„Nichts ist so, wie ich´s in meinem Kopf hatte – es sind zu viele
Farben, weißt du. Alles ist so schreiend bunt. In meinem Kopf ist alles
grau, düster und dreckig. Das hier – das ist es nicht, was ich gesehen
habe – damals, Iljitsch!“
„Oh doch, doch, Aja. Es ist dasselbe Land; es sind dieselben Häuser;
und da gibt es immer noch Menschen, die nicht alles aus den Köpfen
getilgt haben, was damals so schlimm für uns war. Sie laufen da draußen
herum, tragen die Gedanken von gestern unsichtbar mit sich – und doch …“
„Sie leben nicht mehr – nicht wahr?“, fragte sie.
Ihre Stimme hatte einen Unterton, der plötzlich aufkommende Angst
verriet. Jetzt, wo alles näher kam, was sie so lange verdrängt hatte,
da verlangte sie nach Gewissheit und Sicherheit.
„Ich weiß es nicht – aber ich glaube nicht, dass es sie noch gibt.
Ängstige dich nicht, Aja. Sie werden wohl gestorben sein; oder sie sind
so alt, dass wir sie nicht mehr erkennen werden.“
„Es ist nichts mehr von ihnen da? Nichts wird sein wie damals, Iljitsch?“
„Ich weiß es nicht. Ich sagte es ja, vielleicht lebt es in den
Nachkommen weiter. – Man spricht und schreibt viel über sie – liest du
keine Zeitungen?“
Anschikaija Pawlowska – die von Iljitsch meist nur Aja genannt wurde –
antwortete nicht. Für einen Moment senkte sie die Augen und es sah aus,
als schäme sie sich, nicht einmal eine eigene Zeitung zu haben.
Aber der Petrovitsch, ihr Nachbar, der bekam eine und verlieh sie an
die Nachbarn. Sie las selten, denn die Augen waren schlecht; sie war
ungeübt, verstand auch oft nicht, wovon die Leute schrieben.
„Ist dein Fehler, Anschikaija! Du musst regelmäßig lesen, sonst kannst
du nichts begreifen!“, sagte Petrovitsch, als sie sich über das
Kauderwelsch der Schreiber beschwerte. „Man muss sich gewöhnen – und
fast alle Berichte sind Fortsetzungsgeschichten!“
Ihrem hübschen Gesicht sah man die 72 Jahre und das anstrengende Leben
nicht an. Es war vollrund, fast faltenlos, die großen dunklen Augen und
die Stupsnase passten genau da hin, ließen es mütterlich und warm
aussehen. Trotz des hohen Alters waren die naturgewellten weißen Haare
noch voll, umrahmten das Gesicht; einen Frisör kannte sie nicht.
An ihrem Körper spürte sie die Auswirkungen der harten Arbeit, aber es
waren nicht nur die schweren Lasten, die ihn so gemacht hatten. Der
verkrümmte Rücken schmerzte, die geschwollenen Beine waren steif und
gefühllos.
Zunächst betrachtet sie noch – wach und neugierig – alles, was am Fenster vorüber zog. Der veraltete Zug mit der Nummer D 11MJ besaß zwar einen Schlafwagen, aber den hatten die Gastgeber nicht für sie reserviert.
Der Zug fuhr von Smolensk bis Düsseldorf durch, was ihnen das lästige
Umsteigen ersparte. Auch wenn an der polnischen Grenze die E–Lok durch
eine Diesel–Lok und an der deutschen Grenze diese erneut gegen eine
E–Lok ausgetauscht wurde, die hässlichen Wagons blieben die gleichen.
Professor Wladimir Iljitsch Boronow und Anschikaija Pawlowska hatten
sich damit abgefunden, während der rund 32 Stunden dauernden Fahrt auf
den harten, mit braunem Kunstleder bezogenen Bänken ausharren zu müssen.
Die Gänge waren vollgestellt mit Gepäck und Kartons und ihr Abteil bis
auf den letzten Platz gefüllt; es gab kaum Möglichkeiten, sich frei zu
bewegen. Die Luft war milchig grau vom Rauch billigen Tabaks, der aus
allen Abteilen drang.
An den kleinen Bahnstationen, in Baranovichi, in Brest und auch in Terespol wechselten immer wieder die Mitreisenden.
Bäuerinnen und Bauern, mit alten Gesichtern voller Runzeln und Falten,
quetschten sich mühsam in das schmale Abteil, wuchteten ihr Gepäck auf
die Ablage und ließen sich schwer in die engen Sitze fallen.
„Sehen aus wie ihr zerfurchtes Land”, dachte Aja, die alle Neuankömmlinge freundlich anlächelte.
Die Zugestiegenen blickten ernst und forschend, manche sogar
misstrauisch in die Gesichter der Reisenden; es waren meistens stille,
in sich gekehrte Menschen, die in prall gefüllten Rucksäcken und
Wolltüchern ihre Waren zum Markt trugen.
Sie wechselten sich mit müde blickenden Männern in grauen Anzügen ab,
die schäbige Koffer und Taschen mitbrachten. Sie blickten ständig
besorgt in den Gang, fürchteten wohl eine plötzliche Kontrolle.
