Maria war heute nicht bei der Sache. Ihre Gedanken liefen ständig weg und waren selten bei dem, was sie gerade tat.
Ihr Staubtuch flog über die Tischplatte und verfing sich im Fuß des Hl. Bernhard, der sich nach hinten neigte und vom Tisch zu kippen drohte.
Maria schrie leise auf und konnte die Figur im letzten Augenblick auffangen. Erschrocken schaute sie rüber zu ihrem Mann und atmete erleichtert auf, als er sich nicht rührte.
„Das hätte gerade noch gefehlt“, dachte sie. „Ausgerechnet sein Schutzheiliger. Und das heute!“
Sie hatte die klobige Figur, ein Geschenk ihrer Schwiegermutter zur Hochzeit, noch nie recht gemocht. Sie war sich nicht sicher, ob es daran lag, dass sie ihre Schwiegermutter nicht mochte, oder weil sie diesen Heiligen als Stellvertreter ihres Mannes sah.
„Is’ doch ’n tolles Gefühl, wenn mein Namenspatron ständig im Haus is’ und auf mein Weib aufpasst“, hatte er seiner Mutter erzählt. „Er sieht allet, wat die macht.“
Und wirklich hatte sie seitdem ständig das Gefühl gehabt, beobachtet zu werden, wenn ihr Bernhard auf Schicht war. Das ging so weit, dass sie seinem Stellvertreter das Staubtuch übers Gesicht hängte, wenn sie sich nach dem Essen auf das Sofa legte und einen Roman las. Bernhard hasste es, wenn sie Bücher las.
Seitdem sie ihren Mann nicht mehr liebte, konnte sie die Holzfigur nicht mehr ausstehen.
Sie spuckte ihr auf den aalglatten Kopf, wischte ihn blank und wedelte mit dem Tuch über das einfältig grinsende Gesicht.
„Na, du heiliger Bernhard? Ahnst du was? Guck nicht so blöd, du Staubfänger. Magst mich auch nicht, was? Na warte. Wenn dir die Spinnweben aus den Nasenlöchern hängen, wirst du dich an mich erinnern“, murmelte sie.
Ihr Rücken schmerzte und sie dehnte sich weit nach hinten, presste eine Hand auf die Wirbelsäule, wischte mit dem Rücken der anderen Hand den Schweiß aus dem Kittelausschnitt.
Vor fast drei Stunden, direkt nach dem Essen, hatte sie mit dem großen Hausputz angefangen. Eigentlich war es nicht nötig, das wusste sie, denn sie säuberte die Räume ja jede Woche – und heute stand es wirklich nicht auf ihrem Plan.
Und heute wischte, putzte, scheuerte und schrubbte sie die Wohnung so gründlich und sorgfältig wie nie zuvor. „Mir soll keiner was nachsagen“, hatte sie der Badewanne erzählt, als sie, trotz der ungewöhnlich starken Rückenschmerzen, mit ihr begann.
Sie schaute erneut rüber zu ihrem Mann, der seinen Fernsehsessel neben der Couch aufgebaut hatte. Er lag da wie hingegossen; die nackten Beine stützte er angewinkelt auf dem ausklappbaren Fußteil.
„Wie ein Mehlsack liegt der da“, dachte sie und betrachtete angewidert seinen Bauch.
‚Der da’, so dachte und sprach sie in der letzten Zeit fast nur noch, wenn sie Bernhard, ihren Mann, meinte. Es war ihre Form des Protestes, ihre Art, den gewachsenen Abstand zwischen ihnen zu kennzeichnen.
Er bewegte sich nicht, starrte auf den Fernseher und verfolgte eine Diskussion über schwule Partnerschaften. Wütend stieß er mit dem rechten Fuß auf. „Dat musse dir anhören, Alte. Dat sind allet nur Bekloppte, da bei der Quasselrunde.“
„Das Wort wird dir noch Leid tun“, dachte sie und sagte: „Musst ja nicht hingucken. Ist noch keine Pflicht.“
Ihre Antwort nahm er nicht zur Kenntnis. „Dieser Fliege – oder wie heißt der? Mann, wat der sich allet anhör’n muss. Nee, wat ’n Volk. ’Ne ordentliche Familie kennen die gar nich’. Mann! Da krisse so ’nen Hals bei“, rief er wütend und bewegte in der Aufregung sogar den Kopf vor und zurück.
„Was hat der sich verändert! Man kann sich gar nicht vorstellen, dass der mal anders war.“, dachte sie. „Damals, vor dreißig Jahren. Was war das für ein Mann. Ein richtig toller Kerl war das – und wie verliebt ich war! Gott im Himmel, wir sind alle nicht mehr wie früher.“
Bernhard grunzte empört und sie blickte zum Fernseher. Ein hübscher junger Mann strich sich mit den Fingerspitzen durch das Oberlippenbärtchen.
„So schön war mein Kerl auch mal. Na ja, Schönheit ist vergänglich. Aber seitdem der nicht mehr arbeitet, ist alles erst richtig schlimm geworden. Seit fast einem Jahr hockt der vom Frühstück bis spät in der Nacht vor der Kiste und spielt mit der Fernbedienung. Und zieht sich nicht mal an, der Kerl.“
Sie schürzte verächtlich und angewidert die Lippen, als sich ihr Mann den kahlen Kopf kratzte. Die gerippte Unterhose und das dazu passende Unterhemd konnten seine Speckpolster und den Bauch kaum bändigen. Sie schüttelte den Kopf, versuchte vergeblich sich vorzustellen, wie ihr Mann vor dreißig Jahren ausgesehen hatte.
