder hielten einen gehörigen Abstand zur nächsten Gruppe, zeigten klar, dass die noch lange nicht dazu gehörten, dass noch manche Gedenkfeier verstreichen würde, bis sie sich als Bergfelder fühlen und als solche akzeptiert werden konnten.
Diese frisch Hinzugezogenen, keiner länger als zehn Jahre im Ort, die ihre Häuser in dem kleinen Neubaugebiet am Hügel hatten, die mussten das wohl akzeptieren, hielten sich zurück und rückten enger aneinander.
Hinter diesen Neubürgern, halb verdeckt von zwei fülligen Frauen mit Plastikkopftüchern, stand ein einzelner Mann. Joseph Krüger stutzte, sah noch einmal die Reihe durch, starrte wieder in das fremde Gesicht, das etwas in ihm auslöste. Er musste nachdenken, sich besinnen, bis er diesen Kopf endlich an einem Namen festmachen konnte.
Dunkle Augen blickten ihn starr, fragend an. Der Mann war alt, gebeugt, stand mit etwas auseinander gestellten Beinen da, als schwanke der Boden unter ihm, als brauche er einen Halt. Sein dunkler Mantel sah schäbig und abgetragen aus; der breitkrempige, schlaff hängende Hut verdeckte die Stirn.
„Im gleichen Schritt und Tritt“, spielte die Blasmusik; die träge ineinander laufenden Töne drängten sich in Josephs Kopf, aber er hörte sie nicht mehr.
Er wusste plötzlich, wer da stand, blickte zurück in das gefurchte Gesicht, das ihn nicht mehr los ließ, das ihn zwingen wollte, Erkennen zu zeigen. Sein Nacken wurde steif; er spürte einen Stich im Magen und fühlte einen leichten Schwindel.
Der letzte Ton des Liedes verklang klagend. Der Taktstock klatschte an die Hosennaht, die Instrumente senkten sich, regenschwere Schirmmützen wurden abgeschüttelt, Mundstücke ausgeblasen, feuchte Notenblätter in die Uniformtaschen gezwängt. Dann erst wurde Joseph Krüger bewusst, dass alle auf ihn warteten und er riss sich los.
„Liebe Bergfelder, verehrte Anwesende, ich bedanke mich bei unserem Bergfelder Musikzug ‚Immer Froh’ und seinem Zugführer Toni Bruder. Der Vorstand des Heimatvereins wünscht euch noch einen schönen Tag.“
Er ging schräg weg vom Denkmal, genau auf den Mann zu, der sich nicht rührte, um den die Leute einen kleinen Bogen machen mussten, wenn sie abzogen.
„Joseph! He! Wo willst du hin? Der ‚Grüne Krug’ ist da drüben!“
Er verharrte, blickte sich zögernd um. Seine Vorstandskollegen standen hinter ihm, blickten ihn erstaunt, belustigt oder auch stirnrunzelnd an.
„Entschuldigt! Ich war total in Gedanken.“
„Hat man gemerkt“, lachte Otto Kemper, sein Stellvertreter, und legte ihm den Arm um die Schulter. „Hast ja auch bewegend gesprochen. Komm, unser Bier ist bestimmt schon gezapft.“
Er ließ sich mitziehen, wusste genau, was sich gehörte, was erwartet wurde. Nach der Gedenkrede ging man in den ‚Grünen Krug’. Er gab dort immer die erste Runde für seinen Vorstand, was genügend Anlass für Dankesworte gab. Da prosteten sie ihm zu, dankten fürs Bier und lobten seine klugen Worte, seine zu Herzen gehende Rede.
„Kann man nix gegen sagen; is’ alles wahr, was du gesagt hast“, pflegte sein Kassierer, Helmut Schreiber, regelmäßig als Abschluss zu bemerken.
Er seufzte und dachte an sein einsames Haus. Sein Sohn würde erst in der Nacht – wenn überhaupt – zurück kommen. Er wurde nicht erwartet – seit drei Jahren schon nicht mehr. Sarah war am Krebs gestorben, hatte ihn alleine gelassen. Er konnte, er wollte ihr das nicht verzeihen, dachte oft mit Groll daran, dass sie alle Warnungen lachend in den Wind geschlagen hatte.
„Ich und krank? Hast du mich jemals krank gesehen? Ich brauch‘ keinen Doktor, der macht die Leute nur kränker; wovon soll der sonst leben?“
Er warf einen Blick zurück, aber der Mann war weg; nur ein paar Leute aus dem Neubaugebiet diskutierten noch.
Die Frauen gingen heim, mahnten beim Abschied ihre Männer, nicht zu spät zum Mittagessen zu kommen. Aber man wusste ja, wie es zuging, was an solchen Tagen üblich war; das Essen wurde einfach später auf den Herd gestellt.
„Kann man euch Männern ja nicht verdenken; an so einem Tag habt ihr sicher viel zu bequatschen“, rief sehr laut die Gerda Bunte, die aber keinen Mann hatte.
Die Männer drängten sich durch die Tür des Gasthofes, verteilten sich im schmalen Schankraum, stellten sich an ihren Stammplatz oder suchten nach Bekannten oder Freunden, mit denen sie sich unterhalten wollten. Die Männer belegten die Theke, füllten den dunkel getäfelten Gastraum fast völlig aus. Es war dämmrig hier, die tief hängenden, gelben Lampen gaben nicht viel Licht.