In Terespol kamen dicke Landfrauen mit Kopftüchern und weiten Röcken,
bepackt mit Tragetüchern voller Früchte. Sie lachten und schwätzten,
erzählten schmuddelige und derbe Witze. Sie wollten ihre Waren auf dem
Markt im nächsten Ort verkaufen und stiegen schon beim nächsten Halt
wieder aus.
Zuletzt kamen Männer, die offensichtlich als Händler reisten, wie man
an den Prospekten sehen konnte, die sie auffällig lasen und reihum
zeigten.
Die meisten Mitreisenden schwätzten untereinander, boten sich
gegenseitig gesalzenen Fisch, frisches, duftiges Brot und auch selbst
gebrannten Schnaps an, den sie in langen Flaschen ohne Etikett
mitführten. Man tauschte dies gegen das, beroch hingehaltene Stücke
sehr fachmännisch, erlobte sich ein besonders gutes Stück Wurst und bot
dafür ein Stück gebratenes Huhn an.
Am polnischen Grenzort Siedlce, stiegen die letzten russischen Frauen
und Männer aus, beladen mit großen Rucksäcken voller Schnaps.
„Unseren ‚Selbstgebrannten’ lieben die Polen”, schwärmten sie. „Wir
brauchen auf dem Markt nur ein halbes Stündchen, bis alles weg ist!“
Die neuen Mitreisenden waren Polen, die wortlos das Abteil betraten und
sich mit meist mürrischen Gesichtern einen freien Platz suchten.
Niemand bemühte sich, Gespräche mit den anderen Reisenden zu beginnen.
Man musterte sich heimlich, prüfend und misstrauisch, und drehte sich
dann demonstrativ den eigenen Partnern zu oder las.
In Brest, wo die Fahrgestelle von russischer auf die in Europa sonst
übliche Spur hydraulisch angepasst werden mussten, gab es einen
längeren Aufenthalt. Die meisten Fahrgäste stiegen aus, um sich ein
wenig die Beine zu vertreten und in Ruhe ein Glas Kwass zu trinken.
Als der Zug am späten Abend im Warschauer Bahnhof Warszawa Wschodnia
hielt, schlief Anschikaija Pawlowska schon und verpasste den
planmäßigen, fast zweistündigen Aufenthalt.
Mitten
in der Nacht, kurz vor Rzepin in Polen, wurde sie wach, lauschte im
Dämmerlicht des verdunkelten Abteils den Schlafgeräuschen der Fahrgäste.
Sie war furchtbar müde, doch die starken Rückenschmerzen ließen sie
nicht wieder einschlafen. An ein Aufstehen war auch nicht zu denken.
Dafür hätte sie mindestens die Hälfte der Leute wecken müssen.
Anschikaija hielt die Augen geschlossen, wollte entspannen, doch dann
tauchten die Bilder wieder auf, die sie fast in jeder einsamen Nacht
sah.
Nur im Halbschlaf träumte sie gerne, wenn sie ihre Träume steuern und
die Schreckensbilder wie mit einem Wischtuch einfach wegputzen
konnte.Meist ließ sie Szenen aus der unbeschwerten Kindheit an sich
vorüber ziehen, wobei sie allerdings eine lange Zeit davon aussparen
mußte. Das gelang nicht immer, manchmal waren diese Bilder stärker,
drängten darauf betrachtet zu werden.
Sie konnte sich alles sehr genau ausmalen; sie hatte es sorgsam in
ihrem Gedächtnis verwahrt. Ihr Lieblingsbild war das lachende Gesicht
der Mutter Olga; sie konnte es immer wieder hervor holen. Meistens
stellte sie ihre Mutter dazu auf den kleinen braunen Acker, ganz unten
am Fluss, den sie selber bewirtschaftete. Sie erinnerte sich, wie sie
mit ihr die Kartoffeln aus dem Boden grub, sie in einem Drahtkorb
einsammelte.
Sie sah, wie sich ihre Mutter aufrichtete, sich auf dem Spaten
abstützte; wie sie den warmen Ostwind durch die langen Haare streichen
ließ und sich mit einer durchaus anmutig wirkenden Bewegung eine
widerspenstige Locke aus dem schönen Gesicht strich.
An den Feldrand stellte sie die Handkarre für die Kartoffeln, legte
daneben das buntkarierte, große Tuch, in das ihre Mutter immer Brot,
Wurst und eine Kanne mit Ziegenmilch gesteckt hatte, die sie aus der
Kolchose mitbrachte.
Sie sah sich nie selbst, wusste nur, dass ihr das Lächeln galt, wenn
sie ihr das gebrochene Brot reichte. Sie fühlte die stille, glückliche
Zufriedenheit, die ihre Kindheit fast immer ausgefüllt hatte.
Ein anderes Mal ließ sie zu, dass sich ihre Mutter matt auf die Hofbank
fallen ließ; sie selber hockte wohl zu ihren Füßen, denn sie sah die
streichelnde Hand auf einem blonden Kopf. Die Sonne war schon nicht
mehr zu sehen, die Schatten waren lang und in ihrem Schutz schliefen
die Hunde; die Luft hatte sich abgekühlt; sie hörte das leichte Stöhnen
der Mutter, die den schmerzenden Rücken streckte.
