ER blickte herunter auf den Rücken von Till, betrachtete seinen
Kopf, die langen Haare, die sich auf dem Tisch auffächerten. ER wusste
– lächelte still und verstand alles.
Till lag mit dem Oberkörper auf einem Tisch, der ähnliche Ausmaße
hatte, wie die bedeutungsschweren Platten, auf denen Generalstäbe ihre
Landkarten und Messblätter ausbreiten. Ein überdimensionales Buch
bedeckte den ganzen Tisch.
Tills Nase berührte beinahe das Papier. Er blickte starr auf diese eine
Seite, blätterte nicht um, ließ seine Blicke immer wieder über die
Eintragungen wandern; sein ausgestreckter Zeigefinger fuhr über das
Papier, verharrte, glitt weiter, stockte erneut und blieb dann lange an
einer Stelle haften.
Eine kräftige, tiefblaue Linie begann am linken Rand des Blattes,
verlief zunächst völlig gerade, schwang sich später leicht auf und ab,
bildete Hügel und Täler, fand aber doch immer wieder die Gerade.
Zahlreiche dünne, farbige Linien begleiteten, tangierten, bedeckten und
kreuzten die zentrale Markierung.
Diese Linien tauchten plötzlich auf, endeten oft schon nach kurzer
Strecke. Sie liefen von allen Seiten auf die Hauptlinie zu, trugen
eigene Seitennummern als Identifikation. Ein filigranes Wirrwarr,
rätselhaft und geheimnisvoll, füllte fast das ganze Blatt, dessen
Überschrift: „Lebenslinie Till Burger“ lautete.
An
einigen Stellen waren Daten und Bemerkungen eingetragen: „Geburt 3. Mai
1965, 16.01 Uhr“ am Startpunkt der Linie, danach „Taufe auf Till am 10.
Mai 1965“ und ein ziemliches Stück weiter, neben einer Stelle, die
leicht anstieg: „Beginn Studium 1984“.
Am Ende wurde die Linie pechschwarz, dann war sie weg, einfach
verschwunden. An diesem Punkt traf sie sich mit einer anderen, einer
blauen Linie. „Unfalltod, 12. Mai 2000, 10.32 Uhr“ stand an der
Schnittstelle beider Linien.
Hier blieb sein Finger hängen, als wäre er festgewachsen, bedeckte den Schlusspunkt dieser abwechslungsreichen Lebenslinie.
„Wir sind IHM und seiner Willkür hoffnungslos ausgeliefert“, murmelte er sehr leise.
ER hatte es dennoch gehört und schüttelte den Kopf. „Ich bin immer verantwortlich, wenn es unangenehm wird.“
„Unangenehm? Es war mein Leben, das da ausgelöscht wurde. Meins! Und
das ist mir mehr als unangenehm”, stieß Till erregt hervor und sah IHN
„Dein Leben ist so wertvoll wie jedes andere – aber auch nicht mehr.
Mach nicht so ein Aufheben darum. Willst du wissen, wie viele
Lebenslinien in derselben Sekunde wie deines abgeschlossen wurden?“
Fast hätte ER die Stimme nicht gehört, die zum Papier hin sprach.
„Nein! Mich interessiert nur meine eigene – und die sieht ziemlich
beendet aus. Du hast ‚Schnipp’ gemacht und mein Leben ausgelöscht –
einfach so.“
„Nicht ich! Nicht einfach so. Dein Unfallgegner und du; ihr habt es
getan. Erinnere dich! Du hattest es eilig, warst auf dem Weg zu einem
Termin. Landstraße und 120 Stundenkilometer. Viel, viel zu schnell.“
„Der andere hat es vollendet“, fügte ER nach einem stillen Augenblick
hinzu und zeigte auf die dünne blaue Linie, die aus dem Nichts
auftauchte und am schwarzen Ende die Lebenslinie von Till traf. „Er hat
geträumt, war ebenfalls zu schnell, wechselte auf deine Spur. Ihr beide
wart es also, die ‚Schnipp’ gemacht habt – kein anderer. Es war Zufall!“
„Oh! So geht es aber nicht. Den Zufall entscheiden lassen, heißt, Chaos
zulassen. Gerade ein Menschenleben muss geplant werden. Du hast von
Planung, von geordnetem Abwickeln offensichtlich keine Ahnung.“
„Aber du hast sie?“, fragte ER, lächelte weise und mild.