Der Wirt und seine Frau zapften schnell, ohne auf eine Bestellung zu warten. Die Männer lechzten nach dem ersten Bier; manche bekamen ihren üblichen Schnaps dazu gestellt – man war hier zu Hause.
Der Lärmpegel stieg an, füllte den Raum; man rief sich beim Spitznamen; frotzelte sich gegenseitig; launige Bemerkungen wurden mit Gelächter quittiert. Manch spöttische, witzige Wortspiele waren zu hören. Man grüßte Bekannte quer über die Theke mit erhobenem Glas, bedankte sich mit lautem „Prost!“ für ein gespendetes Bier.In diesem Geräuschteppich waren nur wenige besonders laute Rufe allgemein hörbar: „Prost Herbert!“, „Danke, Hans, für die Runde!“, „Auf die Überlebenden!“, „Lasst es euch schmecken!“, „Wie hat der FC gestern gespielt?“, „Prima gesprochen, Joseph!“ und ähnliche Rufe.
Joseph Krüger stieß mit seinen Vorstandskollegen an, trank sein Glas mit einem Schluck halb leer, wischte sich den Bierschaum von den Lippen, setzte das Glas bedächtig auf den Tresen – und dann sah er ihn.
Der Alte stand ganz am Ende des Raumes, an der Querseite der Theke, die eine L-Form hatte. Der Mann hob sein Glas und hielt es Joseph entgegen. Sein Kinn hing knapp über der Glaskante; man konnte mühelos „Prost Joseph“ von seinen Lippen ablesen.
Joseph Krüger sah ihn an, fühlte wieder den Stich im Magen, ließ das Glas stehen, drehte sich weg und stieß seinem Stellvertreter an.
„Weißt du, wer da hinten steht – ganz am Ende der Theke?“
„Nee, wer soll das sein?“, fragte Otto nach einem forschenden Blick.
„Bäcker, Hermann Bäcker!“
„Bäcker? Warte mal – Bäcker, Bäcker? Mensch, das glaubst du doch nicht wirklich? Der Bäcker soll das sein? – Verdammt, du könntest recht haben, er könnte es sein. Vom Alter her … Warte mal! Der war damals, ich glaube so ungefähr achtzehn? Das war – warte, warte, 1944, stimmt´s? – Das sind genau 60 Jahre. Dann müsste der jetzt so um die 78 sein.“ Noch ein prüfender Blick, gekrauste Stirn. „Ja – das könnte stimmen!“
„Ich sag´s doch! Da muss ich nicht erst rechnen; ich kenn doch das Gesicht. Mutter hat’s mir oft genug auf den alten Fotos gezeigt. Was hat sie immer gesagt? ‚Das isser, Joseph! Vergiss die Fratze nie!’, hat sie gesagt. Er mit Heinrich auf einem Foto! Ich hab´s später abgeschnitten und in den Ofen geworfen.“
„War richtig, Joseph. Ist doch vorbei. Vergiss es, Joseph, es ist zu lange her. Das kannst du heute nicht mehr werten, es ist verjährt, vergessen und vorbei. – Komm! Trink dir noch eins!“
„Nein! Nichts ist vergessen! Nach sechzig Jahren taucht der hier auf, als wär nichts passiert. Ich fass es nicht! Und dann, an diesem Tag, diesem besonderen Tag, an dem wir seiner gedenken, kommt der her.“
„Lass sein, Joseph, was willst du noch von ihm?“
„Antworten! Ich will wissen warum.“
„Wir wissen es doch; es gibt nichts zu fragen.“
„Oh doch! Warum, Otto? Warum hat er’s gemacht – damals?“
Joseph Krüger stieß Ottos Glas an die Seite, drückte sich durch die Reihen der Männer, die auf Hockern sitzend oder stehend den Weg versperrten. Die Luft war schwer geworden vom Dunst der nassen Kleider. Dichter Qualm waberte durch den Raum, hing unter den Lampenschirmen, die über den Biergläsern schwebten.
Die Menge versperrte ihm etwas die Sicht, Köpfe wuselten vor seinem Gesicht herum. Dann erblickte er ihn, sah, wie er mit müdem Blick, mit halb geschlossenen Augen, die Männer neben sich beobachtete. Er stand schräg, stark auf die Theke gestützt und trank bedächtig aus seinem fast leeren Glas.
Joseph Krüger blieb hinter ihm stehen, sah auf den schmuddelig weißen Kragen, den von Altersflecken gefärbten Nacken, die spärlichen, ungepflegt hängenden weißen Haarzipfel und spürte die Wutwelle ansteigen.
„Warum bist du hier, Bäcker?“
Der Mann drehte sich nicht um, ließ die Arme auf der Theke liegen, hob nur den Kopf leicht an. „Trinkst du ein Bier mit mir, Joseph?“
„Nein! Mit Verrätern trinke ich nicht. Warum bist du hier? Was willst du? Glaubst du, wir hätten es jetzt endlich vergessen, oder denkst du, du könntest hier deinen Lebensabend verbringen?“
„Ich will mein Grab kaufen!“
„Du willst … Was willst du?“
„Ich will hier beerdigt werden; hier ist meine Heimat. Alle meine Vorfahren liegen auf dem Bergfelder Friedhof. Für mich wird´s Zeit, ich muss wohl bald mit allem rechnen.“
„Wir wollen dich hier nicht haben! Weder tot noch lebendig! Ist das klar?“
„Nein! Was wirfst du mir vor? Wollt ihr mich nicht endlich in Ruhe lassen? Reicht es euch noch immer nicht?“
„Das ist doch … Was ich dir vorwerfe? Verrat, Bäcker! Ich rede davon, dass du meinen Onkel Heinrich an die Nazis verraten und ausgeliefert hast!“
Den letzten Satz brüllte er so laut, dass seine Stimme die Wortsuppe, das Gebrause an der Theke – selbst noch am hintersten Platz – leicht übertönte.