„Ich glaube … Ja, wirklich, ich ekle mich richtig“, dachte sie, erschrak über diesen Gedanken, und murmelte halblaut „Ich verlasse ihn“, was aber von Herrn Fliege übertönt wurde, der gerade mit pastoraler Stimme die Doppelmoral der Gesellschaft anprangerte und dabei seine Gesprächspartnerin intensiv ansah.
„Mann, wie konnte ich mich bloß so vergucken!“, dachte sie und vor lauter Traurigkeit wurden ihre Augen feucht. Mit einem Seufzer nahm sie die Arbeit wieder auf.
Sie fürchtete sich vor dem, was gleich ganz sicher kommen würde. Den Grad ihrer Besorgnis konnte sie ableiten von der Heftigkeit der Rückenschmerzen. Die stellten sich immer ein, wenn sie Angst hatte, wenn sie befürchtete, von Bernhard gerügt und gemaßregelt zu werden.
Die Schmerzen waren heute so schlimm wie noch nie. Der Rücken ließ sich kaum krümmen, schmerzte an mindestens zwei Stellen.
„Ihre Rückenschmerzen sind rein psychischer Natur“, hatte ihr der Orthopäde in der letzen Woche erklärt. „Sie schleppen da was mit sich rum, liebe Frau! Das müssen Sie ändern, sonst wird das nichts. Tabletten und Spritzen sind kein Mittel dagegen.“
Sie bückte sich langsam über die Anrichte, ließ das Staubtuch fliegen, streckte sich und entstaubte den wuchtigen Bilderrahmen, der das Seewasser am Auslaufen und den eleganten, langhalsigen Schwan an der Flucht hinderte.
Die Arbeit fiel ihr nicht leicht, und das lag nicht nur am Rücken. Ihre Figur war schwer und füllig, der Busen quetschte sich aus dem Ausschnitt und der enge Kittel ließ die in Jahren angesammelten Fettrollen und Speckpolster erkennen.„Das kommt bloß von der Frustfresserei. Schuld an meinen Polstern ist der da. Mit ’nem anderen Mann wär ich immer noch schlank wie ’ne Tanne. Kannst mir glauben“, hatte sie Weihnachten ihrer Schwester Helma zugeflüstert, als die – wie üblich – über ihr Gewicht gelästert hatte.
Aber ihr Gesicht war trotz allem hübsch geblieben. Die Haut war glatt und hatte einen leichten Braunton. „Zum Glück“, hatte sie schon oft gedacht. „Make-up dürfte ich mir wohl kaum leisten.“
Ihre riesigen braunen Augen mochten früher manchen Mann verwirrt haben. Sie pflegte sich, legte täglich Feuchtigkeitscreme auf, die sie im Drogeriemarkt billig erstand. Das Geld zweigte sie Cent für Cent vom Haushaltsgeld ab. Den Cremetopf versteckte sie unter ihrer Unterwäsche.
„In diesen dreißig Ehejahren sind unsere Gefühle zusammengefallen und unsere Figuren auseinander gegangen“, hatte sie zu Helma gesagt, als die sie nach ihrem Sexualleben ausfragen wollte.
Da war kein Vorwurf drin, kein Selbstmitleid zu hören gewesen. „Ach, weißt du … Das … Du weißt schon … Das muss ja auch nicht sein. Es ist eben so – anderen geht’s ja wohl ähnlich. In unserem Alter …“
„Na, ich weiß nicht“, hatte ihre Schwester gesagt und sich selbstbewusst die stramme Brust und die schlanke Taille gestreichelt. „Ich hab Spaß dran. Immer! Und nach mir drehen sich die Männer um. – Man muss früh auf sich achten. Wenn du erst damit anfängst, wenn der Speck und die Falten da sind, hat’s keinen Zweck mehr.“
„Du hast gut reden! Bist ja auch viel jünger. Fast zehn Jahre machen schon was aus. Warte mal, wenn du so alt bist wie ich“, hatte sie trotzig geantwortet.
Sie warf noch einen Blick auf den Hinterkopf ihres Mannes, bevor sie auf den Balkon ging, kurz nach unten schaute, dann das Staubtuch über der Brüstung mit harten Knallgeräuschen ausschlug.
Sie atmete tief durch und schaute nach unten. Heute würde es anders weitergehen als sonst, da war sie sich sicher.
„Es ist vorbei mit der Zeit der Lämmer. Ich will bockig werden, zustoßen und mich wehren. – Ich mach’s! Ich mach’s wirklich!“, versprach sie den Autos, die unter ihr an der Ampel warteten.
„Heute mach ich’s! Lass mich nur erst mit dem Putzen fertig sein.“
Noch nie hatte sie einen solchen Mut, einen derartigen klaren Willen verspürt, wie heute.
Vor drei Wochen war es angefangen, hatte sich in ihrem Kopf etwas bewegt, langsam nur, und ungläubig von ihr beobachtet. Damals hatte sie, während sie ihre Zähne putzte und – wie üblich – den Tag und seine Lasten bedachte, den Entschluss gefasst.
„Ich bin gerade mal sechzig und fühl mich wie hundert. Wenn ich mir Helma ansehe, dann fühle ich mich verbraucht und schrottreif.“
Ihre Schwester wurde in diesem Jahr fünfzig, war seit zwei Jahren Witwe, und sah aus wie vierzig. Sie ging ins Kino, ins Theater, war in einem gemischten Kegelklub – „mit tollen Männern“ –, machte Urlaub wann und wo sie wollte und ging sogar tanzen.
