„Sehr geehrter August Artiste, liebe Frau Bürgermeisterin Wessel, hochverehrte Stadtverordnete, meine Damen und Herren von der Presse, sehr geehrte Gäste, ich komme nun zum Schluss meiner Ausführungen.“
Heinrich-Georg Burger, Direktor des Heimat- und Kunstmuseums, schon vor Jahren für seine Verdienste – um die Kunst im Allgemeinen und die Geschichte der Heimat im Besonderen – mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet, blickte von seinem Podest herunter auf die Köpfe der versammelten Honoratioren seiner Stadt.
Ja, es war seine Stadt, in der er und sein kleines Museum den kulturellen Mittelpunkt bildeten.
Er dachte tatsächlich immer ‚meine Stadt’, wenn er über den kleinen Ort sinnierte, der verborgen zwischen den Großstädten Köln und Düsseldorf, irgendwo im Hinterland des Niederrheins lag.
Er pflegte auch bei den tiefschürfenden Diskussionen während der sonntäglichen Stammtischrunden im ‚Goldenen Kalb’ von seiner Stadt zu sprechen und nicht selten zu äußern: „Ich möchte in keinem anderen Ort wohnen als hier, in meiner Stadt.“
Einige seiner Stammtischbrüder – der Apotheker Bömmel und der Schulleiter Bresser – hatten ihm das Pult mitten im hell ausgeleuchteten „Artiste-Raum“ aufgebaut.
Den Namen ‚Artiste-Raum’ hatte der Stadtrat – auf seine Anregung hin – vergeben. Das war unmittelbar nach der siebzehnten Schenkung des Künstlers, einem treffend nachgebildeten Uhu, geschehen.
Direktor Burger wischte sich mit dem Tüchlein, das er dazu in die Brusttasche seines schwarzen Anzugs gesteckt hatte, den Schweiß von der Stirn.
„Mein Herzblut …“, sagte er leise, stockte und tupfte sich erneut die Stirn ab. „Nein, mehr: Mein ganzes Denken und Handeln beschäftigt sich mit diesem Museum und seinem Bestand. Aber es gibt Tage … Verzeihen Sie meine Ergriffenheit, aber dieser heutige Tag ist ein ganz besonderer.“
Er seufzte und schaute hinüber zu der Frauengestalt, über die er nun schon fast eine Stunde referiert hatte. Sein Blick huschte über ihr Gesicht mit den großen Augen, dem unergründlichen Lächeln, glitt zu dem herrlich geformten Körper und verweilte dort – fast zu lange, mochte mancher meinen. Mit einem Seufzer riss er sich los und wandte sich wieder seinen Zuhörern zu.
„Noch nie, meine Damen und Herren, solange ich dieses alte, ehrwürdige und prächtige Heimat- und Kunstmuseum leite, hat es eine solche Schenkung gegeben. Dass es mir gelingen würde, dieses – leider, leider – letzte Werk unseres hochverehrten Freundes und Künstlers, August Artiste, für unsere Ausstellung zu ergattern, das – meine Damen und Herren – habe ich nicht zu hoffen gewagt.
Nun ist meine Stadt die rechtmäßigen Besitzerin dieser „Göttin der Lebenslust“, wie sie unser hochverehrter Künstler genannt hat.“
Kleiner Beifall.
„Ja – Sie haben richtig gehört. Es soll tatsächlich das letzte Werk unseres lieben August Artiste sein. Das hat mir der Künstler erst gestern gesagt – und ich war erschüttert. Aber, meine verehrten Gäste, können wir das so hinnehmen? Sind Sie nicht mit mir der Meinung, dass ein so großer Künstler – wie August Artiste es ja wohl ist – schaffen muss, bis er den Meißel nicht mehr in den Fingern halten kann?“
„Jawohl!“ und „Bravo!“, riefen zwei Stimmen, und das löste erneut leichten Beifall aus.
„Äh … Also … Was wollte ich sagen? Jedenfalls; diese Skulptur ist eine Bereicherung unserer ständigen Artiste-Ausstellung. Sie wird die Menschen aus meiner – äh, unserer – kleinen Stadt und der Umgebung anlocken und bezaubern, wie sie wohl jeden verzaubert hat, der sie ansehen durfte.“
Es gab nunmehr starken Beifall, besonders von den dunkel gekleideten Herren des Stadtrates. Mit einem verschmitzten Lächeln blickte der Direktor dem Künstler August Artiste in die nervös zwinkernden Augen und hob seine Stimme bedeutungsvoll an.
„Nun, mein großer Künstler und Freund. Es bleibt ja wohl nur noch eine Frage offen, deren Antwort uns alle brennend interessiert: Welche schöne Dame dieses Städtchens hat für dieses unnachahmliche Kunstwerk Modell gestanden?“
Ein allgemeines Gelächter – teils anzüglich, teils verlegen – war zu hören. Auch mit Kichern untermaltes Geflüster einiger Damen konnte man unschwer vernehmen. Jedenfalls drehten sich alle Köpfe zu dem kleinwüchsigen alten Mann, der an der Wand neben der Tür stand.
Eigentlich passte er nicht in diese festlich – oder zumindest dunkel – gekleidete Gesellschaft. Mit seiner dicken, wattierten Jacke, den an den Knien ausgebeulten Kordhosen, wirkte er wie ein – ja, man muss es so sagen – wie ein Anstreicher, der darauf wartet, dass er endlich seine Arbeit beginnen kann. Seine braunen Schuhe zeigten tatsächlich Spritzer weißer Farbe, die aber vom letztjährigen Anstrich seines Ateliers stammten.
Das alles, und die ungekämmten, lang herunter hängenden, weißen Haare, auf denen eine speckige Baskenmütze hing, dazu das unrasierte Gesicht, ließen ihn zwischen den noblen Damen und Herren tatsächlich wie einen Handwerker wirken, der sich in diese illustre Gesellschaft verirrt hat.
„Ähm“, sagte der Mann und rieb sich die gewaltige Nase, die wie eine überdimensionale Erdbeere aussah.
„Nun? – Sie wollen es uns also nicht verraten, lieber Artiste? Dann wird dies weiter ein Rätsel – ein noch zu lösendes Rätsel – sein und diese wunderschöne Frau noch interessanter machen. Das „Geheimnis der Göttin“ könnten es die Zeitungen nennen; das würde wohl noch mehr Besucher locken, nicht wahr, liebe Vertreter der Presse?“
Wieder ertönte zustimmendes Lachen, die Bleistifte der Reporter huschten über die Notizblöcke, und August Artistes Nase wurde dunkelrot.
„Meine lieben Gäste! Ich darf Sie nun alle bitten, mit mir zum Buffet zu schreiten. Wir haben die dort befindlichen Köstlichkeiten unserer fleißigen Frau Ermert zu verdanken, die uns mit appetitlichen Schnittchen und kühlen Getränken verwöhnen will. Guten Appetit und eine angenehme Unterhaltung wünscht Ihnen Ihre Museumsleitung.“
Eine allgemeine Rückwärtsbewegung wurde schnell erkennbar, der Platz vor dem Podium leerte sich. Die drei Vertreter der regionalen Presse nutzten die Gelegenheit und ließen ihre Blitzlichter aufleuchten.
Also stellte sich Museumsdirektor Burger neben die Figur, legte seine Hand auf die fein modellierte Schulter und lächelte so, wie er es mehrfach vor dem Spiegel geübt hatte.
„Aber bitte, meine Herren! Schreiben Sie nicht wieder Heinz Burger. Es muss heißen: Direktor Heinrich-Georg Burger – und Heinrich-Georg bitte mit Bindestrich.“Auf Bitten der Reporter sollte sich dann aber auch August Artiste neben sein Werk stellen. Er tat das widerwillig und musste mehrfach aufgefordert werden, freundlich zu lächeln.
„Ähm. Schreiben Sie bitte: Der ‚Bildende Künstler’ – wenn´s recht ist“, sagte er mit seinem kleinen französischen Akzent, als die Fotografen schon ihre Sachen packten. „Nicht ‚Bildhauer’ – bitte!“
„Sie wollen wirklich …?“, fragte der Reporter des kostenlosen Wochen-Werbeblattes „Das Fenster“.
„Ja, sicher, isch werde aufhören“, seufzte August Artiste, „denn nach diesem Werk gibt es keine Herausforderung mehr für mich.“
Er zeigte auf den Kopf der Göttin. „Sie ist die Erfüllung all meiner Träume. Nach ihr kann ich nichts mehr schaffen; es wäre nur noch Schund.“
Der Reporter nickte, als habe er verstanden und kritzelte eifrig etwas in seinen streichholzschachtelgroßen Notizblock. „Darf ich Sie wörtlich zitieren?“
„Aber ja! Wen sonst?“, fragte Artiste erstaunt.
Nachdem auch die Reporter zum Buffet geeilt waren, befanden sich nur noch der Künstler und der Museumsdirektor im Raum – und natürlich die ‚Figur’. Während der Direktor sein Manuskript ordnete, schaute der Künstler nachdenklich auf sein spätes Werk.
Die lebensgroße Frauenfigur stand auf einem Steinsockel. Ein kleines Metall-Schild gab ihr einen Namen, eine Identität, und nannte den verantwortlichen Künstler: „Göttin der Lebenslust“ – geschaffen von August Artiste im Jahre 2004“.
Der Kopf der Göttin thronte auf einem schmalen langen Hals, das feine Gesicht, gekennzeichnet durch hohe Backenknochen, volle Lippen und große Augen, wirkte sehr lebendig. Die kurzen Haare, durch haarfeine, wie gekämmt wirkende Rillen dargestellt, ließen die hohe Stirn frei.