Es wurde schlagartig still, nur die Wirtsleute zapften und lachten noch; sie lebten erst seit fünfzehn Jahren im Ort, waren noch Fremde, die nichts verstanden.
Alle Köpfe drehten sich zu den beiden Männern, die am Ende der Theke standen. Biergläser wurden auf dem Weg zum Mund angehalten; Zigarren machten vor den geöffneten Lippen halt und gerade begonnenes Lachen brach einfach ab.
„Du bist verrückt, Joseph! Lass mich in Ruhe! Lass mich mein Bier trinken und hau ab!“
„Nein, Bäcker! So nicht! Weißt du, wie oft ich an dich gedacht habe? Weißt du, wie oft ich „Verräter“ „Schweinehund“, Nazisau“ und noch einige andere Gedanken hatte, wenn nur jemand sagte, er müsse mal eben zum ‚Bäcker’ gehen? Jetzt bist du hier und wirst uns sagen, warum du deinen Freund – den Bruder meiner Mutter – an die Nazis verraten hast. Jetzt, hier und heute, wirst du es uns sagen. – Wir hören dir alle zu!“
„Es wär besser für euch alle, wenn ich den Mund halten würde, Joseph – glaub mir.“
„Wie? Was willst du damit sagen? Willst du aus Opfern Täter machen? He? Ist mein Onkel vielleicht freiwillig in diese so genannte Todeskompanie gegangen? Hat er vielleicht aus Überdruss den Tod gesucht? Hat er vielleicht sogar dich verraten – und nicht du ihn?“
„Du weißt gar nichts! Du warst damals noch ein Hosenscheißer. Ach nee, aber gerade mal fünf oder sechs Jahre warst du. Die meisten hier haben es nicht miterlebt, haben noch in die Windeln geschissen oder sind an Mamas Hand spazieren gegangen. Ihr habt keine Ahnung!“
„Dann klär du uns auf! Sag uns, was daran falsch ist, wenn ich behaupte, dass du damals zum Hubert Wickert gegangen bist, dem damaligen Nazi-Polizisten, und Heinrich angezeigt hast. Du hast behauptet, er plane ein Attentat auf die Bahnlinie. Er habe dafür Sprengstoff gestohlen und gehortet. Du hast ihnen das Versteck gezeigt, in dem er den Sprengstoff gelagert hatte, gesammelt aus dem Steinbruchbestand. Das ist alles bekannt und unstreitig. Eins nur ist offen geblieben: warum? Was war der Grund für deinen Verrat? Weshalb hast du deinen Freund verraten, du …“Joseph Krüger atmete schwer, spürte wieder die Stiche im Magen, hatte einen üblen Geschmack im Mund; er hätte ihn gerne mit einem Schluck Bier runter gespült. Er streckte seine Hand aus und drückte dem Alten den Zeigefinger auf die Brust.
„Es hat ihm nichts genutzt, dass er alles abstritt. Seine Aussage, sich als Gehilfe des Schießmeisters einen kleinen Vorrat angelegt zu haben, um Silvesterfeuerwerkskörper zu bauen, wurde nicht akzeptiert. Das hätte ihm höchstens einen Monat Gefängnis gebracht, mehr nicht.“
„So ist es!“, rief eine Stimme aus dem Zigarrennebel.
„Drecksau!“
„Wartet! Wir wissen aus Briefen, dass er mehr plante. Er wollte es den Nazis zeigen, das hat er von der Front geschrieben. Du hast das verhindert, Bäcker. Du hast ihn zum billigen Attentäter gemacht. Wir alle hier wissen, dass er mehr war. Er wollte gegen das Regime aufstehen! Was hast du für deinen Verrat bekommen von den Nazis?“
„Nichts! Ich habe nur Schlimmeres verhindert! Ich habe einen dummen Jungen angeschwärzt, der uns alle ins Unglück stürzen wollte! Ich habe dieses Dorf damit beschützt, euch alle – besonders eure Alten, um genau zu sein – und ich war nicht alleine dabei.“
Joseph Krüger lachte laut auf, hieb auf die Theke und sah sich um.