„Männer? Na klar! Ich muss sie ja nicht heiraten, um Spaß zu haben. Wenn ich mit einem ins Bett will, weil ich Lust habe – und nicht, weil er Lust hat –, dann habe ich die freie Wahl“, hatte sie ihr erklärt.
Sie war rot geworden, als sie sich dieses „Lotterleben“, wie Bernhard das nannte, vorstellte. Bei dem dürfte sie nicht einmal den Namen ihrer Schwester erwähnen, der bekam gleich einen Tobsuchtsanfall.
„Geiles Drecksweib! Nutte! Aus was für einer Familie kommst du?“, hatte er kürzlich gesagt, als Helma mit einem Kollegen nach Mallorca gefahren war.
Das alles war für sie undenkbar. Der würde sie vom Balkon werfen, wenn sie solche Wünsche wie Kino und Tanzen äußern würde. „Mein Leben kann – und darf – so nicht enden! Ich muss was tun!“
Immer wieder hatte sie sich das gesagt, hatte sich sozusagen eingeschworen, bis es saß. Dann hatte sie überlegt, hatte Pläne gemacht – meist unmögliche Pläne, wie sie sich eingestand – und danach mit ihrer Schwester gesprochen. Zum ersten Mal hatte sie ihr ganzes Eheleben ohne Schönfärberei ausgebreitet.
„Das darf doch nicht wahr sein! Das lässt du dir gefallen? Du bist ein Lamm, ein Blödes noch dazu. Maria, du musst da raus. Zeig dem die rote Karte, verdammt nochmal. Wenn dir die Bude auf den Kopf fällt, oder wenn dein Mann dich verrückt macht, komm zu mir“, hatte sie angeboten – und schnell wieder zeitlich eingeschränkt. „Muss ja nicht für lange sein; sagen wir für zwei Wochen – bis er begreift.“
Das hatte gewirkt. Sie war regelrecht aufgewacht. Seine Bosheiten, die Saufereien, Maßregelungen und Schreiereien, seine hässlichen Gewohnheiten, stießen ihr nun sauer auf.
„Helma hat Recht. Ich muss ihn mal für vierzehn Tage im eigenen Saft schmoren lassen. Es geht so nicht mehr weiter.“
Dieser Beschluss belebte, bewegte – und quälte sie fortan. Sie schwankte zwischen Glücksgefühlen und atembeklemmenden Ängsten. Und langsam, Tag für Tag mehr, verschwanden ihre Bedenken; schließlich waren die Ängste und Unsicherheiten weggewischt. Nur der richtige Anlass, der wollte eben nicht kommen. Ihr Entschluss stand fest. Es musste nur etwas passieren, etwas, das sie nur unklar beschreiben konnte.
„Ich mach’s, wenn er wieder besoffen nach Hause kommt“, hatte sie schließlich festgelegt.
Er kam an den nächsten Sonntagen betrunkener als je zuvor vom Frühschoppen und sie hatte es nicht gewagt.
„Na gut. Ich mach’s aber, wenn er wieder dumme Kuh zu mir sagt.“
Er hatte es schon zehn Mal gesagt und sie hatte es einfach überhört oder ihm verziehen.
„Wehe, er meckert über angeblich verprasstes Haushaltsgeld. Dann sag ich …“
Er hatte nicht nur gemeckert, sondern es sogar um zehn Euro gekürzt. „Muss’ du halt weniger Schnickschnack kaufen. Hab ich etwa Harz IV erfunden, he? Die Blödis da in Berlin, die kannste ja um Geld anbetteln. Hat mir einer gesagt, dass die mich zum Sozialfall machen, wenn ich zu lange arbeitslos bin? Keiner! Diese Drecksäcke!“
Sie hatte genickt und akzeptiert. Von Politik verstand sie nicht viel. Da wusste Bernhard besser, was richtig war.
„Wenn nur der richtige Anlass da wäre. Dann würde ich’s schaffen“, dachte sie.
Und dieser Anlass kam. Heute, am frühen Morgen, der anfing wie alle anderen, war er plötzlich da. Glasklar, wie die frisch geputzten Fenster. Ein Wort war der Auslöser – nur ein einziges Wort.
Er hatte sie – wie üblich – angegrunzt, als sie ‚Guten Morgen’ sagte. Es war weiter nichts Ungewöhnliches passiert; alles war wie immer.Er hatte über das zu harte Ei gemault und sie „dumme Kuh“ genannt. Nach dem Frühstück hatte sie ihm die erste Flasche Bier aus dem Keller geholt und er hatte sie, weil es nicht aus dem Kühlschrank kam, heftig angeschrien.
Wie an jedem Tag legte sie ihm die Quittungen der Einkäufe vom Vortag neben die Flasche. Die anschließende Diskussion wegen des Haushaltsgeldes war auch nicht anders verlaufen als sonst.
„Frag doch deinen Kanzler, den Schröder. Du hast den gewählt; also sieh zu wie du klar komms’. Ich hab dir damals schon gesagt: Wähl wat Gescheites! Gibt ja genug gute deutsche Parteien“, hatte er gesagt und über das gekürzte Arbeitslosengeld II gestöhnt, das er ab Januar bekommen würde.
„Glaub ma’ bloß nich’, dat du dat nich’ spürs’. Die Hälfte Haushaltsgeld gibt et nur noch. Is’ dat klar, Alte?“
Da hatte es geklingelt! Noch nie hatte er das zu ihr gesagt. Alte! Sie fühlte sich verletzt, so sehr verletzt. Verächtlich, herabsetzend hatte das gesagt. Und plötzlich war es ihr, als hätte jemand gesagt: Jetzt Maria – oder nie!