Ihre Nacktheit wirkte nicht anstößig; ihr Körper war so perfekt, dass man sie nur bewundernd anstarren konnte.
Sie stand grazil, fast schwebend, hoch aufgereckt, auf den Zehenspitzen, was ihre gut geformten Beine noch länger erscheinen ließ. Die Arme reckte sie zur Decke des Artisteraumes. Ihre Hände waren weit offen, die Finger gespreizt. Es sah aus, als tanze sie, als sei sie mitten in der fließenden Bewegung eines Spitzentanzes erstarrt und zu Stein geworden.
Das Überraschendste an ihr aber war die glatte, leicht silbrig grau schimmernde Oberfläche. Die Struktur ähnelte frappierend der Haut eines jungen Mädchens.
„Ich hoffe, es gefällt dir hier. Sei anständig und benimm dich ordentlich“, sagte August Artiste mit brüchiger Stimme und strich ihr dabei liebevoll, sehr langsam, über die Hüfte.
„Sie sprechen mit ihr, lieber Artiste? Sprechen Sie immer mit Ihren Kunstwerken?“, rief Heinrich-Georg Burger vom Podium herüber, wo er seine Zettel einsammelte.
„Oh! – Entschuldigen Sie; ich hatte Sie ganz vergessen Nein, nein. Nicht mit allen, oh nein. Hab ja bisher nur Tiere unserer Wälder modelliert. Kann ja wohl kaum zu einem Eber sprechen. Ha, ha!“
„Aber nun haben Sie den Sprung gewagt, haben ein menschliches Wesen dargestellt. Ja, ja. Es ist ein Quantensprung.“
„Nun“, seufzte August Artiste. „Es ist mehr als das. Mit dieser … Ich habe ihr eine … – Nun, ich habe ihr meine Seele gegeben, müssen Sie wissen. – Nun ja, sie ist schon etwas Besonderes.“
„Das will ich meinen. Kommen Sie, kommen Sie, mein lieber Artiste, sonst futtert die verfressene Gesellschaft uns alles weg, bevor Sie die leckeren Schnittchen unserer Frau Ermert probieren konnten.“
Er zog August Artiste am Arm aus dem Raum. „Ihre Seele! Köstlich, köstlich! Ha, ha! Feiner Witz, lieber Artiste, sehr feiner Witz. Ja, ja, ihr Künstler seid schon ein besonderes Völkchen. Eine Seele!“
Am folgenden Montag kehrte der Alltag wieder ein. Die Schulklassen kamen wie immer in den Morgenstunden. Jungen und Mädchen strömten lärmend durch die Flure und Ausstellungshallen des Heimatmuseums. Sie bewunderten rostzackige Speerspitzen, mattstumpfe Schwerter, klappernde Rüstungen und machten Witze über die Größe der alten Rittersleute. Die unzähligen Tonscherben, die nach Epochen sortiert waren, wurden berochen und mit von Spucke genässten Fingern auf geheime Botschaften untersucht.
Sie fassten einfach alles an, versteckten sich hinter Rüstungen, schrieen „Angriff“ und fochten Geisterkämpfe mit nicht vorhandenen Gegnern aus.
Die Mädchen kicherten ständig und die Jungen knufften und schubsten sich. Jedenfalls bewiesen sie allesamt nicht den geringsten Respekt vor den in Jahrzehnten angesammelten Kostbarkeiten aus längst vergangener Zeit – und auch nicht vor den Werken der heimischen Künstler.
So und ähnlich verliefen alle Führungen; die Kinder waren schon fußmüde, wenn sie zum Schluss in den Artiste-Raum kamen. Er sollte der Höhepunkt jeder Führung sein, was sich auch in den Themen der unweigerlich folgenden Hausarbeiten niederschlug: „Unsere heimische Tierwelt – am Beispiel der Sammlung Artiste“ oder „Der Hirsch – Beschreibe den Körperbau am Beispiel der Artiste-Plastik.“
Kaum ein Junge, selten eines der Mädchen, zeigte Interesse an den naturgetreu nachgebildeten Tieren, die in beachtlicher Größe als Steinfiguren ausgestellt waren. August Artiste, der manchmal still seine Werke bewunderte, floh, sobald der Lärm einer Klassenführung durch die Flure hallte.
Aber seitdem die Göttin Mittelpunkt der Ausstellung Artiste war, geschah etwas Seltsames: Immer, wenn eine Klasse den großen Raum betrat, in dem die Kunstwerke des August Artiste ausgestellt waren, verebbten Geschrei und Gekicher. Es wurde unnatürlich still. Man konnte sogar unschwer das Schmatzen hören, wenn die Kinder nervös, beinahe hektisch, ihre Kaugummis kauten.
Rundum an den Wänden standen auf Holzsockeln die Tiere des heimischen Waldes. Neben ängstlich sichernden Fuchs und Marder schauten aus gläsernen Augen ein röhrender Hirsch, der den Kopf in den Nacken gelegt hatte, ein Uhu, der nur ein Auge riskierte, ein ängstlich dreinschauendes Reh und ein Wildschwein, das jeden Besucher wütend anstarrte, die Kinder an.
Siebzehn Kunstwerke an der Zahl waren zu bewundern, das Lebenswerk des großen Künstlers, der nie ein Stück verkauft hatte.
„Isch bin für die Kunstbanausen dieser Republik ein viel zu großer Künstler. Schauen Sie sich Rubens und andere an. Die nächste Generation …“, sagte er mit betrübter Miene, wenn die Presse ihn nach seinen Erfolgen befragte.
Fast auf Zehenspitzen schlichen die Kinder nun durch den Raum, sahen schnell – oberflächlich – die tierischen Skulpturen des Künstlers Artiste an, schielten unablässig zur „Göttin der Lebenslust“, die noch immer direkt an der hinteren Wand stand und so den ganzen Raum im Blick hatte.Die Kinder hatten – wie alle Besucher – das Gefühl, dass die Göttin des Artiste sie beobachtete, dass sich ihre Augen zu ihnen hindrehten. Niemand wagte es mehr, Kaugummi auf die Hauer des Ebers zu kleben oder dem Hirsch einen Zettel mit albernen Bemerkungen an das prächtige Geweih zu hängen.
Da konnte man früher stets holprige Dichtkunst erblicken: „Der Hirsch röhrt, die Hirschkuh ist empört.“ Oder auch „Das Huhn verliert ein Ei, der Hirsch nur sein Geweih.“
Gerda Ermert, die bei ihren abendlichen Rundgängen stets sorgfältig alle Zettel abpflückte und vernichtete, war besonders empört über: „Der Hirsch vom Artist, der ist großer Mist.“ Wie gesagt, das war vorbei.
Zum Abschluss der Besichtigung – quasi als Höhepunkt – versammelten sich die Kinder vor der Göttin, von den Lehrern geschoben und in wuselige Reihen gedrängt.
„Dies also, liebe Kinder“, konnte man die Stimme der Lehrkräfte vernehmen, „dies ist das fast lebensechte Abbild einer Frau. Seht es euch bitte genau an. Denkt an euren Biologieunterricht. Alles ansehen – aber bitte nicht berühren.“
„Heribert, du sollst nicht tuscheln. Du wirst mir später erklären, was dir an dieser Frauenfigur besonders aufgefallen ist.“
„Karl, du gehst gleich raus. Man zeigt niemandem die Zunge – auch dann nicht, wenn es sich um eine steinerne Figur handelt. Verstanden, Karl?“
„Hubert! – Hubert! Lass die Mädchen in Ruhe. Das gibt noch ein Nachspiel, Hubert.“
„Heinrich! Ich habe es gehört. Du scheinst mir etwas frühreif zu sein. Und wie deine Schwester gebaut ist, das geht niemanden was an. Verstanden?“
Bei aller Flapsigkeit und allen – oft verlegen geäußerten – Bemerkungen zum Trotz, blickten Jungen wie Mädchen gebannt auf die schlanke Figur, darauf gefasst, dass sie sich gleich ermattet auf die Fersen sinken lassen würde.
Sie wollten raus, spürten etwas, das sie nicht erklären konnten. Sie ließen sich nur noch mit Mühe bändigen, den Lebenslauf des Heimatkünstlers Artiste wollte keiner mehr hören. Die abschließende Bemerkung, dass dies das letzte Kunstwerk des bekannten Künstlers Artiste sei, vernahmen nur noch die wenigsten.
Sie trotteten aus dem Raum, schauten sichernd zurück zu der lebensgroßen Frau.
Aber hin und wieder passierte es, dass ein besonders mutiger Junge zurück blieb, und – wenn er sich unbeobachtet fühlte – schnell die Hand ausstreckte und tastend, forschend die eigentümliche glatte ‚Haut’ der Göttin berührte.
Fast jeder, der es wagte, wurde rot, steckte die Hand hastig in die Hosentasche, als hätte sie ein Brandmal, das ihn verraten könnte.
Später, auf dem Schulhof, bildeten sich Gruppen von Jungen und Mädchen. Sie steckten die Köpfe zusammen, tuschelten, diskutierten und stritten.
„Haste die Brüste gesehen? Ey! Cool was? Ob der die abgeguckt hat?“
„Na klar! Wie willste denn welche machen, wenn de noch nie welche gesehen hast? Haste schon mal?“
„Klaro doch! Mann! Tausende!“
Wortführer aber waren immer die, deren Hand die Haut der Göttin berührt hatte.
„Ey, das ist cool. Ich hab’s getestet. Die ist echt. Könnt ihr glauben.“
„Du spinnst! Wie kann die echt sein, he? Du bist selber nicht echt.“
„Blödmann! Fass sie doch mal an. Traust dich ja bloß nicht. Dann würdeste nicht so´n Scheiß reden. Die hat ’ne richtig warme Haut.“
„Spinner!“
„Selber Spinner! Da ist ’ne Frau drin.“