„Habt ihr´s gehört? Habt ihr´s begriffen? Nicht dieser Kerl hier ist der Schlimme, der Verräter. Oh nein! Heinrich, der Bruder meiner Mutter, ein Junge von gerade mal 17 Jahren, der keinem was antat, der jedem half, der als Messdiener und als Sänger im Kirchenchor bekannt war, der jeden Tag mit der Angel zum Bach ging und die gefangenen Fische wieder ins Wasser warf, der unschuldig war wie sonst kaum jemand – der ist plötzlich der Bösewicht.“
„Nicht nur er! Auch noch ein paar andere aus diesem frommen, unschuldigen Dorf waren schuldig. Die, die zwei alteingesessene Familien plötzlich hassten und verachteten wie die Pest – weil sie Juden waren. Das ist alles vergessen, nicht wahr?“
„Was willst du hier aufrechnen, Bäcker?“
„Ich will nichts aufrechnen, Joseph – du willst es, du drängst mich dazu!“
„Versteck dich nicht hinter verlogenen Worten! Komm raus mit deinen Gründen; sag uns, was wirklich war.“
„Dein Onkel Heinrich, lieber Joseph, war ein Verirrter und ein Verwirrter; ihm ist plötzlich was in den Kopf gekommen; er wollte die Welt verbessern und sah nicht, was er anrichtete.“
„Was sagst du da? Mein Onkel war ein Verwirrter? Du … Du bist verwirrt! Das macht nicht nur das Alter, Bäcker!“
„Was weißt du denn? Nichts! Bläst dich auf, dass du fast platzt, du Heldengedenkreder. Die Wahrheit wird dir wenig gefallen. – Es gab damals einen Freundeskreis, schon von der Volksschule her. Herbert Große, Heinz Bruder, Erwin Schwind, Heinrich Schulte und ich. Ihr erinnert euch an sie? Ihr habt gerade für sie gebetet. Die ersten drei sind 45 gefallen, als wir zum letzten Kommando eingezogen wurden, als Volkssturm zur Verteidigung der Heimat. Nur ich hab´s gerade noch so überlebt; ich war schwer verletzt, lag mit einem Lungensteckschuss lange im Lazarett.“
„Hast unverdientes Glück gehabt, Bäcker! Was haben die drei anderen mit deinem Verrat zu tun?“
„Genug! Die Drei, dein Bruder und ich, wir waren eine verschworene Gruppe. Wir waren so etwas wie Blutsbrüder, unzertrennlich, eingeschworen auf Tod und Teufel.“
„Und du, du warst der Judas unter ihnen! Du warst ihr Verräter!“
Die Heftigkeit, die Wut dieser Anschuldigung ließ den Alten einknicken, er wirkte unsicher, gab wohl sein Vorhaben auf, endlich Klarheit zu schaffen.
„Ich will nichts mehr sagen! Schluss! Es reicht!“
„Feigling! Es ist nicht genug! Sag es uns endlich! Warum bist du zum Hubert Wickert gegangen? Du wusstest doch, dass er ein Nazi war – wie fast alle Polizisten.“
„Hubert? Wenn du dich da man nicht irrst! Ihr habt alle keine – überhaupt keine – Ahnung! Warum ist der Hubert denn nicht hier? Weil ihr ihn schneidet seit damals! Weil ihr ihm ein Teil Mitschuld gebt an dem, was deinem Onkel passiert ist. Nichts wisst ihr! Ihr habt noch nie begreifen wollen! Dieses Dorf … Oh, mein Gott, was seid ihr für Krüppel!“
Er drückte sich weg von der Theke, legte ein Zweieurostück auf die Platte und wollte an Joseph vorbei, zur Tür. Mit harter Hand fasste der seinen Mantel, riss ihn herum, zog ihn zu sich heran. Ihre Gesichter waren so dicht voreinander, dass jeder nur noch die Augen des anderen sehen konnte.
„Du bleibst! Du gehst erst, wenn ich es sage! Hast du gehört!“
„Lass ihn gehen, Joseph! Es ist genug!“, rief Otto vom anderen Ende der Theke und wollte sich zu ihnen durchdrängen. „Lass den alten Mann in Ruhe, Joseph. Du kannst nichts mehr ungeschehen machen.“
„Halt dich raus, Otto! Ich will endlich begreifen, was einen Mann aus unserem Dorf dazu bewegt hat, seinen besten Freund zu verraten; ich muss es wissen!“
Niemand an der langen Theke rührte sich, keiner trank; selbst die Wirtsleute hatten aufgehört, ihre Gläser auszuspülen, der Wischlappen lag vollgesogen, vergessen, unter dem tropfenden Bierhahn.
„Du willst es nicht anders! Du willst alles wissen? Nun gut; dann soll´s wohl so sein.“
Er drehte sich aus dem harten Griff, stellte sich ein Stück weg, lehnte sich an die Wand neben dem Thekenende. Sie schauten ihn alle an, sahen zu, wie er seine Augen schloss und die zittrigen schmalen Hände an die Wand drückte.
„Ja, wir fünf Jungen waren eins; wir wollten sogar füreinander sterben. So einen Unsinn haben wir damals gesprochen. Wir hatten Pläne! Mein Gott, was waren wir naiv; wir wollten die Welt retten, wollten Frieden für alle Menschen. Wir suchten regelrecht nach Aufgaben und sehnten uns nach der Gefahr.
Als 1938 die Nazis alle Juden zusammentrieben, als sie auch hier, in unserem kleinen Dorf anfingen, und Plakate gegen den Kauf bei Juden aufhängten, da fing eine neue Zeit an. Es kribbelte in uns; wir saßen nächtelang zusammen und diskutierten. Wir wussten, dass es auch die Juden in unserem Dorf anging, dass sie nicht verschont würden. Wir kannten kein anderes Thema mehr.“
Er holte tief Luft, blickte in die Gesichter der Männer, die sich alle zu ihm gedreht hatten. „Ja, so war es. Nur Heinrich, der fing schon damals an, redete von großen Aufgaben, die auf uns zukämen, machte Andeutungen über einen Plan, an dem er arbeiten würde. Unser Fragen nach seinen Vorstellungen beantwortete er nur mit Kopfschütteln. Er sonderte sich immer mehr von uns ab.“
„Er ahnte, dass ein Judas im Kreis saß.“Er schloss die Augen und schüttelte den Kopf. „Nein, nein. Es war ganz anders. Für euch hier, für euch ehrbaren Bürger, die seit Generationen mit Goldschmidts und Großbergers zusammenlebten, in die Schule gingen, am Stammtisch saßen, gegenseitig Hilfe leisteten und gegen die anderen Dörfer Fußball spielten, für euch waren diese beiden Familien plötzlich Aussätzige.“
Er öffnete seine Augen, blickte in die Gesichter, die ihn fragend, unsicher auch, anstarrten. Dann schaute er Joseph an, der ihn blass, mit gerunzelter Stirn, wie ein bösartiges Insekt betrachtete.