Sie gab ihr zerrissene Kleider auf den Schoß, die sie mit den schweren,
schwieligen Händen nur mühsam zu nähen vermochte. Wenn sie traurig war,
dann ließ sie sie eines der langsamen, schwermütigen Lieder singen,
summte es sogar mit.
Sogar heute noch fühlte sie den geheimnisvollen Schauer auf dem Rücken,
den sie immer gespürt hatte, in diesen wunderbaren Stunden.
„Ja“, dachte sie, „ich war glücklich, ich hatte ein schönes Leben! Es war Frieden in meinem Leben und in meinem Dorf.“
Vom Vater gab es in ihrem Kopf keine Bilder. Er war schon längst weg gewesen, als die Erinnerungen sich festsetzen konnten.
Es hätte keine Arbeit für ihn gegeben, hatte ihre Mutter erzählt; also
war er zur Armee gegangen. Aber die Nachbarskinder hatten verstohlen
geflüstert und geheimnisvolle Gesichter gezogen, wenn sie stolz von den
Abenteuern ihres Vaters schwärmte.
„Ha! Das war alles ganz anders, hat mein Vater gesagt. Frag doch deine Mutter!“, riefen sie.
Es habe da wohl ganz andere Gründe gegeben, habe man von den Eltern
gehört; Gründe, von denen man nicht sprechen dürfe. Aber dann hatten
sie doch erzählt, bruchstückhaft, ohne Verständnis für die Tragödie.
Weggelaufen sei er, weil er’s nicht mehr ausgehalten habe, in der
Armut, mit der vielen Arbeit und mit dieser Frau, von der er so
plötzlich ein Kind bekommen hatte.
Ihre Mutter hatte nur verächtlich gelacht, wenn Anschikaija davon
sprach und ihr den Kummer nannte, die ihr diese heimlich zugeflüsterten
Vermutungen bereiteten.
„Kindergeschwätz!“ Sie hatte nichts davon hören wollen und ihr
stattdessen den Vater als bärenstarken, aber liebevollen Mann
beschrieben.
Und wenn Mutter abends beim flackernden Herdfeuer von Vater erzählte,
dann hatte sie stets von wilden Abenteuern auf weiten Meeren zu
berichten gewusst. So entstand das Bild eines stolz aufgerichtet am
Schiffsbug stehenden Matrosen der Rotbannerflotte – die Mütze mit den
flatternden Bändern schief aufgesetzt, den gewaltigen Brustkorb in ein
enges gestreiftes Hemd gepresst und die wuchtigen Fäuste tief in die
Taschen der dunkelblauen Hose vergraben.
In furchtlos herausfordernder Haltung dem Sturm trotzend – das war Vater. Nur ein Gesicht … ein Gesicht besaß er nicht
Es gab keinen Brief, keine Karte, nicht ein einziges Bild von ihm –
nicht von der Hochzeit und nicht in Uniform; sie hatte heimlich Mutters
Schubladen durchsucht, ohne etwas zu finden.
Aber sie wollte damals etwas haben, was sie sich vorstellen konnte; sie brauchte ein Gesicht, damit sie von ihm träumen konnte.
Also holte sie sich einen Ersatz für Vladimir, ihren Vater. In den
Träumen stellte sie ihn sich mit dem Gesicht des Akbulak vor, der
draußen vor dem Dorf wohnte, direkt an der Desna, der sich den
Lebensunterhalt durchs Fischen verdiente.
Auch die anderen Kinder im Dorf mochten ihn; Anschikaija rannte oft zu
ihm, weil er ihr dann über die Haare strich und fast immer eine
Leckerei für sie in einer der weiten Jackentaschen versteckt hielt.
Es waren aufgenähte Riesentaschen, in denen sich Köder für die Fische,
Angelhaken, Bindfäden, Angelschnüre, Hartbrot, Sonnenblumenkerne, aber
auch bunte Bonbons den Platz teilten.
Die Bonbons und andere lebenswichtige Dinge tauschte er für Fische ein, die der Fischhändler aus Roslawl mitnahm.
Akbulaks Bart war lang und weiß; die Augen blau – hellblau im
Sonnenlicht – und mit ihnen blinzelte er so lustig, wenn er den Kindern
etwas zusteckte.
Aber das Aussehen war ihr nicht wichtig, die ruhige, immer
verständnisvolle Art, die träge Stille, die ihn umgab, wenn er sie bat,
leise zu sein und auf die Fische zu hören. Die erlebte Zuwendung und
Nähe, die machten ihn für sie so wichtig.
Dieses gute Gesicht nahm sie sich und vermachte es ihrem Vater. Sie gab
ihm ein Schiff, größer als ihr Haus, ließ ihn von ganz oben winken und
mit den Armen rudern. Sie ließ ihn mit flatternden Haaren über den
staubigen Weg nach Hause eilen, in einem bunten Anzug, so schön wie
der, den Zar Alexander auf dem Bild trug, das ihre Mutter in der
Schublade aufbewahrte.
Und lachen ließ sie ihn; ständig und genau so, wie der alte Akbulak
lachte, wenn ihre Mutter ihn ausschimpfte, weil er wieder einmal von
der wilden Soldatenzeit erzählt hatte.