„Oh ja, ich habe sie“, sagte Till mit einem überheblichen Lächeln und
seine Mundwinkel zuckten. „Ich hab’s schließlich gelernt. Viel Jahre
lang habe ich nichts anderes getan. Ich war der Beste. Meine Projekte
hatten einen Ruf. Was sage ich! Es waren einfach Superprojekte, und
niemand zweifelte jemals daran, dass sie gelingen. Ich hab sie alle zum
Ziel geführt.“
„Du bist nicht zufrieden mit meiner Arbeit?“
„Nein, verdammt! Ich meine, da muss man doch einfach unzufrieden sein.
Wenn ich nur ein einziges Projekt so aufgesetzt hätte, wie du es
milliardenfach tust – man hätte mich gefeuert.“
„Was würdest du an meiner Stelle tun?“
„Ich?“ Till richtete sich erschrocken auf, drehte sich zu IHM um und blickte seinem Gegenüber in das freundliche Gesicht.
„Ich? – Ich würde eine Planung machen, die sich gewaschen hat – für
jeden Menschen einen eigenen Plan. Ich würde … ich gäbe ihnen ein
erfülltes Leben, ein gutes – ein spätes – Ende. Nicht so ein zufälliges
Ausknipsen – als wär das alles nichts.“
„Ein großes Ziel! Du könntest dich übernehmen. Aber – nun ja. Möchtest
du es einmal versuchen? Willst du deine Kenntnis, deine Erfahrung
benutzen, um an einem, aber wirklich nur an einem Menschen diese – wie
nennst du es noch – diese Projektplanung anzuwenden?“
Till schaute so ungläubig, dass sich das Lächeln seines Gegenübers in lautes Lachen verwandelte.
„Willst du mich verspotten?“, fragte Till und schaute IHN ärgerlich an.
„Nein. Ich spotte nie. Ich meine es ernst. Versuch es – aber sei
vorsichtig. Es ist ein Mensch, den du in deinem Projekt behandeln
wirst; Menschen sind sehr empfindsam – fast überempfindlich, wenn sie
merken, dass sie verplant werden. Sie haben ihren eigenen Kopf.“
Till richtete sich hoch auf. Das war eine Aufgabe nach seinem Geschmack; sie reizte ihn maßlos. Was konnte er schon verlieren?
„Gut! Ein Versuch kann nicht schaden. Ich werde dir etwas beweisen.“
„Also machst du es? Ich gebe dir freie Hand.“
Er saß nun schon seit Tagen vor den neuen Seiten des Buches. Zunächst
hatte er einen gewaltigen Strich quer aufgetragen, über das ganze
Papier. Völlig gerade, wie mit dem Lineal gezogen, begann diese Linie
ganz links am Blattrand und endete äußerst rechts, am gegenüber
liegenden Ende.
Sie startete in kräftigem Gelb, wurde rosa, hellrot, rot, violett, blau
und endete schließlich mit glänzendem Schwarz. Kleine Kästchen
markierten jeden Farbwechsel. Fein, wie ziseliert, waren Worte darunter
aufgetragen: „Geburt“, „Kindheit“, „Jugend“, „Erwachsen“, „Alter“,
„Gebrechen“, „Tod“.Eine zweite, gestrichelte, Linie lag eng daneben,
beschriftet mit „Kritische Phasen“ und wurde unterteilt durch kleine
Dreiecke. Darunter standen Anmerkungen wie: „Die ersten drei Jahre“,
„Pubertät“, „Midlifekrise“, „Wechseljahre“, „Hohes Alter“.
Ergänzt hatte er dieses Bild um so genannte Beziehungslinien. Einige
Beziehungslinien starteten gleichzeitig mit der Lebenslinie. Eine für
den Vater, eine andere für die Mutter; beide begannen mit dem Punkt
„Geburt“. Sie liefen, die Lebenslinie fast berührend, völlig
gleichmäßig neben ihr, ohne sie je zu verlassen.
Eine Fülle weiterer Striche begann später. Manche waren nur kurz,
andere dagegen sehr lang; sie querten, berührten die Lebenslinie oder
begleiteten sie mit leichtem Abstand eine Weile.
„Kindergärtnerin“, „Lehrer, „Arzt“, „Freund“, „Kollege“, „Ehefrau“,
„Kind“, war da zu lesen. Sie begannen meistens an sogenannten
Meilensteinen. Die hießen Kindergarten, Schule, Beruf, Hochzeit, Geburt
des Kindes, und so weiter.