Zumeist an den Nachmittagen und am frühen Abend kamen die Erwachsenen. Sie machten kaum Lärm, gingen aufmerksam durch die Hallen, nickten zustimmend, wenn sie die Erläuterungen lasen, kratzten sich manchmal nachdenklich am Kinn und vermieden es, die Ausstellungsgegenstände zu berühren.
Im Saal des August Artiste strömten die Erwachsenen zielstrebig zur „Göttin der Lebenslust“, die seit einigen Tagen mitten im Raum stand; die älteren Kunstwerke interessierten sie nicht mehr.
„Die Leute wollen sie doch auch von hinten sehen“, hatte Museumsdirektor Burger festgestellt und sie darum von der Wand abrücken lassen. Nun konnte man bequem um die Göttin herumgehen und sie von allen Seiten betrachten.
„Hinten sieht sie noch echter aus – finde ich wenigstens“, hatte der stellvertretende Bürgermeister, Alfred Hauser, gesagt, als er die Figur am neuen Standort sehr lange gemustert hatte. „Dieses formvollendete Hinterteil. Hach!“
„Als wenn der so was schon mal in Natura gesehen hätte“, empörte sich Gerda Ermert am Abend, als sie dem Direktor die Abrechnung übergab. „Das überdimensionale Hinterteil seiner Hilda kann er ja wohl kaum gemeint haben.“
Die männlichen Besucher waren jedenfalls hellauf begeistert, diskutierten untereinander ihre Eindrücke und dabei besonders die weiblichen Merkmale der Göttin.
„Ist sie nicht schön? Diese Brüste! Diese Hüften! Ach Gottchen. Die wär was für mich.“ – „Und was würde deine Trude dazu sagen, he?“
„Meine Güte! So etwas Schönes hab ich noch nie gesehen.“ – „So? Was hast du denn schon gesehen? Na?“
„Die müsste mir mal im richtigen Leben begegnen.“ – „Dann wärst du sprachlos, stumm wie ein toter Fisch, mein Lieber.“
„Das ist die schönste Frau, die die Welt je gesehen hat.“ – „Ach nee? Die Welt war hier im Dorf? Wann?“
„Na, wenn die echt wäre. Die könnte alle Preise der Welt gewinnen.“ – „Stimmt. Aber lass das bloß nicht deine Olga hören; dann gibt´s Ärger, mein Lieber.“
Waren ihre Frauen dabei, hielten sich die Männer auffallend zurück. Dafür äußerten die Frauen umso mehr ihre Gedanken. Viele betrachteten die Göttin eher kritisch oder mit einer gehörigen Portion Neid – und die Kommentare waren oft nicht gerade wohlwollend oder schmeichelhaft.
„So habe ich früher auch mal ausgesehen. – Kurt! Erinnerst du dich? Kurt! Sieh mich an – und nicht diese, diese … Aber die Jahre … Ach, du hast das längst vergessen, wie ich dich kenne. Pah!“
„Alles nur schmutzige Fantasie. Das gehört hier nicht hin. Guck weg, Walter! So etwas zeigen die auch in den Nachtprogrammen bei diesen berüchtigten Privatsendern.“
„Hoffentlich lassen die unsere Kinder nicht in diesen Schandraum. Nackt! Igitt!“
„Na ja. Da hat der Artiste seine Fantasie ausgelebt, dieser alte Lüstling.“
„Typisch Franzose. Die haben nur Sauereien im Kopf. Bah!“
„Sieht die nicht aus wie die Kleine, die damals bei dem alten Grumpelt in der Bäckerei als Praktikantin gearbeitet hat? Die aus der Stadt? Derselbe unzüchtige Gesichtsausdruck. Wirklich!“
„Ach was! Schau dir bloß das dürre Gerippe an. Da haste nix zum Anfassen, mein Lieber, Herbert. Du sagst immer, du magst meine Kilos. Aber wenn ich deine Augen sehe … Na, ja, Männer!“Heimlich taten es die verheirateten Männer, offen die Junggesellen und zögernd, fast andächtig ein paar Frauen, die der Körper reizte. Wie bei den Schuljungen war Erschrecken, aber mindestens Erstaunen erkennbar, wenn die Hände den Körper der Figur berührten.
„Mensch, die hat ja eine warme Oberfläche. Fühl mal.“
„Wirklich? Na klar! Das machen die Strahler da oben, die an der Decke. Das ist Halogen, weißt du; die machen eine irre Wärme.“
Manche wiederholten diese Berührung, konnten nicht genug bekommen von der warmen, unwahrscheinlichen Oberfläche. Die Göttin zog die Leute an wie ein Magnet, brachte sie dazu, immer wieder zu untersuchen, ob sie sich denn auch wirklich nicht getäuscht hatten.
Einige Männer kauften sich Jahreskarten, wurden zu Stammgästen des Museums. Sie gingen sofort in den Artiste-Raum, betrachteten sehnsüchtig die Figur, streichelten sie, sprachen mit ihr, und – wenn sie sich unbeobachtet fühlten – umarmten sie die wehrlose Göttin sogar.