„Verdirbst nur die Kinder mit deinen Weiber– und Soldatengeschichten!“, rief sie dann und drohte ihm mit der Faust.
*
Erst in Magdeburg wurden die anderen Reisenden langsam wach; streckten die steifen Glieder und dehnten sie, dass es knackte.
Endlich traute sie sich und ging zur Toilette. Sie war Sauberkeit
gewöhnt, in ihrem Haus gab es keinen Dreck und Schmutz. Die Toilette
aber war so verdreckt, stank so übel, dass ihr schlecht wurde; nur mit
Widerwillen konnte sie sich erleichtern.
Ihr Cousin kaufte auf dem verschlafen und still daliegenden Magdeburger
Bahnhof Kaffee, Wurst und Brot; die eigenen Vorräte waren schon längst
verbraucht.
In den Stunden mit den russischen Mitreisenden hatte man mehr gegessen,
als man es sonst tat. Als der Zug den Magdeburger Bahnhof verließ,
schlief Aja ein wenig ein.Sie befanden sich kurz vor Bielefeld, wie
Iljitsch bereitwillig erklärte. In Düsseldorf würden sie umsteigen; sie
hätten nur wenige Minuten Zeit, konnten sich nichts ansehen, sagte er
bedauernd. Er las das alles in einem bunten Reisebegleiter, in dem er
ständig blätterte und die fremden Ortsnamen prüfend aufsagte.
Die Erläuterungen sagten ihr nicht viel; alle Namen klangen fremd, und
sie wollte auch nichts wissen. Die immer stärker aufkommende Angst vor
diesem fremden Land und dem Wiedersehen mit der Vergangenheit vermochte
er ihr auch mit dem leichten Plauderton nicht zu nehmen.
Je näher sie dem Ziel kamen, umso stärker spürte sie eine Beklemmung,
die ihr das Atmen schwer machte. Sie wunderte sich über ihren Cousin,
der anscheinend völlig unbelastet und ohne Ängste war.
Müde schaute sie aus dem Fenster des langsam fahrenden Zuges und
versuchte die Landschaft auf sich wirken zu lassen, die in friedlicher
Gemächlichkeit vorüber zog.
Wiesen dehnten sich an sanften Abhängen und dunkelgrüner Wald säumte
den Horizont; schwarzweiße Kühe grasten, bewegten sich wie in Zeitlupe,
hoben nicht einmal den Kopf, als der Zug vorbeizog; rot geklinkerte
Bauernhöfe mit weit ausladenden Stallungen tauchten ab und zu am
geschwungenen Horizont auf.
„Das ist ein schönes, reiches und friedliches Land“, dachte sie,
verglich ohne Groll die trockenen, staubigen Felder der Heimat mit
diesem sattgrünen und gesunden Boden.
Bielefeld wurde von einer knarzigen Blechstimme angekündigt;
Anschikaija konnte am Rand des Fensters die ersten Bauten der Stadt,
dicht gedrängte, farbenfrohe Häuser und nadelspitze Kirchtürme erkennen.
Der Zug hielt mit kreischenden Bremsen. Nur wenige Menschen standen auf
dem Bahnsteig und betrachteten gelangweilt den Zug mit den fremdartigen
Wagons. Sie trugen schöne Schuhe, fand Anschikaija, und besah sich die
eigene ausgetretene, fettglänzende Fußbekleidung.
„Taugen aber kaum für die Arbeit, sind nur gut für Feste“, fand sie.
Sie war ohne Neid, überlegte nur, was diese Menschen da draußen
machten, warum sie so untätig herumstanden, ob keine Arbeit auf sie
warten mochte.
„Sie haben schöne Kleider, als wollten sie zu einem großen Fest gehen.
Sie sehen friedlich aus, Iljitsch, findest du nicht auch? Sie lächeln
oft.“
„Friedlich? Ich weiß nicht. Woran erkennt man das? Ist es nicht
vielmehr so, dass du sie dir friedlich wünschst, weil du immer noch
Angst vor ihnen hast?“
„Ich habe keine Angst. Hier ist es friedlich. Diese Menschen sind gut; sie tun niemandem etwas, das sehe ich.“
Er spürte, wie sie bemüht war, der Stimme einen möglichst festen Klang
zu geben, aber er sagte nichts. Nur ein feines Lächeln umspielte die
Mundwinkel.
In dem breiten Abteilsitz wirkte der kleine Mann irgendwie verloren;
die dürren Beine steckten in viel zu weiten Hosen, das verwaschene
weiße Oberhemd schloss eng am faltigen Hals. Am linken Revers des
braunen Jacketts blinkte das Parteiabzeichen, und an einem breiten Band
baumelte ein großer Verdienstorden.
„Professor Wladimir Iljitsch Boronow, einem der besten Reaktorphysiker, die unser Land hervorgebracht hat“, stand in der Urkunde, die man ihm vor etlichen Jahren, zusammen mit dem Orden, überreicht hatte. Damit verbunden war seine Ernennung zum Leiter des Moskauer Instituts für Physik und Ingenieurwesen gewesen.