Alles war akribisch, sauber, fein und maßstabsgerecht gezeichnet.
Till arbeitete bis zum späten Abend, dann legte er den Stift
entschlossen aus der Hand. Sein Rücken schmerzte und er richtete sich
mühsam auf.
Er war bereit, es konnte beginnen. Sein Gesicht war rot gefärbt, zeigte
weißliche Flecken unter den Augen. So war es immer gewesen, wenn er vor
einem neuen Projekt gestanden hatte. Er fieberte vor Aufregung und
Anspannung; dieses Lampenfieber hatte er nie verloren.
„Ich bin soweit. Wen nehmen wir für mein Projekt?“, fragte Till IHN, der urplötzlich neben ihm stand.
ER konnte sein Lächeln nur mühsam unterdrücken, als er „mein Projekt“ hörte und in das vom Eifer rot angelaufene Gesicht sah.
„Ich sehe, du hast einen umfangreichen Plan gemacht. Hast du alles
bedacht? Es ist eine fremde Materie, ein ganz anderer Stoff, als du ihn
gewöhnt bist.“
„Ich habe meine gesamte Erfahrung eingebracht, mein ganzes Wissen und
meine umfangreiche Kenntnisse benutzt; ich habe an alles gedacht, was
menschenmöglich ist.“
„Was menschenmöglich ist? Ob das ausreicht? Eine Lebenslinie ist mehr
als ein Projektverlauf. Sie hat zwar auch einen Anfang und ein Ende,
aber sie entwickelt sich ganz anders, erlebt Einflüsse durch Wachsen,
Reifen, Gedeihen, Verzehren, Vergehen. Eine Lebenslinie führt von einer
bereits gelebten Station zu einer, die sich vor ihr befindet – völlig
im Dunkeln liegt.“
„So ist es in all meinen Projekten gewesen; nichts unterscheidet sie voneinander.“
ER sah Till nachsichtig an, trug weiter sein väterliches Lächeln. SEIN Blick glitt zu der übersichtlichen, sauber gemalten Zeichnung mit dem Titel „Lebenslinie“.
„Aber bitte denk daran: Es ist die Linie eines menschlichen Lebens.
Dieser Mensch wandelt vor der Linie, nicht auf ihr, nicht auf einer
vorgefertigten Strecke. Er verlässt ständig einen bekannten Ort,
vielleicht voller Wärme und Behaglichkeit, und geht zum nächsten Punkt
– voller Unsicherheiten und Unwägbarkeiten. So ist das Leben, mein
Lieber.“
„Ich kenn das aus meinen Projekten. Das alles ist nicht neu.“
„Nein, nein! Irrst du nicht? Dies hier ist anders. Dieser Mensch nimmt
Erfahrungen und Eindrücke mit. Auch die, meist nicht bewusst gestellte,
Frage nach dem Sinn seines Tun trägt er mit sich. Und manchmal fragt er
sich: Was mache ich falsch? Was muss ich ändern? Was tue ich selbst für
den Sinn meines Lebens? Und dann ändert er vielleicht seinen Kurs. Dann
ist deine Soll-Lebenslinie plötzlich weit weg von der gelebten Linie.“
„Aber das ist es ja! Genau das darf nicht passieren! Dass du das
überhaupt zulässt. Das ist doch das ganze Übel. Man muss sich an Pläne
halten. Ich führe den Menschen mit diesem Plan zum vollständigen Glück,
zu einer guten Ausbildung, einer harmonischen Familie, zu gutem
Einkommen in einem Beruf mit Zukunft – letztendlich also zu einem
erfüllten Leben.“
„Das hört sich gut an. Du hast wirklich nichts vergessen?“
„Nichts, nichts habe ich vergessen. Lass uns endlich beginnen.“
„Nun, wir werden sehen. Ich lasse die wirkliche Lebenslinie – die
Ist-Linie –, in kräftigem Blau, neben deiner schönen Soll-Linie
verlaufen; da siehst du gleich alle Abweichungen.“
„Wunderbar! So ähnlich haben wir´s auch immer gemacht; also beginnen wir.“
ER tippte auf die fein gemalte Soll-Lebenslinie, sein Finger ruhte einige Sekunden auf dem Anfangspunkt.