„Herr Direktor! Es ist nicht zu fassen. Die Besucherzahl hat sich mehr als verdoppelt, seitdem die Göttin hier steht“, verkündete Gerda Ermert, die nicht nur Schnittchen schmieren musste, die Registrierung aller Gegenstände verantwortete, die Plakate malte, die Zeitungsartikel ausschnitt, dem Direktor den Anzug ausbürstete und die Schuhe wienerte, sondern auch die Kasse verwaltete und freiwillig eine unendlich komplizierte Statistik führte.
Sie kannte keine Freizeit, war fast ständig in den Museumshallen zu finden. Sie zählte die Tonscherben, putzte Spuckeflecken ab, entfernte Kaugummis und Schmierzettel.
Wegen des Andrangs hatte das Museum inzwischen auch an allen Sonntagen geöffnet und man ließ an den Werktagen die Besucher bis 20 Uhr ins Haus.
Manchmal standen die Leute in drei Reihen vor der Göttin und sparten nicht mit lobenden, erstaunten – ja sogar schwärmerischen – Ausrufen wie: “Göttlich!“ „Wunderbar! Berauschend!“

Das Unheil nahm seinen Lauf.
Niemand wusste später, wer damit angefangen, wer es in den Lokalanzeiger gebracht hatte: „Der Göttin des Artiste werden magische, heilende Kräfte zugesprochen.“ und später „Angebliche Heilung einer chronisch kranken Frau.“
Tatsächlich schrieb man der Göttin inzwischen eine Vielzahl geheimer Kräfte zu. In der Folge nahm die Zahl der Berührungen unaufhörlich zu; inzwischen taten es die meisten Leute offen und ohne zu erröten.
Das Berühren bringe Glück, man müsse sich nur etwas wünschen, sobald man die Wärme der Göttin fühle, sagten Frauen, die es angeblich erprobt hatten.
Man verglich sogar, während man nach der sonntäglichen Messe vor der Kirche stand, das Wirken der Göttin, wie man sie kurzerhand nannte, mit den noch nie eingetroffenen Prophezeiungen des Pastor Kundelmann.
Man könne sicher sein, man kenne genügend Beispiele, behaupteten einige Frauen, die schon immer was für mystische Dinge übrig hatten. Die Göttin heile kaputte Ehen, mache fruchtbar, steigere die Potenz, bewahre vor Untreue des Partners, schenke Schönheit und was sonst nicht alles.
„Mein Eheleben ist jedenfalls seit drei Wochen lebendig wie schon seit Jahren nicht mehr“, erklärte eine Frau um die siebzig, die vom Lokalrundfunk im Supermarkt befragt wurde.
Eine junge Frau, die hinter ihr an der Kasse stand und anonym bleiben wollte, erzählte aufgeregt, dass ihr Freund nach einer Woche schmerzlicher Trennung reuevoll zu ihr zurückgekommen sei. „Das verdanke ich nur der Göttin. Ich habe sie berührt und mir seine Rückkehr soooo sehnlich gewünscht.“
„Na ja. Hat schon was, diese Göttin. Meine Frau sagt … äh, na ja … äh … sie ist jedenfalls zufrieden mit mir, wenn Sie wissen, was ich meine“ sagte der Mann mit dem Bierkasten unter dem Arm dem Reporter und kratzte sich dabei ausgiebig am Kopf.

Besucher der ersten Tage, die nach einiger Zeit erneut die Göttin besuchten, staunten über Veränderungen, die inzwischen sehr deutlich wurden.
„Der Artiste hat sie poliert“, vermutete ein Stadtrat. „Hab so was schon mal mit meinem Männeken Piss im Garten gemacht. Kann ich nur empfehlen.“
„Nee, nee! Ich glaube, das ist eine besondere Lasur, die der aufgetragen hat“, vermutete der Baudezernent, der ihn begleitete. „Meine Leute benutzen das Zeugs auch immer, wenn sie am Friedhof die Figuren winterfest machen.“
„Wie die Dinger bei der Beate Uhse im Fenster“, keifte Helene Strumpf, die Frau des Küsters, die als beauftragte Spionin – da moralisch ungefährdet – die Göttin betrachtete.
„Ach nee? Was Sie sich so alles ansehen“ staunte Gerda Ermert, die ihr nachgeschlichen war, mit hämischem Grinsen.
„Hört der Artiste überhaupt nicht auf mit seinen Verbesserungen? Wenn der so weiter macht, läuft uns die Göttin eines Tages noch weg“, lachte der Museumsdirektor, der sich über die Verwandlungen der Figur wunderte – und über die immer noch steigende Besucherzahl glücklich war.
„Ihre Haut – äh – ich meine, ihre Oberfläche sieht aus wie meine, als ich noch ganz jung war“, seufzte Gerda Ermert.
Tatsächlich hatte die ‚Haut’ der Göttin inzwischen einen feinen, beigebraunen Ton bekommen und wirkte sogar feinporig. Die Augen, zuvor gleichfarbig grau, wie sie eben bei solchen Skulpturen aussehen, wirkten jetzt lebendig, hatten mehrere Farbtöne, die von weißlich über grau bis schwarz reichten.

Museumsdirektor Heinrich-Georg Burger war ein eifriger Kirchgänger, besuchte an jedem Sonntag das Hochamt von St. Michael und lauschte geduldig den Strafpredigten und Ermahnungen des Hirten und Stammtischbruders Kundelmann.
Pastor Guido Kundelmann, eine Pfälzer Austausch-Leihgabe, der eine gepflegte rötliche Weinnase mitgebracht hatte, war ein strenger Seelsorger der Gemeinde. Jede Verletzung der kirchlichen Gebote wurde in den gepfefferten Sonntagspredigten angeprangert. Lediglich der Weingenuss –„das hat unser lieber Herr auch getan“ – wurde nicht nur geduldet, sondern auch fleißig praktiziert.
Er wurde vom ersten Tag an ein regelmäßiger Besucher des Museums, bewunderte alle Ankäufe, Funde und Neuerungen gebührend, nachdem er sie auf ihre Unschuld abgeprüft hatte.
„Ihr kommt ja auch zu mir in die Messe, meine lieben Kinder; da muss ich eure Tempel doch auch besuchen“, hatte er am Stammtisch im ‚Goldenen Kalb’ verkündet und – nachdem er seinen Schoppen Wein geleert hatte – richtig fröhlich gelacht.
„Der spioniert nur, ob auch alle Frauen auf den Bildern züchtig angezogen sind“, spottete Gerda Ermert, die ihrem alten Pastor nachtrauerte, der jetzt in der südlichen Pfalz den köstlichen Rotwein schlürfte.Jedoch, seitdem die Göttin der Lebenslust im Museum stand, war der Pastor nicht ein einziges Mal mehr im Museum gesichtet worden – und er mied sogar den sonntäglichen Stammtisch.
An und für sich bewegte das Gerda Ermert nicht sonderlich, denn der Herr Pastor zahlte keinen Eintritt; er tat so, als sei das Museum eine Außenstelle seiner Kirche, ging mit fröhlichem Lächeln an der Kasse vorbei und schlug dabei ein großes Kreuz auf seine Brust. Es wäre Gerda Ermert peinlich gewesen, ihren Geistlichen um Eintrittsgeld zu bitten.