Centgenau verlangte er die Abrechnung und moserte über alle Sachen, die er Luxus nannte, weil sie nicht unmittelbar für ihn gekauft waren.
„Du bis’ zu blöde, den Haushalt zu führen, du dumme Kuh“, hatte er abschließend gesagt und sie in den Keller geschickt, um kaltes Bier zu holen. „Aber kaltet Bier! Is’ dat klar, Alte?“
Sie fuhr mit dem Lappen über das Leder des Fernsehsessels und zuckte zusammen, als der Kopf unter ihr herumflog.
„Du gehs’ mir auf’n Wecker, Alte! Dein Putzfimmel macht mich noch wahnsinnig. Verschwinde aus dem Wohnzimmer! Ich will wenigstens in Ruhe fernsehen.“
Es musste schon ewig lange her sein, dass er sie „Schätzchen“, „Liebling“ oder sogar „Rialein“ genannt hatte; sie konnte sich jedenfalls nicht mehr daran erinnern. Jetzt nannte er sie nur noch „Blödes Weib“, „Kuh“ oder eben „Alte“ – und das Wort wollte sie nicht mehr hören; nicht von im.
„Jetzt oder nie!“, sagte sie.
„Wat haste gesagt?“
„Ich sagte: Der feine Herr fühlt sich durch mich belästigt? Darf ich seine beschissenen Unterhosen und stinkenden Socken waschen gehen? Ist das genehm? Oder soll ich dem Herrn noch ein kühles Bier bringen?“
Sie baute sich vor ihm auf, schob den Kopf angriffslustig vor und stemmte die Hände in die Hüften.
Er glotzte sie fassungslos an. Sein Mund öffnete sich, schloss sich wieder und öffnete sich erneut. Sie konnte sehen, wie er nach Worten suchte, nach Erklärungen vielleicht, um das Ungeheuerliche zu begreifen.
„Äh … Sach ma’! Wat war dat? Bisse bekloppt? Has’ wohl zu viele Schundromane gelesen, wa’? Ich werd dir beibringen, wie du mit deinem Ernährer zu sprechen has’, dat sag ich dir. Noch ein Wort und et kracht!“
Sie ging auf den Fernseher zu, ohne ihren Mann zu beachten, lächelte, als sie daran dachte, wie das in Zukunft gehen würde mit dem Frühstück und dem Zeitungsholen. Sie durfte jetzt nicht locker lassen. Der Anfang war gemacht.
Ihr Staubtuch zischte über die Scheibe des Fernsehers, polierte den fein gekämmten Kopf des Herrn Fliege, fuhr über die offen gezeigten Brüste seiner Gesprächspartnerin aus dem horizontalen Gewerbe, die sich gerade „bekennende Lesbe“ nannte. Dabei prickelte es auf Marias nacktem Arm, die Haare richteten sich auf und es knisterte, als sich die Spannung entlud.
„Bisse jetzt völlig übergeschnappt, Alte? Du gehst sofort weg von der Kiste – und lass dat Wedeln gefälligst sein. Sonst muss ich andere Seiten aufziehen. Mach deinen Scheißputz, wenn ich nich’ in der Wohnung bin.“
„So, so! Wenn der Herr nicht in der Wohnung ist? Wann ist das? Nächste Woche? Nächstes Jahr? Du hängst doch nur vor der Glotze, außer am Sonntagmorgen, wenn du zu deinem Frühschoppen gehst. Dann darf ich Staubputzen, ja?“
„Hä?“, würgte er heraus und zog sich halb aus dem quietschenden Ledersessel hoch.
„Mach dich nicht lächerlich. Damit ist Schluss! Ich lass mich von dir nicht mehr behandeln wie eine Putze. Ich hab hier auch Rechte“, sagte sie sehr ruhig in das Gesicht mit dem weit geöffneten Mund. „Auch eins auf … Also, das im Bett.“
„Hat vergessen, sein Gebiss rein zu stecken“, dachte sie. Sie wartete einen Moment, genoss die Stille, die ihr wie der spannungsgeladene Augenblick vor dem Startschuss zu einem Hundertmeterlauf vorkam. „Jetzt!“, dachte sie. „Jetzt, Maria!“
„Und ich sage dir noch was: Ich geh weg! – Für … Also, für einige Zeit, geh ich weg. Ich lasse dir diese Bude – ganz für dich alleine. Du kannst ungestört fernsehen was du möchtest, kannst essen wann und was du willst, du kannst abwaschen, kochen, putzen, waschen und bügeln wie und wann es dir gefällt – nur mit dem Kommandieren, da ist es vorbei. – Ach, und deinen heiligen Bernhard, den kannste dir mit ins Bett nehmen, dann biste nicht so alleine.“
Er sah sie lange an, schlug sich dann mit der Linken auf die rechte Schulter und nickte heftig.
„Ritterschlag!“, sagte er schließlich. „Hab mich gerade selber gelobt.“
„Was …?“, fragte sie ratlos.