„Hier ist es, das Leben. Es beginnt gleich. Wenn du meinen Rat brauchst – du weißt, wo ich bin.“
„Das wird nicht nötig sein“, murmelte Till und starrte auf das große Blatt.
Er runzelte die Stirn, beugte sich über das Buch und las: „Holger Bachmann.“
„He!“, rief er erstaunt. „Du kennst seinen Vornamen, obschon er noch nicht begonnen hat?“
„Aber ja! Du zweifelst doch nicht daran?“
„Nein, nein! Es ist nur so – nun, einfach ungewöhnlich. Und wenn sie sich anders entscheiden?“
„Das passiert nicht. Er wird Holger heißen“, sagte ER sehr sicher. „Und
mit dem Umstand, der ihn ins Leben gestoßen hat, setzen wir – JETZT! – den Anfangspunkt seiner Lebenslinie.“
ER berührte erneut ganz leicht eine Stelle auf dem Papier und ein blauer Punkt wuchs heraus, der Anfang einer Linie.
„Das Drama eines neuen Lebens beginnt“, sagte ER ruhig und eher nebensächlich.
„Das Projekt Leben hat begonnen!“, rief Till euphorisch.
Er hieß Holger und am Startpunkt seiner Lebenslinie, deckungsgleich mit der Soll-Linie, stand das Datum: 12. Juni, 19.03 Uhr.
Fast verdeckt, so eng lag sie an, entwickelte sich die
Beziehungs-Linie, an der „Mutter“ stand. Etwas weniger eng verlief eine
zweite Linie, neben der das Wort „Vater“ geschrieben stand.
Zwei feine, gelbliche Linien wuchsen wenig später aus dem Nichts,
verliefen so eng mit der Lebenslinie, dass sie fast mit ihr
verschmolzen. „Großvater“ und „Großmutter“ war jeweils am Anfang dieser
Linien vermerkt.
„Teufel auch!“, flüsterte Till. „Die habe ich glatt vergessen. Ist aber
nicht projektentscheidend“, setzte er entschuldigend hinzu. „Lass den
Teufel aus dem Spiel“, sagte ER.
Und
es begann der ganz normale Lauf eines menschlichen Lebens. Täglich
stand Till vor seinem Projekt und betrachtete zufrieden die
Entwicklung.Die Lebenslinie von Holger und seine Soll-Linie lagen
übereinander, waren fast nicht zu unterscheiden. Holger lernte Laufen,
konnte unverständliche Laute brabbeln, und dann kamen die ersten
richtigen Worte, später ganze Sätze. Jeder Fortschritt schlug sich in
kleinen Anmerkungen nieder; dies war die kritische Phase, die bis zum
3. Lebensjahr anhielt.
ER kam hin und wieder vorbei, blickte auf die Linien und las die
Anmerkungen. Oft ging ER ohne ein Wort weiter, nickte höchstens
anerkennend; aber heute blieb ER stehen.
„Es sieht gut aus. Bist du zufrieden?“
„So zufrieden, wie man als Projektleiter eines gut durchdachten und
optimal verlaufenden Projektes nur sein kann“, lachte Till und zeigte
auf die deckungsgleichen Linienverläufe.
Nun“, sagte ER, „noch ist Holger in der Phase der Fremdbestimmung.
Seine Eltern, seine Großeltern prägen seine Lebenslinie. Später werden
es Kindergärtnerinnen und Lehrer sein, die sie beeinflussen oder
bestimmen. Was aber, wenn er beginnt, selbstbestimmt zu handeln? Wann,
glaubst du, beginnt diese eigenbestimmte Lebenslinie?“
„Später! Viel später! Ich habe ihm alle zur Seite gestellt, die er
braucht. Ihre Erfahrungen und ihre Fürsorge werden ihn leiten, prägen;
sie machen ihn fit für alle künftigen Aufgaben.“
„Du bist so sicher. Du hast tatsächlich nichts vergessen?“
„Nein, nichts. Besonders stolz bin ich auf die umfassende
Berücksichtigung von „Gelegenheiten.“ Das wär nicht jedem eingefallen.
Sagt dir das was?“
„Du meinst …?“
„Ja sicher. Schau – hier.“
Till zeigte auf einen Meilenstein und die rosarote, haarfeine Beziehungslinie, die sich dort anschmiegte.