Aber das Fernbleiben des frommen Mannes machte ihr trotzdem Sorgen. Schon seit einigen Wochen schwirrte das Gerücht durch die Gemeinde, dass der Herr Pastor ärgerlich – „äußerst ärgerlich“ – sei: „Wegen der abgöttischen Bewunderung der Göttin der Lebenslust“.
Es wurde getuschelt, gemunkelt, ziemlich genau gewusst oder wenigstens vermutet; jedenfalls wurde das heiße Thema sehr kontrovers behandelt.
Die Stimmung kochte hoch, als die ersten Pressemeldungen über das angebliche Wirken der Göttin erschienen. Es entstand eine heftige Bewegung in der Gemeinde; Bewunderer und Gegner der Göttin gruppierten sich, diskutierten in Schulpflegschaften, beim Bäcker, im Frisörsalon und an der Theke. Man munkelte, vermutete, dass es bald zum Krach kommen werde – und das bewegte die eifrige Gerda Ermert dann doch sehr.
„Na klar! Die Göttin ist ja eine direkte Konkurrenz. Ha! Von wegen alleinseligmachend. Ich könnt mich kugeln. Unser Museum hat mehr Zulauf als die Kirche“, sagte beim Bäcker Frau Kunzmann zu Gerda Ermert.
Die nahm die Kunzmann sonst nicht sehr ernst, denn erstens war sie eine „Reingequetschte“, wie sie die nicht aus dem Ort stammenden Leute nannte, und zweitens war sie wohl eine Heidin, wenigstens aber nicht katholisch.
„Lange guckt sich der Pastor das nicht mehr an“, sagte Gerda Ermert deshalb am Samstag zu ihrem Museumsdirektor. „Meine Freundin, die Schwester vom Küster, die hat mir gesagt, der Pastor wäre sehr zornig und bitterböse. Er bete jeden Tag, dass die Göttin gestohlen werde oder einfach verschwinden würde. Und Sie wünsche er zum Teufel – zusammen mit dem Artiste -, hat sie gesagt.“
„Mich? Zum Teufel? Und die Göttin mit mir, was? Der soll in seiner Kirche bleiben. Das hier ist mein Haus! Hier wird ausgestellt, was anständig und gut ist – und nicht das, was den Segen des Pastors Kundelmann gekriegt hat“, antwortete Museumsdirektor Heinrich-Georg Burger. Das klang sehr, sehr heftig – kampfbereit sozusagen.

Das Strafgericht war sozusagen vorprogrammiert, unausbleiblich, direkt vorhersehbar.
Am ersten Sonntag im November war die Kirche so voll wie schon lange nicht mehr. Selbst die vordersten Bänke, die sonst wie die Pest gemieden wurden, waren dicht besetzt. Man hatte es im Gefühl, oder, wie der Küster es den zahlreichen Chormitgliedern zugeflüstert hatte: „Ich hab´s im Urin. Da kommt was. – Denkt an meine Worte.“
Man hatte es von Haus zu Haus weiter erzählt, dass es heute passieren könne; auf den Urin des Küsters sei nun mal Verlass. Da musste man doch wirklich persönlich anwesend sein, musste den unausweichlichen Eklat hautnah erleben.
Als Heinrich-Georg Burger in die Kirche schritt – er hatte sich verspätet, weil seine Krawatte einen Eierfleck aufwies und deshalb gewechselt werden musste -, drehten sich alle Köpfe, wie an einer Schnur gezogen, zu ihm hin.
Eigentlich grüßte er gerne zurück, lächelte dabei abwechselnd nach links und rechts; er war sich seines Wertes sehr wohl bewusst. Aber heute war da etwas, was ihn stutzen und starr geradeaus zum Heiland schauen ließ, der über dem barocken Altar hing. Der blickte schmerzerfüllt, unschuldig ins Kerzenlicht, als ginge ihn das alles nichts an, als könne er kein Wässerchen trüben, geschweige denn die Anbeter der Göttin strafen wollen.
Alle Augen der Gemeinde verfolgten den Hüter und Bewahrer der städtischen Kultur, bis er neben Gerda Ermert Platz nahm. Sie hatte ihm fürsorglich in der ersten Bank einen Platz freigehalten.
„Voll heute, was, liebe Frau Ermert?“, flüsterte er, nachdem er sein Gesangbuch aus der Tasche gezogen hatte.
„Oh, oh! Herr Direktor! Haben Sie´s noch nicht gehört? Er will heute von der Kanzel was zu unserer Göttin sagen.“
„Was?“
„Wirklich! Er will uns heute in den Boden stampfen, sagt die Freundin von mir, die …“
„Hören Sie mit Ihren Gerüchten auf. Das ist alles nur dummer Dorftratsch. Und wenn schon. Warten wir´s einfach ab. Was will der schon machen?“
„Wer weiß? Psst! Er kommt!“
Das Glöcklein an der Sakristeitür klingelte laut, fast drohend, und zehn Messdiener in bodenlangen Gewändern, gefolgt vom dunkelpurpur gekleideten Pastor, schwebten schrittlos zum Altarraum. Über Talar und Rochett trug der Gottesmann den prunkvollen Chormantel, den er sonst nur in der Christmette zeigte.
„Oha!“, flüsterte Gerda Ermert. „Das wird heftig.“
Man spürte die Spannung, die sich über die gottesfürchtigen – und die anderen – Besucher des Gottesdienstes legte. Man merkte der Gemeinde an, dass sie zitternd und bangend auf das Unvermeidliche wartete.
Männer und Frauen saßen steif da, mit starren, angespannten Gesichtern. Aber zunächst verlief der Gottesdienst völlig normal. Man sang mit Inbrunst und genoss den herben Geruch des Weihrauchs. Und die Spannung stieg ins Unerträgliche.
Dann, endlich, kam die Predigt.
Sie wurde ein einziges Strafgericht. Der Donnerhall der priesterlichen Stimme wurde von den historischen Mauern kreuz und quer durch die Reihen geschleudert. Es blitzte zwar nicht, aber ansonsten erschien Gerda Ermert ein Vergleich mit einem Donnerwetter durchaus angebracht. Manch altem Mütterchen, streng im Glauben erzogen, fielen dabei wohl eher die Mauern von Jericho ein, und das ließ sie verzweifelte Stoßgebete murmeln.
Das Unwetter brach zunächst über den abwesenden heidnischen Künstler – „den wir hier nicht namentlich nennen wollen“ –, herein. Pastor Kundelmann riss ihm – natürlich bildlich – die langen weißen Haare vom Haupt, setzte ihm Teufelshörner auf, verpasste ihm einen Pferdefuß und machte ihn zu einem „Beelzebub im Künstlergewand“.
Nach diesem Ausbruch musste Pastor Kundelmann mehrmals tief durchatmen, drei Kreuze schlagen, um danach – mit neuer Kraft – über die „gottlosen Museumsverantwortlichen, die uns, liebe Gemeinde, ja hinreichend bekannt sind“ herzufallen. Diese Heiden marschierten, wenn man den Voraussagen des Pastors glauben wollte, auf direktem Weg in die brennend heiße Hölle.Gerade, als sich alle Gemeindemitglieder erschöpft zurück lehnen wollten, holte Pastor Kundelmann noch einmal tief Luft und zeigte anklagend in die voll besetzten Reihen.
Und dann brach ein noch heftigeres Gewitter los, donnerte es laut und ohne Unterlass. Diesmal traf es die geduckt dasitzenden Gemeindemitglieder, „alle Sünder, Hurenböcke und Hexenwahnsinnige, die diese Götzenfigur besucht, angefasst oder verehrt haben.“
„Das weiß der alles nur von seiner Spionin“, flüsterte Frau Ermert. „Die soll mir noch mal wegen Spenden für St. Martin kommen.“
„Ihr erwartet Wunder von diesem leblosen Stein, meine Kinder? Das ist Götzendienst. Der Teufel lacht sich ins Fäustchen. Wer fürderhin dieses Schandwerk besucht, ansieht, anfasst oder anbetet, der verliert den Segen unserer Kirche. Hütet euch vor den Götzen, die euch mit Schönheit blenden und eure Herzen stehlen. Ich belege dieses Schandhaus mit einem Bann! Meidet den verfluchten Ort!“
„Der spricht von meinem Arbeitsplatz. Oh, mein Gott! Das überlebe ich nicht“, stöhnte Gerda Ermert und überlegte, ob sie nicht in Ohnmacht fallen sollte.
Heinrich-Georg Burger aber, der hauptsächlich Gescholtene, der mit dem Bann der Kirche belegte Museumsdirektor, stand genau nach diesen Worten auf und trat aus der Bank, drehte sich vom Allerheiligsten weg, ohne das fällige Kreuzzeichen zu machen.
Er stürmte durch den Mittelgang, verfolgt von allen Augen, warf das wuchtige Kirchenportal mit lautem Krachen zu und stieß draußen den schlimmsten Fluch aus, den er kannte.
„Gottverdammich! Gottverdammich!“
Hiernach war ihm wohler, und er ging zum ‚Goldenen Kalb’, wo der Frühschoppen noch nicht begonnen hatte, weil alle Männer in der Kirche waren.
„Etwas frühe heute, Herr Direktor. Wie geht’s der Göttin? Hat sie heute schon ein Wunder gewirkt?“, fragte der Wirt Heinrich Kalb, nach dem der Gasthof benannt war.
„Ein Pils“, knurrte der Direktor und ließ sich matt auf seinen Stammplatz sinken.
„Muss unbedingt mal mit meiner Alten kommen. Wegen der Kopfschmerzen, die die immer im falschen Moment kriegt, wenn Sie verstehen, was ich meine“, sagte der Wirt, als er ihm das Bier brachte.
Er gab keine Antwort und versank in trübe Gedanken. Nur sehr dünn drang der Gesang der Gottesdienstbesucher durch die Mauern, verlor sich fast im dunklen Gaststübchen.
„Nun betet an die Macht der Liebe …“ ertönte es und Herr Burger summte den Text mit, während er gedankenverloren das Pilsglas auf dem Deckel drehte.
Die Auswirkungen der Predigt waren schon am Montag spürbar. Keine Schulklasse besuchte das Museum. Am Nachmittag tröpfelten ein paar Besucher herein, die von auswärts kamen und die Predigt nicht gehört hatten.
Am Dienstag kam kein einziger Besucher, und bis zum Wochenende waren es gerade mal zwanzig Leutchen, denen Frau Ermert Karten verkaufen konnte. Direktor Heinrich-Georg Burger begrüßte nun jeden Besucher mit Handschlag und führte auf Wunsch sogar durch die endlos stillen Räume.
„Was ist nur mit meiner Stadt los? Wenn das so weitergeht, können wir zumachen“, seufzte er und besah sich die Statistikblätter seiner Frau Ermert.
„Wir müssen was tun, Herr Direktor. Geben Sie diese unselige Göttin dem Artiste zurück. So schön ist die ja nun auch wieder nicht. Der Artiste kann sie ja bei sich im Atelier ausstellen.“
„Kommt nicht in Frage. Nicht, solange ich hier Verantwortung trage“, schnaubte der unglückliche Direktor und fegte die Statistiken wütend vom Schreibtisch. „Ich lass mich nicht von diesem, diesem … diesem Stümper und Bilderstürmer Kundelmann in die Knie zwingen. Ich nicht, Frau Ermert! Nicht in meiner Stadt!“
Die Räume, angefüllt mit akkurat beschrifteten Fundstücken aus den Fluren der Gemeinde, mit schönen Landschaftsbildern, mit Skulpturen aus Holz, Stein, Marmor und Metall, lagen unbeachtet und verlassen da.
Heinrich-Georg Burger schlich durch sein stilles Museum, rückte hier einen Bilderrahmen gerade, wischte dort über eine Ritterrüstung, seufzte viel und dachte an seine Finanzen. „Unser armes Museum. Was wird nur aus der Kultur meiner Stadt?“
Im Raum des “Bildenden Künstlers August Artiste“ blieb er vor der Göttin stehen und streichelte nachdenklich ihre Brüste.
„Du bleibst hier“, flüsterte er und sah sich erschrocken um; aber da war niemand. Es war totenstill im Museum.
Dann fiel dem Direktor etwas auf, und er betrachtete zunächst seine Hand, dann die gerade gestreichelte Göttin. Sie hatte tatsächlich wieder ihre alte, silbrig graue Farbe, die Oberfläche war fast so wie am ersten Tag; sie glänzte nur noch leicht.
Aber das war es nicht alleine. Ihre Wärme war weg; sie war kalt. Direktor Burger schielte zur Decke, aber die Halogenlampen warfen wie immer ihr Licht auf die Figur.
„Das gibt´s doch nicht! War der Artiste wieder heimlich hier und hat experimentiert? Verdammt! Ich muss dem das verbieten. Geschenkt ist geschenkt. Da soll der bloß die Finger von lassen“, dachte er und nahm sich vor, den Artiste gleich nachher anzurufen.