Ja, er war ein einflussreicher und mächtiger Mann geworden, dem man schon aus Sicherheitsgründen jeden Aufenthalt im westlichen Ausland untersagen musste.
Jetzt lebte er von einer kleinen Rente, die ihm gerade mal das Überleben sicherte, alleine in einer Zweizimmerwohnung in Smolensk – und hätte reisen dürfen, wenn es die Mittel erlaubt hätten.
„Du hast ihnen schon lange verziehen, Anschikaija?“, fragte der weißhaarige Alte.
„Glaubst du das? Warum sagst du es so vorwurfsvoll?“
„Dein weiches Herz kann keinen Zorn festhalten, Aja, er zieht schneller aus, als er eingezogen ist; du bist wie unser Land, es verzeiht auch alles und jedem – ohne Rücksicht, ohne Moral.“
„Nein, Iljitsch, nein! Ich konnte sie nicht alle freisprechen. – Und auch nicht in gleicher Weise. Sie sind immer wieder angetreten, weißt du – jede Frau und jeder Mann. Wie oft haben sie sich in langen Nächten aufgedrängt, wollten sich in Erinnerung bringen – wollten wohl, dass ich ihnen verzeihe. Ob es sie noch gibt?“
„Nein, du dumme Aja!“ Er beugte sich vor und streichelte zärtlich ihre Hand. „Nein, die existieren nur noch in deinem Kopf! Es gibt keine Geisterwesen, keine Toten, die um uns herum schwirren! Das sind Spukgeschichten für das dumme Volk. – Mach dich nicht verrückt. Es gibt sie nicht!“
„Na ja, alles weißt du auch nicht, mein kluger Iljitsch! Ich habe meine Quälgeister befragt und ausgeforscht; ich wollte wissen, ich musste wissen, was sie damals gedacht und gefühlt haben. Sie waren mir schon Antworten schuldig – und ein ‚Verzeih mir Anschikaija Pawlowska’ hat mir nicht gereicht.“
„Und? Haben sie geantwortet?“ Die Stimme klang spöttischer, als er es gewollt hatte. „Haben sie gesagt, warum sie es getan haben? Hast du die Gründe verstanden?“
„Spotte nur! Manche Menschen habe ich verstanden – im Nachhinein; ihnen konnte ich verzeihen, einigen anderen werde ich nie verzeihen können“, sagte sie zur sonnenbeschienenen Scheibe und lehnte ihr gewelltes weißes Haar dagegen.
„Aber du hast kein Recht, ihnen zu verzeihen, Anschikaija! Du verhöhnst damit die anderen Opfer! Nur alle Opfer, ihr alle gemeinsam, die sie unter der Knute hatten, ihr zusammen könntet verzeihen. Aber du weißt, das geht nicht!
Zu viele haben sie getötet oder zu Krüppeln gemacht, viele sind längst gestorben. Willst du diese Toten vertreten und in ihrem Namen Verzeihung gewähren?“
Anschikaija schüttelte den Kopf; sie verstand ihn nicht; ihre Art zu verzeihen war eine ganz persönliche.
Sie
lebte in Gurka, einem winzigen Dorf, gut hundert Kilometer südwestlich
von Smolensk. Es war von vertrockneten Weiden, knorrigem Gebüsch und
kleinen, verkrüppelten Wäldern umgeben. Die Äcker, auf denen sie mühsam
Kartoffeln und Mais anbauten, besaßen eine rotbraune Farbe und brachten
nicht sehr viel Frucht hervor. Nur dicht am Fluss gab es ein paar grüne
Wiesen, einige fruchtbare Felder, von denen jeder im Dorf einen kleinen
Streifen besaß.
Das Dorf bestand aus etwa zwanzig Holzhäusern, die entlang der Straße
standen, die zur Desna und zur alten Holzbrücke führte.Seit den
aufregenden Tagen, in denen die Sowjetunion auseinander fiel, war auch
in diesem einsamen Dorf alles anders geworden. Über das Fernsehen
hatten sie den Wandel verfolgt, hatten nicht gewusst, ob sie lachen
oder weinen sollten. Sie konnten nicht verstehen, warum die Kolchose
geschlossen wurde; es war doch mitten in der Erntezeit.
Früher hatten sie alle in diesem großen Betrieb arbeiten müssen. Sie
schufteten hart in den Lagerhallen, in den Silos, auf dem Feld,
verdienten aber nur wenig. Es war eine arme Kolchose, wie der Genosse
Direktor ihnen immer wieder versicherte; man müsse fast alles, was
geerntet und gezüchtet wurde, abliefern; die spärlichen Überschüsse,
die sie auf den Kolchosmarkt nach Roslawl brachten, reichten nicht aus;
die Gewinne würden von den teuren Maschinen und ihrer Unterhaltung
aufgefressen.
So blieb ihnen keine andere Wahl, als ein paar kleine Landstücke,
Gärten oder Äcker, diesseits der Desna, selber zu bewirtschaften. Es
wurde geduldet, denn man kannte die Not. Sie bauten Kartoffeln oder
Gemüse an; manche hielten sich ein paar Schweine oder etwas Geflügel.