„Sein Diplom! Und an diesem Tag kommt sie – die Gelegenheit. Sie ist
die Gelegenheit. Ein Mädchen … Sie ist ein Jahr jünger als er. Ich habe
sie ausgewählt. Elke heißt sie. Und wenn er sie ergreift, – ich meine
die Gelegenheit – dann läuft alles nach Plan.“
„Und wenn nicht?“, fragte ER geduldig. „Sieh es einmal so:
Gelegenheiten kommen natürlich unbeeinflusst auf ihn zu. Nicht nur
deine geplanten Begegnungen und Ereignisse. Es sind kommende
Augenblicke, die – wenn er sie verpasst – von der Gegenwart direkt in
die Vergangenheit verschwinden, ohne die Gegenwart berührt zu haben;
sie werden einfach nicht realisiert. Diese Gelegenheiten verpassen,
heißt, die Linie wird nicht verändert, bleibt wie sie ist.“
Till lächelte jetzt fast so sanft wie ER: „Aber Holger wird sie sehen,
wahrnehmen, erkennen und berücksichtigen. Dafür habe ich gesorgt. Ich
habe die richtigen, die wichtigen Gelegenheiten für ein gutes,
glückliches Leben eingeplant und vorbereitet.“
„Ja, ich sehe es. Du hast an viele Dinge gedacht; aber ob du alles
berücksichtigt hast? Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als
du denkst.“
Till lachte leicht und locker. „Da spricht der Neiderfüllte, der hier mal nicht Verantwortliche – gönn mir ruhig den Erfolg.“
„Ich würde mich freuen – für Holger.“
Die
Zeit verging mit himmlischer Geschwindigkeit. Inzwischen gab es leichte
Schwünge, kleinste Bögen, die Holgers Lebenslinie von der Soll-Linie
unterschieden. Doch Till war nie wirklich beunruhigt; solche
Abweichungen bedeuteten nichts. Einmal war Holger schwer an Bronchitis
erkrankt, musste im Krankenhaus kuriert werden. Feine grüne Linien von
Ärzten und Krankenschwestern berührten seine Lebenslinie und
verschwanden wieder.
Die erste kritische Phase war überstanden; der Meilenstein „3.
Lebensjahr“ brachte Holger in den Kindergarten. Es sah alles völlig
normal aus. Inzwischen hatte Till seine täglichen Beobachtungen
eingestellt, kam nur noch wöchentlich; das Projekt ließ es zu.
Den Absturz der Linie verpasste er deshalb. Als er mehr zufällig
vorbeischlenderte, die Hände auf dem Rücken, einen gelangweilten Blick
auf Holgers Lebenslinie werfend, blieb er wie angewurzelt stehen.
Diesmal war er wirklich beunruhigt; seine Stirn legte sich in Falten,
und er trat mit raschen Schritten ganz nahe an den Tisch heran, beugte
sich tief über das Papier.
„Was soll das? Was bedeutet das? Das kann doch nicht …“
Er hörte IHN hinter sich hüsteln. Es machte ihn sofort wütend, er fühlte sich kontrolliert und beobachtet.
„Nun? Siehst du, was ich sehe?“, fragte ER mit seiner gütigen Stimme, die Till heute rasend machte.
„Na und? Ein kleiner Einbruch, nichts Besonderes. Haben wir gleich.“
„Gefühle, kindliche Empfindungen.“
„Wie bitte?“
„Ich sagte Gefühle – menschliche Gefühle. Hast du daran gedacht?“
„Natürlich hab ich daran gedacht. Hör auf! Du bist kein Controller. Ich führe das Projekt. Halte dich raus.“
Die ruhige Gelassenheit, der wissende und alles verzeihende Blick,
dieses altväterliche Lächeln regten Till heute maßlos auf; er konnte es
nicht mehr ertragen. Er drehte sich brüsk weg, lehnte sich über die
Tischplatte und studierte die kleinen, haardünnen Kommentare.
„Verlassensangst“, „Versagensangst“ und „Trauer“ stand neben der abfallenden Lebenslinie.
„Verflucht! – Entschuldigung, aber das gibt´s doch nicht.
Kindergärtnerin, Spielkameraden, alles ist bestens geregelt und dann
das. – Zum Teufel aber auch!“
Fieberhaft suchte er die Seitennummer, die an der Linie des Vaters
stand, blätterte hastig, riss dabei fast das Buch auseinander.