„Haben Sie schon gesehen, Herr Direktor, was der Artiste mit der Göttin gemacht hat?“
„Ja – nein. Frau Ermert! Reden sie doch nicht immer in Rätseln. Was ist denn nun schon wieder?“
„Also, ich weiß nicht. Vorher gefiel sie mir besser. So durchsichtig, so als wäre sie aus Glas gemacht; sie wirkt irgendwie billig, fast wie diese Dinger in den Kaufhäusern, wenn Sie wissen, was ich meine. So etwas haben wir sonst nicht in unserem Museum geduldet, Herr Direktor.“
„Was erzählen sie da? Glas? Durchsichtig?“
„Oder Plastik?“
„Reden Sie kein dummes Zug, Frau Ermert. Plastik! Das muss ich mir erst mal ansehen. Kommen Sie mit, Frau Ermert.“
Fassungslos standen die bewährten Museumskräfte vor der Göttin und betrachteten ihren Körper. Natürlich hatte Gerda Ermert übertrieben, wie immer, wenn sie etwas empörte.
Aber die Göttin hatte sich tatsächlich verändert. Sie sah zwar nicht so aus, als wäre sie aus Glas, das nicht. Nein, sie wirkte eher wie eine Schaufensterfigur, bei der man gerade die Kleider wechselt. Nur blasser war sie. Ihr Körper wirkte eigentümlich stumpf und keineswegs glatt. Kurz: Der ganze Zauber ihrer Erscheinung war weg.
„Ich fasse es nicht! War der schon wieder hier? Dieser elende Artiste.“
„Ich habe ihn nicht gesehen, Herr Direktor. Er muss sich herein geschlichen haben. Vielleicht, als ich auf der Toilette war?“
„Dem werde ich was erzählen. Hat das Ding einfach ausgetauscht. Aber … Frau Ermert! Wie hat er das gemacht? Ich meine transportiert?“
„Herr Dir…“
„Ach egal. Sie haben wieder mal nicht aufgepasst. Haben sicher Tonscherben gezählt, was? Ha, ha!“
„Aber Herr Dir…“„Egal! Er hat es getan. Typisch Künstler. Meinen immer, sie wären was Besseres. Dieses billige Ding kann er gleich abholen. Das lass ich mir nicht bieten. Rufen Sie ihn an und richten Sie ihm aus, er könne mich mal. Er soll das Ding abholen – sofort!“

„Erstens hätte er nicht dran rumgepfuscht und auch nichts ausgetauscht, zweitens könnten Sie ihn auch mal, und drittens sei geschenkt nun einmal geschenkt – sagte er, Herr Direktor.“
„Also! Das ist dann doch … Frau Ermert, rufen sie die Spedition an. Die sollen das Ding hier rauskarren und meinetwegen … Ach, wissen Sie was, Frau Ermert? Die sollen die Figur hinter dem Museum in den Park stellen. – Am besten am Teich, neben der Bank. Wissen Sie, wo ich meine? Da kommen fast nie Besucher hin – jetzt im Herbst schon mal gar nicht. Haben Sie mich verstanden?“
Gerda Ermert hatte verstanden, wusste genau, wo die Göttin hin sollte, warf ihr einen abfälligen Blick zu, machte „Pah!“ und rauschte davon.
Noch am gleichen Tag kamen drei schwergewichtige Männer von der Spedition Hin & Weg, wuchteten die schwere Figur samt Sockel auf einen Hubwagen und karrten sie in den Park. Dicht neben der alten Parkbank setzten sie die ehemalige Göttin ab, mit dem Gesicht weg vom Museum, hin zum Teich, auf dem zwei Enten gleichgültig zur neuen Mitbewohnerin des Parks blickten.