„Nu’“, sagte er mit gönnerhaftem Unterton. „Hab mich nämlich mächtig gebremst. Eigentlich hätteste jetzt ’ne Tracht Prügel verdient.“
„Du willst mich schlagen? – Du schlägst mich nicht! Ich lasse mir nichts mehr gefallen. Das darfst du deinen Saufkumpels in der Kneipe erzählen.“
Er blickte seine Frau aus zusammengekniffenen Augen an. „Weißt du, Alte, wat mein Kumpel Karl am letzten Sonntag, beim Frühschoppen, gesagt hat? Nee, rätst du nich’. ‚Bernhard, du muss’ aufpassen, jetzt, wo du ganz zu Haus bis’. Die Weiber woll´n uns einspannen, uns zu Packeseln und Dienstboten machen. Da musse sofort gegen angehen. Die Weiber sin’ alle gleich. Pass bloß auf, mein Junge.’ – Dat hat der gesagt! Und? Hat er Recht? Klar, hat der Recht!“
Sie erinnerte sich. Er hatte wie irre gelacht, als er durch die Wohnungstür geschossen kam, voll wie eine Haubitze. Er war an dem Tag noch eine Stunde später als sonst nach Hause gekommen und hatte auf ihre Reaktion gewartet. Sie hatte nur geseufzt und festgestellt, dass es aber spät geworden sei. Den Gedanken, diesmal wegzugehen, den hatte sie gar nicht erst gedacht.
„Aufstand der Mäuse?“, hatte er drohend gefragt, um seine Macht auszuloten und sie hatte still ihre Suppe gelöffelt.„Ich verlasse dich“, sagte sie noch einmal. Sie musste sicher sein, dass er sie verstanden hatte.
Ihr Nacken spannte sich, als sie sah, dass er aufstehen wollte. Er stellte die Beine auf den Boden, drückte die Brust heraus und gab seinem Gesicht einen harten Anstrich.
„Wie? Ich kapier ja wohl ’n bissken spät, heute. Wat hasse gesagt? Mich verlassen? Mich? Dafür hab ich dreißig Jahre am Band gestanden und wie ein Tier geschuftet? Dat erlaubst du dir? Gegen deinen Ernährer und Ehemann? Willst mir wohl meinen verdienten Ruhestand versauen, wa’? Pass auf, Alte! Nich’ mit Bernhard Krüger! Dem hat noch keiner den Marsch geblasen. Kannst sofort ’ne Tracht Prügel haben, wenn et dat is’. Sach bloß noch ein Wort. Na?“
Sie wusste nicht, warum sie trotz dieser Drohung weitergeredet hatte. „Ich hab das Großmaul nicht ernst genommen. Mir sind die Gäule durchgegangen“, sagte sie später zu ihrer Schwester.
„Dann wird´s Zeit, Bernhard“, sagte sie und ihr Atem ging schwer. „Du warst, bist und bleibst ein Nörgler. Warum haben sie dich denn gezwungen, mit sechsundfünfzig in Rente zu gehen? Ist doch deine Schuld, das mit dem Arbeitslosengeld II und so. Der Karl ist fast sechzig und der geht noch jeden Tag zur Maloche. Die wollten dich nicht mehr. Du bist denen genau so auf den Geist gegangen wie mir. Du bist jetzt seit einem Jahr zu Hause und führst dich auf, als wenn alle Welt – besonders natürlich ich – an deinem Elend schuld wär. Aber da liegst du falsch. Du bist der Versager!“
„Dat … Dat … Halt dat Maul!“, schrie er und stierte sie mit vorgerecktem Schädel an.
„Nein! Ich mache jedenfalls deine Tyrannei nicht mehr mit. Ich geh jetzt und dann kannst du sehen, wo du bleibst. Du bist ein armes Würstchen – ein dickes noch dazu – und nicht der Herrgott. So! Das musste man dir mal sagen.“
Wie eine schwere Last, fiel alles von ihr herab. Das war es, was sie mit sich herum geschleppt hatte, was sie sich in den schlaflosen Nächten vorgebetet, was sie ihm hundert Mal in Gedanken an den Kopf geknallt hatte.
Er schrie auf, brüllte Unverständliches und sie verstand nur den Schluss: „Jetzt pass auf, Alte!“
Sie hätte nie gedacht, dass er noch so flink war. Sie konnte nicht mehr reagieren, als er auf sie zuflog. Der erste Schlag traf sie auf dem rechten Auge.
Sie taumelte rückwärts vor den Fernsehapparat, der sich mit einem Quietschton in die Schrankecke schob. Sie hatte wohl den Lautstärkenregler getroffen, denn Herr Fliege schrie: „Nein!“ Niemals!“ in den Raum. Aber das nahm ihr Mann nicht zur Kenntnis. Er sah nur noch sie.
Die Schläge trafen sie auf Augen, Ohren und Nase. Er boxte in ihren Bauch und auf den Busen, als wäre sie ein Prellsack.
Sie taumelte haltlos hin und her, von rechts nach links; gerade so, wie sie seine Fäuste trieben. Dann fasste er ihren Kittelausschnitt und riss sie näher heran. Er war kräftig, die harte Arbeit hatte ihm die Muskeln gestärkt. Seine knochigen Fäuste bohrten sich in ihren Körper, trafen ihre Rippen und fegten sie von den Beinen.
Als sie halb ohnmächtig zu Boden stürzte, sich instinktiv an ihm festklammern wollte, roch sie seinen muffigen Schweiß; da erst wurde ihr übel. Sie ließ los und stürzte. Mit der rechten Seite schlug sie auf die Tischkante.
„Neiiiin!“ Sie schrie vor Schmerz, Entsetzen und Panik. Es war der erste Ton, den sie von sich gab, seitdem er sie schlug.
Er stand breitbeinig über ihr. Unter dem Unterhemd hob und senkte sich die Brust in raschem Tempo. Er stierte sie an, betrachtete ihr zerschlagenes Gesicht, das Blut, das aus Mund und Nase lief, fixierte ihre ängstlich geweiteten Augen.
„Du dreckiges Weibsstück!“, grunzte er.