Auf den eigenen Feldern und Wiesen konnten sie nur am späten Abend
arbeiten, wenn sie nach zehnstündiger Arbeitszeit zerschlagen und lahm
aus der Kolchose kamen, oder eben am Wochenende, wenn sie lieber die
müden Knochen ausgeruht hätten,
Jetzt war die Kolchose geschlossen, standen die Gebäude öde und leer,
verrotteten immer mehr; nur ein paar Stallungen wurden noch von Bauern
genutzt, die ihre Felder in der Nähe hatten.
Eine spontan gegründete private Genossenschaft hatte schon nach kurzer
Zeit wieder aufgegeben, und danach hatte man eine Privatisierung der
Landwirtschaft beschlossen.
Die Traktoren und Landmaschinen waren uralt und häufig kaputt. Es gab
kaum Ersatzteile, und für neue Maschinen fehlte das Geld. Mit den
wenigen funktionierenden Hilfsmitteln versuchte man mehr schlecht als
recht die Äcker und Wiesen zu bewirtschaften und Vieh zu züchten.
Es ging nur langsam vorwärts; die Arbeit war schwer, weil sie fast
alles mit der Hand erledigen mussten; teures Saatgut, Dünger und
Pflanzenschutzmittel fraßen fast die gesamten Erträge auf.
Die gewundene Straße, eigentlich nur ein unbefestigter Feldweg, in den
die Räder der Traktoren und Anhänger tiefe Rinnen gefräst hatten,
verband ihr Dorf mit der Außenwelt.
Die Außenwelt, das war Roslawl, wo es einen täglichen Markt gab, auf
dem sie die Produkte verkaufen konnten – wenn etwas übrig war.
Man fuhr eine knappe Stunde mit dem Pferdefuhrwerk bis Roslawl; mit dem
Auto ging es nur im Sommer schneller, wenn die Wege fest und trocken
waren. Die kleine Stadt lag etwas südlicher, ein ganzes Stück von der
Desna entfernt.
Außer den einstöckigen Holzhäusern gab es nur noch die einklassige
Dorfschule, ziemlich weit unten am Fluss, und die zerfallene Kirche am
anderen Ende des Dorfes.
Niemand ging mehr in diese Kirche, sie stand leer, und eine Glocke gab es schon seit dem Ende der Zarenzeit nicht mehr.
Olga, Ajas Mutter, hatte den Popen noch gekannt, der manchmal an
Sonntagen von Roslawl gefahren kam. Aber sie selber hatte nie einen
Priester im Dorf gesehen. Die alten Bänke, die Ikonen, die
Fensterscheiben und das Holz der Türen hatten die Leute längst aus der
Kirche geholt; es war alles spurlos verschwunden.
„Es ist nicht gut, was die Leute machen! Sie glauben nicht mehr an
unseren Gott, meine kleine Aja“, hatte ihre Mutter geseufzt, wenn sie
abends mit ihr gebetet hatte. „Sie haben neue Götter, mächtige – und
böse.“
Anschikaija Pawlowska wohnte alleine in dem kleinen, aus Holz gebauten,
ebenerdigen Haus. Die meisten Nachbarn hatten viele Kinder, die ständig
vor und in ihrem Haus umher rannten und lärmten, die sich bei ihr
ausweinten oder getröstet werden mussten.
Pijotre und seine Frau Helenka bewohnten das linke Nebenhaus; sie
hatten sechs Kinder. Sie waren arm, ärmer als Anschikaija, denn sie
mussten acht hungrige Mäuler stopfen, und die Felder lagen weit weg vom
Fluss.
Auf der anderen Seite wohnten Petrovitsch und Naidenka, die nur drei
Kinder hatten. Petrovitsch half ihr manchmal bei der schweren
Landarbeit; er besaß einen starken, hoch gewachsenen Eber, der schon
lange für alle Säue im Dorf zuständig war. Davon lebte Petrovitsch mit
seiner Familie ganz gut, denn er verlangte für die Liebesdienste des
Ebers Gogol immer zwei von den frisch geworfenen Ferkeln.
Anschikaija hatte nie einen Mann gehabt; in Gurka hatte es kaum noch
heiratsfähige Männer gegeben – nach dem Krieg –, die meisten waren
gefallen oder blieben vermisst. Erst nach langer Zeit waren neue
Familien gekommen, angesiedelt durch die Verwaltung der Kolchose.
Vom Vater hatte Anschikaija nichts mehr gehört; sie hatte sich nach dem Krieg bei der Verwaltung in Smolensk nach ihm erkundigt.
Man sagte ihr, er sei nicht mehr aus dem Krieg zurückgekommen, er gelte als vermisst, so wie der Vater von Iljitsch.
Ihr Haus hatte leer gestanden während des Krieges, all die Zeit, in der
sie weg sein musste, und alle Tiere waren gestohlen worden oder
gestorben. Sie hatte ganz neu anfangen müssen – damals, als sie es zum
ersten Mal wieder gesehen hatte, nach einem furchtbar langen Marsch von
Smolensk her; nur zwei Mal hatten Lastwagen sie ein kleines Stück
mitgenommen.
Ihr Denken war einfach, drehte sich um Alltagssorgen, um Wachstum und
Vermehrung der Tiere, um Krankheiten in der Nachbarschaft, um das Glück
eines langsamen Gesprächs mit den Nachbarn.