Da war sie, die Lebenslinie des Vaters. Sie schlug Kapriolen, warf
Bögen und zeigte auffällige Wechsel der tangierenden, begleitenden
Linien.
„Verlassen der Familie“ und „Neue Beziehung“ las er fassungslos.
„Schweinehund, elender!“, brüllte er und knallte die Seiten zurück.
„Todesangst“, „Unendliche Trauer“, „Schmerz“, „Unglückliche Vaterliebe“
und „Wilde Wut“ leuchteten an Holgers Linie auf. Till versuchte, die
Zusammenhänge schnell und präzise einzuordnen.
Es ging schnell so weiter; die Texte „Seelisch erkrankt“, „Tiefe
Depression“ und „Lebensangst“ mischten sich mit den grünen Ärztelinien.
„Das war nicht geplant“, murmelte Till und schielte zu IHM rüber, der sehr ruhig in seinem Altvätersessel ruhte.
„So etwas musste kommen. Gefühle sind stark; ob Angst, Glück, Liebe
oder Hass – sie sind die treibende Kraft des Lebens. Du hast sie doch
ausreichend berücksichtigt?“, fragte ER, stand auf und trat näher heran.
Till zitterte vor Wut, hob anklagend den Zeigefinger gegen IHN.„Du!
– Du Alleswisser! Du meinst, jetzt hättest du es mir bewiesen, ja?
Natürlich! Wie konnte ich das vergessen. Du weißt ja alles – du weißt
alles besser“, schrie er giftig und ohne einen Funken Respekt.
„Mein Lieber. Es sind wirklich die Gefühle, die du nicht ausreichend
bedacht hast. Willst du es nicht korrigieren? Willst du deinen Plan
nicht noch einmal anpassen?“
ER sagte es so ruhig, so gelassen, dass Till ihn nur wütend, verletzt und hilflos anstarren konnte.
„Sei nicht böse, Till. Es sind wirklich starke Emotionen, die hier
auftreten. Jeder Einzelne ist eng verbunden mit den Lebenslinien seiner
Eltern, mit ihrer Liebe und ihren Idealen. Er ist so eng mit ihnen
verbunden, dass eine Trennung wie ein chirurgischer, schmerzhafter
Eingriff wirkt. Genau das macht Holger gerade durch.“
Till tat so, als hätte er nichts gehört, beugte sich über die Lebenslinie von Holger und runzelte die Stirn.
„Es könnte gehen; ich könnte es reparieren“, dachte er und legte los.
„Ja! – Ja! Ich werde es ihm zeigen.“
Er radierte, strichelte, zeichnete, schrieb und als er fertig war,
hatte Holgers Soll-Lebenslinie ein neues Aussehen bekommen. Die
begleitenden Linien waren jetzt die der Großeltern, die Vaterlinie war
völlig weg und die der Mutter berührte Holgers Linie nur noch in
gleichbleibenden Abständen. Neu hinzugenommen hatte er den alten Mann
aus der Nachbarschaft, der schon einmal für kurze Zeit Holgers Linie
begleitet hatte.
ER lächelte und nickte anerkennend. „Du bist gut.“
Und da hatte Till IHM auch schon verziehen, fühlte sich geehrt.
Die Meilensteine „Einschulung“ und „Wechsel ins Gymnasium“ wurden
problemlos passiert. Holger entwickelte sich gut, erhielt
ausgezeichnete Noten und sein Abiturzeugnis war eines der besten. Aber
dann geschah erneut etwas Ungewöhnliches.
Till konnte den Beginn der Krise diesmal erleben, obwohl ER ihn
aufgehalten, ihn in ein Gespräch verwickelt hatte. Aus den Augenwinkeln
sah er die Veränderungen, die aus dem Nichts erscheinenden Schriften,
die Verlagerung der Lebenslinie.
„He! Was macht er da? Wer ist da …“
Er hatte mit schnellem Blick erkannt, dass da ein ungeplanter
Fremdeinfluss einwirkte, starrte und schüttelte den Kopf. Eine dünne,
hellrosafarbene Linie war herausgewachsen, lief jetzt dicht neben
Holgers Linie; sie war einfach da.
„Gelegenheit. Anne.“ stand neben der Linie und weiter war zu lesen: „Seine erste Freundin“.