Sie starrte ihn an, sah seine irrsinnige Lust und Befriedigung, sah wie berauscht er von seiner Tat war. Er stand über ihr, mit zuckenden Fäusten. Sie spürte sein Triumphgefühl, das hohe Gefühl des Siegers über einen Schwächling; es machte sie schwindelig.
„Er bringt mich um“, dachte sie und ergab sich kraftlos.
Während er noch wartete und nach Luft rang, seine reglos auf dem Boden liegende Frau betrachtete, stieg die Angst in ihr hoch, drückte ihr die Kehle zu.
Er schnaufte, strich sich den Schweiß aus den Augen und zeigte anklagend auf ihr Gesicht.
„So weit hasse mich gebracht, Alte. Du has’ unseren häuslichen Frieden zerstört. Du! Nur du! Bis jetzt war allet prächtig. Du has’ mich bis zum Wahnsinn gereizt!“ Sein Finger schnellte vor, zeigte anklagend auf ihren blutenden Kopf.
„Du has’ mich dazu gebracht! Du – du has’ mich so lange gereizt, bis ich nich’ mehr konnte. Et is’ deine Schuld – wat passiert is’, nur deine Schuld!“ Schnaufend warf er sich in den Fernsehsessel und wischte erneut den Schweiß von der Stirn.
Sie blieb mit geschlossenen Augen liegen, horchte in sich hinein, versuchte klar zu denken. Der Schmerz in der rechten Seite war schlimm, die Nase stach und die Augen brannten. Im Mund spürte sie Blutgeschmack. Aber sie triumphierte! Sie verspürte ein eigentümliches Glücksgefühl.
„Ich hab’s ihm gesagt! Und ich habe ihn besiegt, diesen Maulhelden und Despoten! – Er hat mich verletzt; ich hab ihn aus der Reserve gelockt. Zum ersten Mal hat er mich nicht mit Worten, sondern mit der Faust angegriffen. – Und er hat Schuldgefühle! Mein Gott! Er weiß, dass er versagt hat, dieser heilige Bernhard.“
Ihr Kittel war zerrissen, Knöpfe abgerissen und eine Tasche hing lappig herunter. Sie stand auf, zog ihn fest zusammen und ging ins Badezimmer.
Sie betrachtet ihr Gesicht im Spiegel und plötzlich begann sie zu zittern. Ihre Augen schwollen an, das Blut im Gesicht trocknete bereits. Die Haare hatten sich aus dem Knoten gelöst, hingen wirr in den Blutbahnen.
Der Schock, die Erkenntnis, kam plötzlich, traf sie hart. „Nein – ich hab ihn gar nicht besiegt. Maria, du bist der Verlierer. Nur du. Oh, mein Gott! Alles ist kaputt!“
Er hatte sie geprügelt! Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie verprügelt worden und sie hatte gespürt, dass es um ein Haar schlimmer gekommen wäre.
„Jetzt ist alles, alles, endgültig aus“, sagte sie ihrem Spiegelbild und bekam dabei kaum die schmerzenden Lippen auseinander. „Nichts ist mit belehren, nichts mit vorübergehender Trennung. Aus! Aus! Aus!“
Sie weinte, während sie sich kämmte und das brennende Gesicht mit Niveacreme einrieb. Sie zog sich Rock und Bluse an und dachte daran, dass sie sich die von Bernhard gewünscht hatte, als sie sechzig geworden war. Drei Tage lang hatte er über die „unverschämten“ Preise geschimpft. Er hatte es ihr übel genommen, dass sie sich die Sachen in einer Boutique und nicht bei C & A gekauft hatte.Weinend packte sie ihre Kulturtasche, ging ins Schlafzimmer, packte ihren einzigen Koffer voll mit Wäsche, Strümpfe und Nachtwäsche, legte noch eine ältere Blusen und zwei Kleider dazu. Zum Schluss holte sie aus dem Schuhschrank im Flur drei Paar Schuhe, drückte alles zusammen in den Koffer und setzte sich matt, mit hängenden Schultern, oben drauf.
Sie blickte sich um, betrachtete ‚ihr Reich’, wie sie es früher oft mit einem gewissen Stolz genannt hatte, wenn sie nicht ganz so unglücklich war.
„Was haben wir uns über das neue Schlafzimmer gefreut – damals, als wir es zusammengespart hatten.“
„Französisch schlafen wir jetzt! Pass auf, wenn ich zu dir komme, dann wird’s französisch. Wirst sehen, wird ein neues Gefühl sein“, hatte Bernhard damals gesagt und dabei richtig lüstern geglotzt. Und sie hatte sich auf die erste Nacht im neuen Schlafzimmer gefreut.
Sie wischte sich mit einem Tempotuch die Tränen aus dem Gesicht; der Kragen ihrer Bluse war schon nass. Sie wusste, dass sie nie mehr in diese Wohnung zurückkommen würde, außer, um ihre restlichen Sachen zu holen. Nach dieser Prügelei war alles anders geworden. Sie hatte ihn nur umerziehen und belehren wollen; sie hatte gehofft, dass er sie um Verzeihung bitten würde. Mit dem hier hatte sie einfach nicht gerechnet.
Sie würde für immer gehen, das beschloss sie in diesem Augenblick. Ihre Schwester hatte Platz genug. Sie konnte ihr im Haushalt helfen und sie würden gut miteinander auskommen – wie früher, das wusste sie einfach. Alles andere würde sich zeigen.
Sie schluchzte noch einmal und beschloss, ab sofort nicht mehr wegen ‚dem da’ zu weinen.