Im Winter saßen sie gemeinsam am offenen Herd, im Sommer, nach
Feierabend, auf der Bank, die selbstverständlich vor dem Haus stand.
Man erzählte sich Geschichten, besprach die Ernte, die Arbeit und die
Krankheiten im Dorf.
Wie einige andere Familien im Dorf besaß auch Anschikaija weder
Fernsehgerät noch Radio. Wollte man unbedingt etwas im Fernsehen
anschauen, dann fand sich schon ein Nachbar, bei dem man willkommen
war; man setzte sich zusammen vor das Gerät, sah die Filme und Berichte
aus fernen Ländern und diskutierte ewig lange darüber.
Der Nachbar auf der rechten Seite, der Petrovitsch, der hatte sich für
das Geld, das er für die Ferkel bekam, die er auf dem Markt in Roslawl
verkaufte, ein modernes Gerät gekauft.
Bei ihm saßen sie manchmal, der Pijotre und seine Frau, die sich keins
leisten konnten, und sie, die sich keins anschaffen wollte – und auch
kein Geld dafür übrig hatte.
„Warum soll ich alleine so aufregende Sachen sehen? Soll ich dann mit
mir allein darüber schwätzen? Nein, nein! So ist es gut! Wir sehen
genug von der Welt!“, hatte sie der Naidenka, der Frau des Petrovitsch,
gesagt, die ihr geraten hatte, sich ein Gerät anzuschaffen.Anschikaijas
tägliches Zeitgefühl wurde von der Sonne und der beginnenden oder
schwindenden Dunkelheit bestimmt.
Die große Zeit, das waren die Jahreszeiten, die im Herbst eine karge
Ernte, im Winter Kälte, bullernde Öfen und Stille, im Frühling die
Wärme mit Rückenschmerzen von der vielen Arbeit, und in den meist
heißen, dürren Sommern viel Arbeit und schöne lange Abende mit sich
brachten.
*
Anschikaija hatte kurz vor Mittag gerade die sieben Gänse in den Stall
getrieben; es war einer dieser heißen Sommertage, die Luft wie Blei
aussehen lassen, als sie den Motor eines nahenden Autos hörte.
Das dunkle Gefährt schaukelte im Schritttempo durch die Furchen des
staubigen Weges, der von Roslawl her durchs Dorf Gurka führte, fuhr
ohne anzuhalten durch das halbe Dorf und blieb vor Anschikaijas Haus
stehen.
Kinder, die vom Fluss hoch kamen und die Angelstöcke noch in den Händen
hielten, trotteten langsam hinter dem Wagen her, sprachen leise über
das blitzsaubere schwarze Blech und hielten dabei respektvollen Abstand.
Als das Auto bremste, blieben sie stehen und warteten ab. Ansonsten lag
die Straße leer und verlassen da; es war Mittagszeit und da ruhten die
meisten. Niemand sonst schien sich für den schweren Wolga zu
interessieren, der nun vor Anschikaijas Haus stand.
Dabei war es ja nicht normal, dass ein Auto den Weg nach Gurka fand –
und auch noch im Dorf anhielt. Höchstens einmal im Monat kam der
Händler mit einem uralten Lieferwagen aus Roslawl ins Dorf, brachte
Ersatzteile, Stoffe oder auch Schuhe, alles nur auf Bestellung.
Dafür nahm er dann Speck und Schinken mit, überhaupt alle essbaren
Sachen, die von den Bauern nicht verbraucht wurden. Aber es war nie
viel übrig; den Rest mussten sie deshalb bar bezahlen.
Anschikaija wusste zuerst nicht, wer der feine Herr war, der aus dem
vornehmen Auto stieg und sich, auf einen Stock abgestützt, auf sie zu
bewegte.
„Anschikaija! Meine Aja! Meine kleine süße Cousine! Erkennst du mich
denn nicht?“, rief der Mann – und dann weinte sie lange vor Glück.
„Iljitsch, lieber Iljitsch, wo warst du? Warum hast du mich nie
besucht?“ Immer wieder fragte sie ihn, rief ihn mit dem Namen aus der
Kindheit.
Sie setzten sich auf die alte Bank, die das halbe Jahrhundert mühevoll
überstanden hatte, schauten auf die im Dreck wühlenden Schweine und
mochten kaum sprechen vor Glück und chaotisch einströmenden
Erinnerungen.
„Ich bin in Moskau gewesen, weißt du. Sie haben mich von einer Schule
zur anderen geschickt. Ich hatte doch keine Eltern mehr; warum sollte
ich an mein altes, armes Dorf denken? Mich verband nichts mehr mit
diesem verstaubten, einsamen Ort.“
„Aber ich! – Ich war doch hier, Iljitsch! Ich habe gewartet!“
„Ja!“, sagte er und schwieg lange.
Dann erzählte er von den Pflegeeltern, die ihn sofort nach dem Krieg aufgenommen und gefördert hatten.