„Du bist ein Verräter – und du willst unsere Gemeinschaft in den Dreck ziehen. Ich weiß, was da kommen soll!“
„Ach, du weißt es? Dann erklär´s mir doch! Sag mir, warum sich plötzlich alles änderte. Ihr, eure Eltern natürlich, kauftet nicht mehr bei ihnen, spracht nicht mehr mit ihnen, und ihre Geschäfte wurden irgendwann geschlossen. Keiner von euch hat sich für sie eingesetzt, niemand hat sie getröstet, hat ihnen geholfen.“
„Du redest Stuss! Das war überall so! Das kam von oben; hier im Dorf hatte keiner damit zu tun!“
„So? Hatte keiner was mit zu tun. Fertig, was? Wer hat ihnen denn am Heiligen Abend 1939 die Scheiben eingeworfen? Waren das die da oben? Wer hat den Goldschmidts denn im Frühjahr 40 die Jauche in den Flur geschüttet? Waren das die da oben?“
„Das sind Gerüchte, keiner hat jemals Klage erhoben!“
„Na, wie denn auch? Bei wem denn? Mit welchen Zeugen denn? – Lassen wir das. Überall trieben sie die Juden zusammen. Auf dem Dorf geht alles langsamer; es dauerte bis Ende 41, bis die Nazis auch hier mit der Deportierung der beiden Familien beginnen wollten. Wir wussten es vom Polizisten Hubert Wickert, der es deinem Onkel Heinrich steckte; er hat es wie beiläufig erwähnte. Der SD, der Staatssicherheitsdienst, hatte bemerkt, dass es da noch ein nicht ganz judenfreies Dorf gab. Da wussten wir, was wir tun wollten, was wir tun mussten.“
„Hört ihr? Die Märchenstunde beginnt. Jetzt hören wir endlich die so genannte Wahrheit, Leute. – Die Wahrheit des Verräters!“
„Die könnt ihr tatsächlich hören. Wir waren gerade mal vierzehn oder fünfzehn, hatten romantische Träume und eine Menge unausgesprochener Hoffnungen; jeder natürlich völlig andere. Eines aber hatten wir gemeinsam: Wir hassten die Nazis, ihre dummen Sprüche, den Krieg und die Nazi-Hetzerei gegen die Juden.“
Er sah sich wieder um, prüfte die Gesichter, die abweisend, ohne erkennbare Zustimmung, immer noch zu ihm gedreht waren. Er wusste, was sie dachten.
„Wir alle kannten und mochten die Goldschmidts – deine späteren Schwiegereltern, lieber Joseph – und die Großbergers, seitdem wir geboren waren. Wir spielten bei ihnen auf den Höfen und in den Gärten, kauften bei Goldschmidts unsere Wurst, sahen ihm beim Schlachten zu und bekamen oft ein Stück Fleisch ab. Bei Großbergers ließ mein Großvater schon die Pferde beschlagen; wir konnten stundenlang zusehen, mochten den beißenden Rauch, der von den Hufen aufstieg. Und die sollten jetzt in die Konzentrations- oder Arbeitslager? Wir konnten es nicht glauben; dann fassten wir einen Plan. Wir würden diese Juden retten.“
„Du willst dich rein waschen, was? Judenretter? Wie dieser Schindler, was?“
„Da gibt es nichts zu waschen – wenigstens nicht für mich, Joseph. Der Anfang war schwer. Wir saßen lange mit den beiden Familien zusammen, nahmen ihnen das Misstrauen, die Angst und die Lethargie, wir gaben ihnen eine richtige Hoffnung. Meine Eltern hatten hinten am Wald das Jagdhaus, das groß und gut ausgerüstet war; ihr kennt es ja alle gut genug. Es stand auf unserem Privatgrund, niemand kam da hin, keiner betrat unser eingezäuntes Grundstück.“
„Lenk nicht ab, Bäcker! Komm zur Sache! Was hat diese kindische Judengeschichte damit zu tun?“
„Wie du das sagst! Judengeschichte! Ja, so ist das hier im Ort – wohl immer noch. Wart´s nur ab! Mein Vater war schon lange an der Front und meine Mutter mied das Jagdhaus wie die Pest. Sie fürchtete sich vor den Jagdtrophäen, die an den Wänden hingen. Die toten Augen der Vögel und der Pelztiere verhexten sie, hat sie mir mal gesagt.
Wir hatten also freie Bahn. In einer einzigen Nacht brachten wir alles, was tragbar war, rüber, versorgten sie außerdem mit allem, was fürs Erste notwendig war.
Sie blieben dort im Haus, durften nicht einmal vor die Tür gehen, solange es Tag war; nur in der Nacht gingen sie an die Luft. Wir konnten keinem im Ort trauen, jeder galt als möglicher Verräter. Sie machten nur im Wohnzimmer Kerzen an; dafür hatten wir die Fenster ordentlich mit Brettern verschlossen, innen mit alten Zeitungen die Ritzen verstopft.