Es wurde Herbst, und die kahlen Bäume, der feuchte Rasen, die kalten, böigen Winde ließen selten Spaziergänger in den Park kommen. Aber ins warme Museum, da kamen sie nun wieder.
Schon am Sonntag nach der Entfernung der Göttin hatte Pastor Kundelmann den Bann aufgehoben. Seine ‚Spionin’ hatte es ihm brühwarm berichtet.
„Es ist weg, das Götzending, Herr Pastor. Wir haben gesiegt.“
„Seht, liebe Kinder, der Herr hat gewirkt. Fort ist sie und wir sollten unser Museum nicht länger meiden“, verkündete Pastor Kundelmann und er trug schon wieder den festlichen Chormantel. Und nach dem Gottesdienst eilte er zum Stammtisch, wo er mit ‚Hallo’ begrüßt wurde. Man war fast vollständig, nur Direktor Burger fehlte ohne Entschuldigung.
Die Leute im Ort atmeten erleichtert auf; sie konnten wieder in ihr geliebtes Heimat- und Kunstmuseum gehen, ohne dass der Fluch der Kirche sie traf.
Es waren zwar deutlich weniger Besucher als zu den Zeiten der Göttin, aber immerhin, es tröpfelte nicht mehr und persönliche Führungen konnten deshalb auch nicht mehr angeboten werden.
Die Schulklassen kamen wieder, lärmten und randalierten wie eh und je und klebten ihre Kaugummis und Spottzettel an alle möglichen Gegenstände. Nur der Bildende Künstler August Artiste betrat das Museum nicht mehr; er grollte.
Die Göttin stand einsam neben der Bank und betrachtete den von Entengrütze grün gefärbten Teich. Der scharfe Wind blies ihr ins Gesicht, strich über ihre Figur. Das aber war die einzige Berührung, die die Göttin in den nächsten Wochen erlebte.

„Saukalt, was? Frierst du nicht – so ganz nackig – meine Schöne?“, sagte der Mann, der auf der Parkbank hockte und die Göttin neugierig betrachtete. Er lachte über seinen Scherz.
Es war das erste Mal seit Wochen, dass ein Mensch die Göttin ansprach; es war überhaupt die erste menschliche Stimme, die seit dem Rauswurf in ihrer Nähe erklang.
„Sprichst nicht mit jedem, was?“, murmelte der Mann.
Er war warm angezogen, trug einen Wintermantel, Wollschal, Hut und gestrickte Handschuhe. Er war noch jung, wenngleich sein Gesicht schon ein paar kleine Falten an den Augen hatte, die allerdings vom Lachen stammten, denn er lachte oft und gerne.
„Bist noch nicht lange hier, meine Schöne? Als ich vor zwei Jahren zum Urlaub in die Ulmer Höh musste, gab es dich noch nicht, stimmt´s?“, fragte er mit Augenzwinkern.
„Ach so! Du weißt nicht, was das für ein Urlaubsziel ist, diese Ulmer Höh in Düsseldorf? Na klar, wie solltest du auch. Da musst du hin, wenn du zum Beispiel den Finanzminister um ein paar Euro betrogen hast. Das ist nämlich schlimmer, als wenn du – sagen wir mal – einen Menschen zum Krüppel geschlagen hast“, sagte er, seufzte und starrte auf das Wasser, das von den zwei winterschmuddeligen Enten gepflügt wurde.
„Beim nächsten Besuch erzähl ich dir, wie man da seinen Urlaub verlebt. Na dann! Bis morgen, meine Schöne. Wenn`s keine Kuhfladen regnet, komme ich jeden Tag vorbei. Mal sehen, ob du hier auf mich wartest“, rief er, lachte und strich ihr im Vorbeigehen leicht über die Hüfte.

Er kam tatsächlich am nächsten Tag, obschon es leicht nieselte. Er trug einen überdimensionalen, mit knallig bunten Blumen verzierten Schirm, den er der Göttin kurz übers Haupt hielt.
„Ich würde dir ja auch einen Schirm verpassen, damit du nicht im Regen stehen musst. – Aber wie würde das aussehen?“
Er lachte, zog eine Plastiktüte aus der Tasche, legte sie auf die nasse Parkbank und setzte sich, den Schirm so über dem Kopf haltend, dass er der Göttin ins Gesicht sehen konnte.
„Weißt du, früher – also vor der Sache mit der Ulmer Höh -, da war ich ein gern gesehener Gast in allen Hotels der Republik, bei allen Banken im ganzen Umkreis. Ich hatte eine irre sexy Freundin und viele Freunde – zu viele.“
Er seufzte und warf einen kleinen Kieselstein ins Wasser, beobachtete die Wellen, seufzte wieder und blickte die Göttin erneut an.
„Dann haben sie meinen winzigen Steuerbetrug entdeckt und mich in die U-Haft gesteckt. Da waren sie alle weg – meine Freunde. Ha! Freunde! Na ja, das war schon ein Unterschied zu meiner schönen Wohnung. Da war nichts mit Hotelbetrieb oder so. Als Finanzbetrüger bist du für die so ziemlich das Schlimmste überhaupt. Weißt du, wie die mich zum Beispiel vor die Richterin geschleppt haben? In der Zelle bekam ich eine schwere, starre Handfessel verpasst. Wie ein Schwerverbrecher wurde ich in den Gerichtssaal geführt. Dabei habe ich noch nie einem Menschen was angetan.“
Er sah schräg hoch zur Göttin, die mit unergründlichem Blick auf das Kielwasser der träge paddelnden Enten blickte. Irgendwie kam sie ihm verändert vor. Es hatte aufgehört zu regnen, und er stand auf, wischte ihr mit einem Tempotuch über das regennasse Gesicht.
„Wusste gar nicht, dass du so ausdrucksvolle Augen hast, meine Schöne. Ach, übrigens: Ich muss mich entschuldigen. Das macht wohl der Knast; ich habe die einfachsten Benimmregeln vergessen. Gestatten: Peter Bach. Immobilienmakler, zurzeit von seinen Ersparnissen lebend. Unvermählt, nicht verliebt und nicht verlobt – kurz – ich bin noch zu haben“, rief er und lachte erst, nachdem er sich sichernd umgeblickt hatte. „Ach, und meine Freundin hat mich übrigens auch sofort nach dem Urteil verlassen; sie könne unmöglich mit einem Verbrecher zusammenleben – hat sie wörtlich gesagt. Wie findest du das?“Er kam fast jeden Tag, egal was für ein Wetter war. Er saß dann ein halbes Stündchen auf der Bank, warf kleine Steinchen ins Wasser, fütterte die faul paddelnden Enten mit altem Brot und sprach unaufhörlich mit der ‚Schönen’, wie er sie liebevoll nannte. Erst nach mehr als zwei Wochen entdeckte er das verschmutzte Schildchen am Sockel.
„Göttin? He! Das ist ja was ganz Neues. ‚Göttin der Lebenslust’. Und dann stellt man dich hier in den kalten Park? Da vergeht einem doch glatt alle Lust. Findest du nicht auch?“
Er drehte sich weg, kämmte sich sorgfältig, lächelte und schaute die Göttin an.
„Nun sei nicht so stur. Antworte mir bitte – nur ein einziges Mal, ja?“ sagte er und blinzelte die Göttin an.
Aber sie blieb stumm und blickte gelangweilt auf den Teich. Und doch hatte er das Gefühl, dass sie ihn mochte.
Er gab nicht auf: Immer wieder sprach er sie an, forderte sie auf, ihm zu antworten. Wenn er sie verließ, sagte er nun stets „Bis Morgen, meine schöne Göttin“, lächelte sie an und strich ihr über die glatte Hüfte.