„Na und? Eine zufällige Gelegenheit. Das ist nichts für ein ganzes
Leben. Die ist nicht geplant, die nicht. Da habe ich was vorgesehen,
was … Das kommt später; er ist noch zu jung“, beruhigte Till sich.
Und dann wurde es doch ernst. Plötzlich erschienen die Worte „Zweifel
an der Richtung und am Ziel“ und „Zukunftsangst“, und darunter
purzelten Holgers Gedanken aufs Papier: „Ist das mein Ziel? Ist das der
richtige Weg? Stimmt die Richtung?“
„Moment mal! – Was will er denn? Warum plötzlich diese Zweifel? Was
quält ihn? Es ist doch alles richtig. Das Projekt läuft doch bestens.
Verdammt! Was hat ihm dieses Weib da eingeflüstert?“
„Fluchen hilft nicht, Till. Anne hat etwas in ihm angerührt und in Gang
gesetzt. Er steht an einem möglichen Scheitelpunkt und blickt zurück in
seine eigene Vergangenheit. Er schreitet in Gedanken zurück auf seiner
Linie, betrachtet, gräbt, will aufarbeiten und verstehen. Schau nur!
Und gleich, wenn er verstanden hat, dann wird er versuchen, voraus zu
denken, in seine Zukunft zu blicken.“
„Und? Und was soll das alles?“, rief Till.
„Er glaubt nicht, dass es richtig wäre, ein Studium der Informatik zu
beginnen, das du vorgesehen hast; er hat Zweifel, was seine Zukunft
angeht. Er hat Angst davor, den falschen Beruf zu ergreifen, den, der
in deinem Plan für ihn vorgesehen ist.“
„Was will er denn machen? Sehe ich das richtig? Er will seine Zukunft kaputt machen? Er will nicht studieren?“
„Sieh nur! Er entscheidet sich. Oh ja, ich sagte es ja. Er ist ein kluger Junge.“
„Ein kluger Junge, sagst du? Ein Versager! Ein Ignorant ist das. Und
du? Du denkst, er macht es schon richtig, was? Du hast keine Ahnung vom
wirklichen Leben.“
„Glaubst du? Doch! – Ich denke doch, dass ich es verstehe. Sieh nur,
was er beschlossen hat“, sagte ER und verzichtete zum Glück auf das
Lächeln.
„Berufsentscheidung: Krankenpfleger“, lasen sie und die hellrosafarbene
Beziehungslinie schmiegte sich enger an Holgers neu entwickelte
Lebenslinie.
Die Worte „Große innere Zufriedenheit“, „Glück“, „Die große Liebe“
tauchten ein wenig später auf. Till warf voller Wut den Stift auf das
riesige Buch.
„Idiot! Dämlicher Idiot! Ich werfe die Klamotten hin. Soll er doch, dieser …“
„Nun, nun! Du hast einfach etwas übersehen. Du hast die Wirkung der
nicht planbaren Fremdeinflüsse nicht genügend berücksichtigt. Dieses
Mädchen, die Anne, hat ihm die Augen geöffnet, hat ihm geholfen. Er ist
jetzt glücklich. War das nicht auch dein Ziel?“
„Nein! – Ich meine ja. – Aber doch nicht so. Was ist mit meinem Projektziel? Wie kann ich planen mit solchen Fremdeinflüssen?“
„Ohne Fremdeinflüsse kann er aber nicht leben. Er wär nicht da, wenn
ihm andere nicht das Leben geschenkt hätten; er würde nicht mehr leben,
wenn andere sein Leben nicht erhalten hätten; er hätte niemals so
gelebt, wenn ihn andere nicht auf ihre Art geschult, beeinflusst
hätten; Fremde können ihm durch Zufall oder mit Absicht das Leben
nehmen. Denk an deine eigene Erfahrung.“
„So kann man das Projekt jedenfalls nicht fahren. Ich verlange den
Zugriff auf alle Lebenslinien, die ihn berühren, tangieren, kreuzen
oder sonst wie beeinflussen. Ich muss sie alle im Griff haben.“
„Bist du Gott?“
„Ich bin der Projektleiter. Und mein Projekt verlangt nach dieser Maßnahme.“
„Es geht nicht. Du kannst nur alle oder keinen. Hast du noch immer
nicht verstanden? Hast du nicht begriffen, dass es eine unendliche
Kette ist? Jede Begegnung, ob lang oder kurz, ob nah oder entfernt, ob
intensiv oder locker, wirkt sich auf die Lebenslinie aus; sie alle
beeinflussen und verändern.