Es ging gut. Niemand kam zum Haus, selbst nicht, als sie die spurlos verschwundenen Familien suchten. Sie glaubten, die Juden hätten was mitgekriegt, wären abgehauen, zur Grenze hin verschwunden – wahrscheinlich in die Schweiz rüber. Man gab erstaunlich schnell auf.
Nur einer, der Hubert Wickert, der hatte einen Verdacht. Eines Tages stand er da vor unserem Jagdhaus und fing uns ab, als wir heimlich Brot und Wurst hinbringen wollten. Er hat´s uns auf dem Kopf zugesagt. – Und dann waren wir schon sechs, die unsere Juden beschützten.“
„Das darf nicht wahr sein! Du spinnst dir da was zurecht. Der Wickert, der soll die Juden nicht verraten haben? Der hat sie beschützt? Du erzählst Märchen, Bäcker!“
„Nein, nein. Ihr versperrt euch vor der Wahrheit. Der Hubert war kein Nazi. Er half uns, sorgte dafür, dass es bis 45 gut ging. Wir hatten eine wahnsinnige Aufgabe. Wir mussten unauffällig Lebensmittel besorgen und alle anderen wichtigen Dinge. In jeder Nacht waren zwei von uns unterwegs. Wir zitterten vor dem Moment, in dem einer von den Juden krank wurde; es passierte aber nichts, außer Schnupfen war da zum Glück nichts.“
„Das soll der Wickert unterstützt haben? Dieser Kriecher?“
„Was seid ihr verblendet! Ja er hat es getan. Mehr als drei Jahre lebten die da in unserem Jagdhaus, gewöhnten sich an die Einschränkungen, mussten im Winter ohne Ofen auskommen, wickelten sich in die Decken, die wir herein schleppten. Sie waren unglaublich diszipliniert, nie verzweifelt. Wir brachten ihnen Bücher und Zeitungen, damit sie ungefähr wussten, was los war. Sie vertrauten uns blind. Hörst du? Sie vertrauten uns mehr als jedem anderen Menschen auf der Welt. Sie hatten keine andere Hoffnung als uns. Sie drückten und küssten uns, wenn wir gingen – auch deinen Onkel; ihn mochten sie besonders. Er war immer so ernst und konnte ihnen lange zuhören. Sie kamen uns so arm, so verlassen vor.“„Gesülze! Was soll der Mist? Willst du mir sagen, dass die niemand vermisste, dass die keiner suchte?“
„Niemand suchte nach ihnen. Fremde kamen nie in den Ort und so schien alles gut zu gehen. Es wurde zur Routine. Wir wurden immer besser und waren fast perfekt – aber nie sorglos. Drohte Besuch von der oberen Polizeibehörde oder vom Sicherheitsdienst, dann warnte uns Hubert Wickert früh genug.“
Der Alte drückte sich von der Wand ab und gab den Wirtsleuten ein Zeichen. Sie zapften ein Bier, von dem er – mit leisem Schlürfen – nur einen kleinen Schluck nahm. Auch die anderen Gäste tranken, verlangten Bier, streiften die langen Aschekegel von den Zigarren. Es blieb still, keiner sprach laut, niemand wollte gehen.
„Deinem Onkel war es nicht genug, was wir da taten, Joseph. Er wollte mehr tun als das langweilige Beschützen, das Verstecken der beiden Familien. ‚Wir müssen ein Zeichen setzen’, sagte er. ‚Wir müssen etwas tun, was sich nicht mehr verheimlichen lässt, was wie ein Fanal wirkt, was auch im Ausland bekannt wird.’
Sein geheimer Plan bekam plötzlich Konturen für uns, aber Genaues wollte er immer noch nicht sagen.
An einem seiner Angeltage bin ich mit ihm gegangen. Wir saßen da, schauten aufs Wasser, warteten auf den Ruck an der Angel. Und dann erzählte er plötzlich. Ich dachte im ersten Augenblick, er mache Spaß; aber es war kein Spaß – es war sein bitterer Ernst.
Er plante, in den inneren Kreis der Nazigrößen vorzudringen. Er wollte als Maulwurf Karriere machen.
‚Ich schaff´s bis nach Berlin!’, sagte er.
Nur, wie konnte er schnell vorankommen? Er musste bekannt werden, musste sich einen Namen machen. Sie nahmen ja gerne solche Leute, die sich durch eine besondere Tat ausgezeichnet hatten. Das wusste Heinrich! Aber noch, so sagte er, hätte er keine Idee.“
„Und das, Bäcker, das Vertrauen, das er dir entgegenbrachte, das hast du missbraucht. Du warst schlimmer als Judas!“
„Du weißt noch nicht alles, Joseph! Heinrich führte Tagebuch. Er schrieb alles in diese Kladden; was ihn bewegte, was wir geplant und getan hatten. Das war äußerst gefährlich in der damaligen Zeit; wir haben ihn oft gewarnt. Heinrich hat immer nur abgewunken und uns wegen unserer Ängstlichkeit verlacht.