Das Cremedöschen fiel ihr ein. Es war noch genug drin für eine Woche. Sie packte es in den Koffer und holte aus der Strumpfschublade das kleine Stofftäschchen mit dem heimlich gesparten Haushaltsgeld. Es war nicht viel, aber es würde für die erste Zeit reichen. Dann würde sie weitersehen.
„Der muss doch für mich bezahlen?“, dachte sie mit leisem Zweifel. Oh nein! Er sollte nicht so billig davon kommen, das schwor sie sich. Wenn es an sein Geld ging, dann traf es ihn wirklich.
Sie ging in den Flur, rief die Taxizentrale an, nahm den Koffer in die Linke, legte mit der Rechten den Hausschlüssel auf die Garderobe und knallte die Tür hinter sich zu.
„Was für ein schöner Tag“, sagte Maria und lehnte sich weit zurück. „Ich könnte glatt alles vergessen, was geschehen ist.“
„Das lass man lieber sein. Vergiss das besser nie mehr“, antwortete ihre Schwester.
Sie saßen vor dem Straßencafé im Sonnenschein und tranken Cappuccino. Maria hatte sich ein Stück Nusssahne bestellt und löffelte mit genießerischem Blick.
„Bei deiner Figur …“, sagte ihre Schwester mit vorwurfsvollem Unterton und missbilligendem Blick auf den Kuchen. „Aber du bist ja alt genug, um …“
Maria seufzte. „Wenn ich Kummer habe, fress ich. Was meinst du, wo meine Speckpolster herkommen?“
„Jetzt ist doch Schluss mit Kummer. Dein Ekelpaket grämt sich in Köln und du erholst dich hier von den beschissenen dreißig Ehejahren.“
„Ach nein. Die ersten Jahre waren doch auch schön – manchmal wenigstens.“
Das Straßencafé in der Aachener Altstadt war voll besetzt. Besonders viele junge Leute, Schüler und Studenten, genossen den Spätsommertag. Sie tranken Cola, sendeten SMS übers Handy, flirteten und lachten, unterhielten sich laut und ohne Rücksicht auf die anderen Gäste.
„Bernhard hätte die längst zur Ordnung gerufen“, sagte Maria und betrachtete die bunten Perlen in den Rastazöpfen eines braunhäutigen Mädchens, das einen Cocktail schlürfte.
„Der hätte sich zeitlebens besser um seine eigenen Probleme gekümmert. – Du denkst doch hoffentlich nicht so wie dieser Idiot?“
„Nein, eigentlich … Aber manchmal hat er schon Recht. Die jungen Leute sind oft arg lästig – und die ausländischen besonders. Die besonders.“
„Na, na! Das Nazi-Gelabere deines Bernhard hat wohl schon abgefärbt, was?“
„Quatsch. Aber guck dich doch bloß mal um.“
Helma schüttelte den Kopf und betrachtete das Gesicht ihrer Schwester. Maria trug eine riesige Sonnenbrille, die fast die ganze obere Gesichtshälfte verdeckte.
„Siehst blöde aus mit diesem Ding. Hättest auch Make-up auflegen können. Bei mir darfste das“, sagte sie mit zynischem Lächeln.
„Ach nein. Das deckt nicht genug. So sehen die Leute wenigstens meine grünblauen Augenränder nicht. Braucht ja nicht jeder zu wissen, dass ich Prügel bezogen habe. Ich schäme mich so schon genug.“
Sie genoss diese ersten Tage bei Helma wie einen lang ersehnten Urlaub. Ja, sie durfte bleiben. Sie konnte sich eine winzige Wohnung im Dachgeschoss einrichten. Und morgen würden sie beide zu einem Anwalt gehen und alle notwendigen Schritte einleiten. Und ihre Schwester lenkte und führte sie, half ihr, die richtigen Entscheidungen zu treffen.
„Hör zu!“, sagte Helma und stellte die leere Tasse zurück. „Das Schwein muss Unterhalt zahlen. Darauf hast du ein Recht. Kannst nicht erwarten, dass der das von alleine tut. Der Anwalt wird das schon machen. Quetsch deinen Alten aus wie eine Zitrone, damit dem die Tränen kommen, diesem Schwein!“
„Helma!“, rief sie empört und schüttelte sich. „Ich kann das Wort nicht hören. Sag Scheißkerl oder sonst was. Aber nie mehr ‚der Alte’. Hast du gehört?“
„Ach Gott! Hast du ’ne Phobie?“
„Quatsch! Ich hasse das Wort eben. Basta! – Außerdem … Ich weiß nicht … Irgendwie tut er mir Leid. Wir waren soooo lange verheiratet. Gab ja auch schöne Zeiten. Wenn ich zurück denke, an damals, als wir …“
„Hör auf, den zu entschuldigen! Wenn Vater das erlebt hätte. Der hätte deinen Mann bis nach Afrika gejagt. Seine Lieblingstochter verprügeln. Ha! Der hätte selber was auf die Ohren bekommen.“
„Ach ja, Vater! Das war noch ein Mann. So einer …“
„Na klar! Du hast ihn ja immer bewundert; du wolltest ja immer nur starke Männer. Darum hast du ja auch diesen Kraftprotz geheiratet. Ich mochte diese Sorte nie. Die wollen nur schwache Frauen, denen sie ihre Stärke zeigen und die sie verbiegen können. Diese Herren der Schöpfung. – Nee!“
„Ach, wenn der Bernhard seine Muskeln gezeigt hat – früher. Du kannst dir das nicht vorstellen. Ich … Also, damals, da hat der mich richtig heiß gemacht – mit seinen Muskeln. Wenn du verstehst, was ich meine.“
„Aber was der im Kopf hatte, das war dir egal, was?“„Hör auf! Dein Franz, der dünne Hering, war der schlauer? Na siehste! Du weißt ja gar nicht … So! Sooo, hat der Bernhard gemacht“, sagte sie und spannte mit zitternden Wangen den rechten Arm zu einem Winkel. „Hach! Schon doll!“
„Du bist und bleibst blöde. Jetzt findest du schon wieder gute Seiten an ihm.“
„Ach, ich weiß nicht. Es gab doch … Vielleicht war es doch nicht richtig, ich meine …“
„Hör auf! Die Würfel sind gefallen. Bloß gut, dass wir beide keine Kinder kriegen konnten“, sagte Helma. „Für dich ist das jetzt viel einfacher – und ich hab Platz für dich im Haus. Mit Kind würde ich dich nicht genommen haben.“
„Nicht? – Trotzdem! Vielleicht wär alles anders gekommen, mit Kind. Manchmal hätte ich schon was gebraucht – zum knusseln und lieb haben.“
„Du bist und bleibst ‘ne Glucke“, seufzte Helma.