Und sie alle haben wieder eigene Berührungen, Begegnungen, es hört
nicht auf. – Nur an einer Stelle, ja da hört es auf. Beim Sterben sind
sie alle allein. Freunde haben sich zuerst zurückgezogen, die Familie
später, die Ärzte resignieren und sind nur noch im Hintergrund da.Tod,
das heißt Einsamkeit. Der Augenblick, in dem der Lebensfaden
abgeschnitten wird, die Lebenslinie endet, ist von grenzenloser
Einsamkeit gekennzeichnet.“
ER sah Till sehr ernst an, strich ihm mit seiner weichen Hand ruhig
über den Arm, der sich auf dem Buch abstützte. Till starrte dumpf auf
die Linien und Texte, aber er sah sie nicht.
„Ich hab also versagt. Willst du mir das sagen? Erst habe ich die
Gefühle und Emotionen vernachlässigt, dann die zufälligen Begegnungen
und dann das Eigenleben der begleitenden Linien. Mehr kann man ja wohl
nicht falsch machen“, seufzte er voller Selbstmitleid und hoffte auf
Trost durch IHN.
„Willst du es noch einmal versuchen? Möchtest du noch einmal
korrigieren? Du kannst es doch; du sagst ja selber, du wärst der Beste.“
Till sah IHN
lange an, sein eigenes Leben schoss ihm durch den Kopf. Seine spontanen
Entschlüsse, seine überraschenden Kehrtwendungen, seine oft bewunderten
Kapriolen, hatten sein Leben bestimmt; so war er glücklich gewesen.
Hätte er es hingenommen? Wär er damit einverstanden gewesen, nach Plan
zu leben?
Er schüttelte langsam und sehr nachdenklich den Kopf. Er fühlte den forschenden Blick und dann hatte er sich entschlossen.
„Nein! Ich gebe auf. Vielleicht kann man wirklich nicht alles planen.“
„Du sagst es! Man darf sie nicht verplanen, selbst wenn man könnte.
Wozu auch? Stell dir nur das langweilige Leben vor, wenn alles geplant
wäre, ihr Leben wie auf Schienen verlaufen würde. Grässlich, nicht
wahr? Wie sagt ihr Menschen dazu? Jeder ist seines Glückes Schmied“,
fügte ER hinzu und lächelte weise.
„Trotzdem ist es ist mir zu wenig. Es befriedigt meine Vorstellung von
Effektivität und Vollkommenheit nicht“, sagte Till trotzig und immer
noch enttäuscht.
„Ich habe ihnen so viel mitgegeben, dass sie ihr Leben alleine planen
können; sicher ist dabei nichts vollkommen. Aber das macht
selbstbestimmte, eigenverantwortliche Menschen aus ihnen. Ich will
ihnen nicht die Freiheit nehmen, Fehler selber zu machen – und zu
korrigieren.“
„Du hast also gewusst, dass mein Projekt scheitern würde?“
„Ja.“
„Und hast mich arbeiten lassen? Warum? Hat es dir gut getan, mich aufsitzen zu lassen? Wolltest du eine Selbstbestätigung?“
ER lächelte wieder und schüttelte den Kopf. „Die brauche ich wohl
nicht. Des Menschen Wille ist sein Himmelreich“, sagte er leise.
„Hättest du mir geglaubt? Würdest du mir abgenommen haben, dass es
unmöglich ist?“
„Und Holger? Was wird aus ihm?“
„Wissen wir es? Wollen wir es wissen? Das ‚Projekt Leben’ ist tot.“
ER berührte die Soll-Linie mit seinem Zeigefinger und sie verschwand
spurlos; das ‚Projekt Leben’ war ausgelöscht. Holgers Lebenslinie lag
als kräftige, blaue Markierung vor ihnen und wuchs.
„Er wird sein Leben alleine gestalten; er wird scheitern und auch
Erfolg haben; er wird glücklich und auch traurig sein; er wird
verzweifeln und dann wieder voller Kraft seinen Weg nehmen. Lassen wir
ihn seine Lebenslinie ziehen. Sie wird einmalig sein, wie alle anderen
auch.“
ER sah verträumt in die unendliche, himmlische Ferne, legte Till leicht
den Arm um die Schulter und dann gingen sie durch eine milchige Wand in
den hellen Raum.