Ich wollte ihn eines Tages abholen, aber er war noch nicht zurück von einer Besorgung. ‚Warte in seinem Zimmer’, sagte seine Mutter. Ich wartete also, und dann sah ich die Kladde auf seinem Bett liegen. Ich hab einfach rein geschaut, hatte ein mächtig schlechtes Gewissen. Aber was ich da las, das machte mich verrückt, da vergaß ich mein schlechtes Gewissen ganz schnell. Ich konnte es nicht fassen, was er da hingeschrieben hatte. Die Überschrift hatte ein Fragezeichen. ‚Ein wahnsinniger Plan?’ stand da.“
„Unser Heinrich hatte einen wahnsinnigen Plan? War es Wahnsinn, gegen diese Mörder vorzugehen?“
„Ja, es war ein wahnsinniger Plan! Er war doch noch so jung. Und seine Fantasie spielte verrückt. Er wollte die beiden Judenfamilien opfern! Er wollte sie sozusagen als Eintrittskarte benutzen. Ihr glaubt nicht, wie genau er dieses Vorgehen beschrieben hatte. Wenn er dann in den inneren Kreis vorgestoßen wäre, wollte er die Nazigrößen, womöglich sogar den Führer, in die Luft sprengen. Sprengstoff hätte er schon genügend geklaut und gehortet. Eine kindische Idee! Es war natürlich eine Unmöglichkeit; nie hätte er es so weit geschafft; aber den Verrat der Juden, den hätte er natürlich leicht erledigen können. Der stand ja am Anfang seines Vorhabens.“
„Halt ein! Du lügst!“
„Oh nein, Joseph. So war es! Ich begriff plötzlich, warum er in der letzten Zeit so oft abwesend gewirkt hatte, warum er sich nicht mehr einteilen lassen wollte für den Dienst zur Versorgung der Judenfamilien. Vielleicht wollte er es sich selber leichter machen, sie nicht mehr täglich ansehen müssen. Wie real der Plan war, erkannte ich, als ich das beschriebene Versteck aufsuchte. Mit der Menge Sprengstoff konnte er einen ganzen Häuserblock umlegen, und mit dem Sprengen kannte er sich auch aus.“
Es war geisterhaft still im Lokal; als wären sie erstarrt, zu Stein geworden, standen sie da und glotzten den alten Mann an, der zitternd an der Wand stand, nervös einen Schluck aus seinem Glas trank. Joseph war blass geworden, krümmte sich leicht.
„Weiter!“, verlangte er heiser; jetzt wollte er alles wissen.
„Wir haben ihn dann zur Rede gestellt. Ich hab´s ihm auf den Kopf zugesagt. Es störte ihn überhaupt nicht, dass ich sein Tagebuch gelesen hatte.
‚Dann wisst ihr´s endlich’, sagte er erleichtert. Ja, er war nicht abzubringen von seinem Plan. Es machte ihm nichts aus, dass die Menschen in dem Jagdhaus ihm so vertrauten, ihn mochten – ja sogar wie einen Sohn liebten. Er wollte die fünf jüdischen Menschen opfern, deine Sarah war ja noch nicht da, ihr ältester Bruder, David, war schon 39 geboren. Er hätte nicht nur sie geopfert, sie umbringen lassen, denn ihr Tod war sicher. Er wusste auch, dass sie fragen würden, wer die Juden so lange versteckt, wer sie verpflegt hatte. Dass wir damit auch geliefert waren, das sah er als schlimm, aber als notwendig im Sinn der großen Sache an.
‚Euch wird nicht viel passieren’, sagte er einfach. ‚Das wird als jugendliche Verfehlung abgetan. Vielleicht kommt ihr einen Monat in den Bau’, sagte er.
Aber das müsse uns die Sache doch wert sein; es gehe ums Ganze. Vielleicht hatte er in dem Punkt sogar Recht, vielleicht hätten sie uns milde bestraft wegen der Versteckgeschichte.
Aber war das schon alles? Nein, er hätte das ganze Dorf ausgeliefert. Wisst ihr, was passiert wäre, wenn er das Attentat durchgeführt hätte? Sie hätten im Dorf nach Schuldigen, nach Mitwissern gesucht. Oh ja! Sie hätten unser Dorf, aus dem der Attentäter stammte, als eine Hochburg des Verrats bezeichnet. Dafür gibt´s Beispiele! Sie hätten uns alle dafür haftbar gemacht; das war mal sicher.“
Hermann Bäcker schien es nicht gut zu gehen, auf seiner graublassen Stirn standen Schweißperlen. Er ging zurück zur Theke, schob sich mühsam auf einen Thekenhocker, trank noch einmal sehr langsam, bis das Glas leer war. Der Wirt stellte ihm unaufgefordert ein frisches Bier auf die Theke.„Wir wussten es“, sagte Hermann Bäcker leise, sehr langsam. „Wir wussten genau, was passieren würde. Wir sagten es ihm. Wir baten ihn, doch das alles zu berücksichtigen. Wir drohten ihm und verlangten Solidarität mit uns. – Er war nicht zu bewegen.
Dann haben wir uns, ohne Heinrich, heimlich mit Hubert Wickert getroffen. Wir sagten ihm alles! Er teilte unsere Sicht; er wusste noch besser als wir, was das bedeutet hätte. Wir haben uns wie im Fieber beraten, haben uns gestritten und dann endlich für das entschieden, was du weißt.
Wir haben ihn geopfert und ausgeliefert, ja. Wir haben es gemacht, um die beiden Familien und das Dorf zu retten. Ohne Hubert Wickert wäre das nicht gegangen. Er verhörte Heinrich und schrieb alles so nieder, wie es sinnvoll war. Hubert alleine erstellte das Protokoll, lieferte zusammen mit dem Sprengstoff ein fertiges Untersuchungsergebnis. Er wurde damals sogar dafür ausgezeichnet; er hat sich immer dafür geschämt.