An einem kalten Tag im Januar kam er schon am frühen Morgen. Er setzte sich nicht, sondern stellte sich breitbeinig vor der Göttin auf den Parkweg.
„Da hat dir doch so ein elender Vogel einen ordentlichen Schiss aufs schöne Haupt gelegt. Na warte, das haben wir gleich“, rief er und tauchte sein Taschentuch in das Teichwasser.
„Wie weich sie sind. Wie meine eigenen Haare. Tolles Material.“
Er strich noch einmal über ihren Kopf und sah das Ergebnis seiner Säuberung prüfend an. Er wischte ihr nicht nur den Schmutz vom Kopf, sondern rieb auch gleich das Gesicht sauber, fuhr mit dem feuchten Tuch flüchtig über den ganzen Körper; dann stutzte er.
„Na sag mal! Wenn ich mich recht erinnere, warst du früher aus Glas oder Plastik oder so was. Aber das hier ist … Ist das etwa Marmor? Oder Basalt? Wunderschön siehst du jedenfalls aus. Was sage ich da. Du bist einmalig, zauberhaft, berauschend schön; man möchte dich ständig berühren, sogar streicheln. Nimm’s mir nicht übel, meine schöne Göttin, aber du siehst einfach menschlich aus.“

Von nun an sprach er mit ihr, als wäre sie eine menschliche Freundin. Er erzählte ihr von seinen kleinen und großen Sorgen, seinen Verlusten, seiner Einsamkeit und seinen Sehnsüchten. Er vergaß aber auch nie, sie nach ihrem Befinden zu fragen. Seine ernste Stimme war ohne Ironie und Spott. Hin und wieder saßen fremde Menschen auf der Bank. Dann ging er so lange spazieren, bis er mit der Göttin allein war.

Im Februar, als die ersten blassen Sonnenstrahlen über die Dachkante des Museums stiegen und ohne zu wärmen in den Park fielen, als in den immer noch kahlen Bäumen die ersten Vogelstimmen vom baldigen Frühling schwärmten, entdeckte Peter Bach etwas sehr Ungewöhnliches.
„Sag mal! Hat dich einer bemalt? Ist das ein Witterungsschutz? Egal, du siehst jetzt jedenfalls noch menschlicher aus – was nicht unbedingt ein Qualitätsmerkmal ist. Aber bei dir … Meine Güte!.“
Er strich ihr zärtlich über den flachen Bauch, berührte unabsichtlich ihre kleinen Brüste, und wurde rot.
„Entschuldige. Das war keine Absicht – glaub mir. Aber … sag mal, so stark ist die Sonne doch gar nicht. Wieso hast du eine so herrlich warme Haut?“
Er runzelte die Stirn, sah der Göttin lange in die Augen, schüttelte den Kopf und ging, diesmal allerdings, ohne sich zu verabschieden.
„Frau Ermert! Jetzt reicht´s! Rufen sie diesen Artiste an und bestellen sie ihm, dass ich ihn sofort sehen will. Und zwar unten am Teich. – Ja, verdammt! Da, wo die … Also, an der Parkbank, will ich ihn sprechen. Sofort!“
„Jawohl, Herr Direktor“, flüsterte Gerda Ermert erschrocken und sauste in ihr Büro. So aufgelöst und zornig hatte sie ihren Direktor Burger noch nie gesehen.
Der wartete im Park ungeduldig, rannte um den Teich, stierte immer wieder zur Parkbank, stampfte mit dem rechten Fuß auf und ballte seine Fäuste. Als endlich die kleine Gestalt des Bildenden Künstlers Artiste am Parkeingang auftauchte, stapfte er ihm zornig entgegen.
„Na endlich! Wo bleiben Sie denn?“
„Tag, Herr Burger. Was gibt´s denn so Aufregendes? Ihre treue Seele war ja ganz aufgelöst.“
„Hören Sie auf. Kommen Sie. Kommen Sie“, rief Direktor Burger wütend und zog den nur leicht widerstrebenden Künstler mit sich. Vor der Parkbank blieb er stehen, ließ den Ärmel des Artiste los und zeigte mit ausgestrecktem Zeigerfinger auf den Sockel der Göttin.
„Da! – Wo ist sie?“
„Donnerwetter! Na so was!“
„Also, Artiste: Wo ist die Göttin?”
„Sie ist weg. – Ha! Seit wann ist sie verschwunden?“
„Sie ist weg! Sie ist weg!“, äffte der Direktor den Künstler nach. „Was weiß denn ich, seit wann. Fragen Sie nicht so dämlich. Wer, außer Ihnen, soll sie gestohlen haben? Etwa der Pastor? Der würde sie nicht mal anfassen. Und stehlen tut der Oberhirte bestimmt nicht.“
„Keine Ahnung. Ich habe sie jedenfalls nicht. Zu mir würde sie nie kommen. Auf der anderen Seite …“
„Was? Was wissen Sie? Was heißt das: ‚Zu mir würde sie nie kommen’? Wer hat sie, wenn Sie sie nicht haben?“
„Ich weiß nicht, wer sie hat. Aber – mit ihrem Verschwinden habe ich schon gerechnet. – Nur jetzt noch nicht. Das ist verdammt schnell gegangen, lieber Burger.“
„Sie haben was?“
„Mit ihrem Verschwinden gerechnet.“
„Also! – Sie meinen, dass jemand sie stiehlt, ja? Glauben Sie tatsächlich, dass Pastor Kundelmann sie hat?“
„Oh nein. Wer weiß, für wen sie sich entschieden hat, aber für den alten Knochen, diesen Teufelsaustreiber, bestimmt nicht“, rief Artiste und schlug sich lachend auf die Schenkel.
„Sie sich entschieden …? Zum Kuckuck! Was …“
„Das, was ich gesagt habe. Denken Sie an meine Worte bei der Vorstellung.“
Der Museumsdirektor blickte ihn fassungslos an. Er hatte fast nichts verstanden; das Gebrabbel des alten Künstlers erschien ihm unverständlich und wirr.
„Die Macht der Liebe!“, rief August Artiste und lachte, lachte ohne aufzuhören. „Die wunderbare, ungeheuerliche, die herrliche, Stein und Fels bewegende Macht der Liebe.“
„Was … Verdammt! Was reden Sie da für einen? Was heißt ‚Die Macht der Liebe’? Wer liebt wen? Was heißt, für wen sie sich entschieden hat? Wer soll sich entschieden haben, Artiste? Klären Sie mich auf.“
„Die Göttin, mein Lieber! Die Göttin!“, rief August Artiste. „Sie hat gewählt, ach was sage ich: Erwählt hat sie!“Er lachte immer noch, hörte erst auf, als ein Hustenanfall seinen schmächtigen Körper schüttelte, wischte sich die Tränen aus den Augen und ging kopfschüttelnd am Teich entlang zur Straße.
Direktor Burger sah ihm nach, bis er hinter der Museumsecke verschwunden war.
„Idiot!“, murmelte er. „Die Macht der Liebe! Ha! Die Ohnmacht des Alters.“
Langsam und ächzend ließ er sich auf die Parkbank fallen, drehte den Kopf zur Seite und betrachtete den Sockel, der nun leer und sinnlos neben der Parkbank stand.
„Unfassbar!“, stöhnte er.
„Ich muss zur Polizei. Diebe! Räuber! Dieses einmalige Kunstwerk“, seufzte er und formulierte im Geist bereits den Text einer Anzeige.