Das Mädchen mit den Rastazöpfen stand auf und ging zur Straße. Maria zuckte die Achseln, blickte auf die Zeitung, die auf dem Nachbartisch lag und im leichten Wind ihre Blattränder anhob. „Aachener Nachrichten“, las sie halblaut. „Habt ihr hier auch Kölner Zeitungen?“ Gedankenverloren griff sie sich das Blatt und las die Überschriften der letzten Seite.
„Helma! – Hier, guck mal! Bei uns in Köln! Da! Das Bild! Die ‚Hohe Straße’! – Warum bringen die das? – Nein! So eine Schweinerei! Dieses Pack! Heute biste nirgends mehr sicher. Das meinte ich vorhin. Genau das. Hör mal.“
Ihre Stimme klang ab der ersten Silbe empört, als sie vorlas: „Harmloser Arbeitsloser in der Fußgängerzone brutal zusammengeschlagen. Das Opfer (58) wurde schwer verletzt.“
Sie schaute hoch und runzelte die Stirn. „Der ist so alt wie mein Bernhard. Zufälle gibt’s!“
„Dein Bernhard!“, sagte Helma und schnaufte wütend.
„Na und? Hör zu: Die Täter waren Ausländer, die ohne Anlass auf den Spaziergänger, der als friedlicher Bürger bekannt ist, einschlugen und sogar den am Boden liegenden Mann mit ihren schweren Stiefeln traten. Der Mann hatte zwei Jungen, die trotz Verbot mit den Fahrrädern durch die Fußgängerzone fuhren, angehalten.“
Sie nickte heftig mit dem Kopf. „Genau! Genau so, hätte der Bernhard die …“
„Na klar. Dieser verhinderte Sheriff. Ich kann diese Rechthaber nicht ausstehen.“
„Wer sorgt denn für Ordnung? Die Polizei? Bernhard sagt immer, die kucken weg, wenn das Ausländer sind. – Einer muss doch … Also, hör zu: Das Opfer musste ins Krankenhaus gebracht werden. Die behandelnden Ärzte bezeichnen seinen Zustand als ernst, aber nicht lebensbedrohend. Die Schläger flüchteten und blieben unerkannt. Die Polizei ermittelt! Sachdienliche Hinweise … Blablabla.“
„Na und? Eine Prügelei. Gibt’s hier auch. Na und? Was geht uns das an?“
„Aber … Stell dir das vor! – So was bei uns in Köln!“, sagte Maria empört.
„Warum denn nicht in Köln? Gibt’s da keine Idioten?“
„Schon. Aber dieser Zufall! So alt wie Bernhard. Und arbeitslos auch. Und der Bernhard hätte da auch was zu den Jugendlichen gesagt. Tut der immer. Ich meine …“
„Vergiss doch endlich diesen Rambo und Allesbesserwisser. Die sollten lieber folgendes schreiben: Ein wütender Arbeitsloser schlug seine Ehefrau zusammen. Er verletzte ihr die Niere und brach ihre Nase. Das Opfer ist als friedliebend bekannt“, sagte Helma und lachte spöttisch. „He! Sollen wir das einer Kölner Zeitung stecken?“
„Ach du! Das hier war doch was ganz anderes. – Nein, meins wird schon wieder. Tut schon gar nicht mehr weh. Aber dieser arme, alte Mann, der …“
„Du Seelchen. Schade, dass es nicht dein Mann war. Da wüsste der, wie das weh tut, wenn man geprügelt wird.“
„Helma! Du bist so grob. Wenn ich wüsste, dass es Bernhard gewesen wäre … Ich glaube, ich wär in einer Stunde in Köln.“
„Oh, mein Gott! Du begreifst es nie.“
„Na ja. Ich will mich nicht aufregen. Vielleicht hast du Recht. Mal sehen, was wird. Hauptsache, ich bin erst mal bei dir. – Trinken wir noch einen?“
Helma seufzte und schüttelte den Kopf. „Ich brauch wohl dreißig Jahre, damit du vergisst, was dieser Kraftprotz aus dir gemacht hat. – Am Samstag geh ich übrigens zum Tanzen. Ich freu mich schon immer die ganze Woche drauf. Du willst sicher nicht …“
„Warum nicht? Eigentlich könnte ich doch … Sag mal: Wie sehen meine Augen aus?“, fragte sie, setzte die Brille ab und lächelte ihre Schwester an.
„Grünblau! Mach ein Foto für den Anwalt und den Richter. Ausgehen kannst du damit nicht.“
„Ach Mensch! Du bist so … Mit Bernhard konnte ich ganz anders reden.“