Er schilderte Heinrich als vertrottelten Spinner, der ein bisschen schwierig sei, ein bisschen daneben wäre. In seinem Zustand habe er nicht gewusst, was er da plante, er wär sonst ein netter Kerl und ein überzeugter Nazi gewesen. Das rettete ihn vor der Erschießung, und man schickte ihn an die Front, zu diesem berüchtigten Todeskommando.“
Hermann Bäcker sah langsam hoch, streifte die Männer an der Theke mit einem verschleierten Blick, wischte sich den Schweiß von der Stirn und rutschte vom Hocker.
„Kann ich jetzt gehen?“, fragte er Joseph Krüger, der blass und steif vor ihm stand.
„Ach ja! Im Jahr, als der Krieg vorbei war, es war im Mai 45, da kam Sarah zur Welt, deine Frau. Wir hatten Glück, dass sie nicht früher geboren wurde, dann hätten wir wohl ein größeres Problem gehabt, nicht wahr, Joseph?“
Joseph Krüger stand gebeugt, mit abwesendem Gesicht, schaute zur Wand, als lausche er angestrengt auf Stimmen. Sein Blick war leer, glasig fast.
„Das Lügengebäude ist noch nicht fertig, nicht wahr? Weiter, mach nur weiter“, sagte er und bekam die Zähne nicht auseinander.
„Die Goldschmidts zogen ins Nachbardorf, wie ihr wisst. Da bist du dann der Sarah wohl irgendwann über den Weg gelaufen. Haben dir deine Schwiegereltern nie was gesagt? Nein? Ich versteh sie. Sie haben keinem aus diesem Dorf mehr getraut, wohl bis zu ihrem Tod nicht. Die, denen sie getraut hatten, die waren tot oder verschwunden. Großbergers gingen nach Amerika. Aber das wisst ihr sicher besser als ich. Sie mochten hier nicht mehr leben.“
Er ging langsam zur Tür und die Männer traten still zur Seite, bildeten eine Gasse.
„Halt! So nicht! Du Lügner!“ Joseph Krüger straffte sich, zeigte mit zittriger Hand auf Hermann Bäcker.
„Was ist? Hast du noch nicht genug gehört? Reicht es dir nicht?“, fragte Hermann Bäcker.
„Du hast uns deine Geschichte erzählt; nichts davon ist wahr! Nichts! Nichts! Nichts!“
„So ist es! Hau ab, du altes Nazischwein! Verräter!“ Es war eine junge Stimme und sie kam von der Theke; der Sprecher war verdeckt, versteckt hinter den breiten Rücken der vor ihm Stehenden.
„Du hörst, was wir hier von dir halten!“
„Dann fragt doch Hubert Wickert. Er kann´s euch ja bestätigen!“
„Das hätte der längst getan, wenn es stimmen würde, was du da schwafelst. Der hätte nicht das Maul gehalten – der nicht!“
„Wir haben uns damals geschworen, nichts zu sagen, niemals! Jetzt sind alle tot; nur Hubert und ich sind noch da. Könnt dem Hubert ja sagen, dass ich unser Versprechen gebrochen hätte; ich entbinde ihn damit ja von diesem Schwur.“
„Quatsch! Ihr alten Nazis habt euch abgesprochen!“, schrie Joseph Krüger, blickte die Umstehenden an.
„Wenn du meinst; dann lass es bleiben.“
„Wo sind die Beweise für deine Geschichte? Wo? Es gibt keine, kann keine geben!“
„Nun, dann such doch mal nach dem Tagebuch von Heinrich. Vielleicht … Wer weiß? Da könntest du den Beweis finden. Würdest du es hier vorlesen, wenn du es findest, Joseph?“
„Verschwinde! Hau ab! Hau endlich ab!“
„Ja sicher, ich geh jetzt. Aber ich hinterlass euch was – euch allen hier. Zweifel! Jetzt sind sie da, nicht wahr? Zweifel, die sich ausbreiten werden wie ein Krebsgeschwür. Diese Männer hier, die erzählen es ihren Frauen. Die erzählen es beim Kaufmann, beim Frisör und beim Metzger. Ihr werdet sie nie mehr los, diese Zweifel. Und es wird Schluss sein, mit dem dörflichen Frieden, lieber Joseph! Schluss mit deinen Gedenkreden für einen Dorfhelden, der keiner war. Es wird zwei Lager geben. Schluss mit Heldenverehrung! Warte es nur ab. Ich sagte ja, es wäre besser, wenn ich schweigen würde. Aber du wolltest ja die Wahrheit hören!“
Die Tür schloss sich hinter Hermann Bäcker; sie starrten sie an, als käme von dort die Erlösung. Es blieb still; man konnte Hüsteln hören und das leise Klirren eins Glases.
Sie tranken ihr Biere, wagten nicht, sich anzusehen. Langsam, zögernd nur, kamen die ersten Gespräche auf, befassten sich mit Fußball, dem Wetter und dem Gerücht, dass die Grundschule erweitert würde. Nur Lachen, das hörte man an diesem Morgen nicht mehr.
„Ich geh dann mal“, sagte Joseph Krüger zu seinen Vorstandskollegen, die verlegen nickten und wegsahen.