„Ein großer Parteigenosse war das, der viel Einfluss besaß! Konnten
keine eigenen Kinder haben. Sonst hatten sie alles, durften alles,
machten alles, was ihnen gefiel! Und ich deshalb auch! Es waren
verrückte Jahre.“
„Aber wie kamst du nach Moskau? Wer hat dich dahin gebracht?“
„Als unser Lager aufgelöst wurde, war ich krank, sehr krank. Ich hatte
Fieber und Durchfall. Sie haben mich nicht gefragt, wo ich hin wollte.
Einfach in den nächsten Zug nach Osten. Es war ein Sanitätszug, der
nach Moskau fuhr. Viele waren so krank wie ich, manche kränker; sie
starben auf der langen Fahrt. Aber ich hatte Glück, kam ins Lazarett
und wurde gesund gepflegt. Gevatter Tod wollte mich noch nicht.“
„Und dann? Wolltest du nicht in deine Heimat, zurück in unser Dorf?“
„Ja, schon. Aber dann sagten sie mir, dass meine Eltern tot wären und
niemand in Gurka mich kennen würde. Wo sollte ich bleiben?“
„Sie haben mich nicht gefragt! Zu mir hättest du kommen können.“
„Nein, sie haben wohl niemanden gefragt. Der Arzt in dem Lazarett war
gut. Er saß oft bei mir, erfragte meine Geschichte, gab mir Bücher und
sogar Papier, damit ich schreiben konnte.
„Bist ein kluger Junge!“, sagte er – fast an jedem Tag. Eines Tages kam
eine Kommission, die sich mit den ehemaligen Zwangsarbeitern
fotografieren ließ. Ein Mann in Zivil, dem alle mit Respekt und
Hochachtung begegneten, sprach lange mit dem Arzt. Dann kam er zu mir.
Er fragte nicht, sondern ordnete an. ‚Du kommst zu mir, nach deiner
Genesung. Der Arzt weiß Bescheid, er wird dich bringen.’ So kam ich zu
meinen neuen Eltern.“
Sie hatten den willigen Jungen ausbilden lassen, ihn auf die besten
Privat-Schulen geschickt, die nur für die Kinder hoher Funktionäre
offen standen. Der Pflegevater hatte ihn unterstützt, als wäre er sein
richtiger Vater – und ‚Vater’ hatte Iljitsch ihn schon bald genannt,
ohne schlechtes Gewissen und ohne sich anstrengen zu müssen; er hatte
den richtigen Vater ja kaum gekannt.
„Du sprichst nicht mehr unsere Sprache, Iljitsch, weißt du das? Du
redest wie die Leute im Fernseher; so glatt und ohne dass du die Worte
abwägst, die du sprichst. Es ist nicht unsere Sprache, aber ich versteh
dich trotzdem.“
„Es ist die Sprache der Großstädter, die Redeweise der Gebildeten in
unserem Land. Sie bringen es dir hartnäckig bei – und nach einiger Zeit
merkst du nicht, dass du anders sprichst als früher – du denkst auch
anders.“
„Hast du eine Frau gehabt?“
„Äh – eigentlich nicht. Es gab da schon mal dies oder das, wie das so
ist, im Leben eines Mannes in der Großstadt. – Aber nein, es gab
eigentlich keine Frau, die mich begleitet hat – ich war immer alleine.“
„Das war nicht gut für dich, Iljitsch! Ein Mann muss eine Frau haben,
die sich kümmert und es ihm warm macht. Du hättest heiraten sollen!“
„Und du? Was hast du gemacht? Hast du denn geheiratet? – Na also!“
„Das ist etwas anderes, du weißt, was war – oder hast du vergessen? Und außerdem gab es hier keine Männer für mich.“
„Ja, verzeih! Ich hatte es vergessen, liebe Aja!“
„Du hast uns alle vergessen!“
„Nein, nicht vergessen; nur – es war so viel, was mich beschäftigte. –
Doch, ja – ich gebe es zu – ich hatte zu viele Dinge einfach vergessen;
ich lebte in einer anderen Welt – weißt du?“
„Und jetzt hast du dich erinnert? Hast ganz plötzlich gedacht, dass
diese alte Aja vielleicht noch lebt. Schaust mal vorbei, hast du
gedacht, mal sehen, ob sie was Gutes gekocht hat! Gib es zu!“„Nein,
nicht wegen dem Essen“, lachte er. „Letzte Woche bekam ich einen Brief
von der Stadtverwaltung von Smolensk. Sie schrieben von der damaligen
Deportierung nach Deutschland. Man hätte in Deutschland, in einem alten
Einwohnerregister aus der Kriegszeit, die Namen ehemaliger
Zwangsarbeiter gefunden. Viele von denen wären tot. Ob wir noch leben
würden, haben die Deutschen gefragt; und wenn, dann sollten wir nach
Deutschland kommen. Stell dir vor, die haben unsere Namen gefunden – in
Deutschland. Und wir wurden von unserer Verwaltung ausgesucht – wir
beiden!“
„Nicht nur du? Wir beiden – wirklich?“
„Es sei wichtig, dass du und ich diesem Ruf folgen würden, schrieb dazu
unsere Verwaltung. – Für uns und für die Ehre Russlands sei es gut.“
„Was sollen wir in diesem Deutschland tun, Iljitsch?“
„Erzählen, wir sollen erzählen, was sie gemacht haben mit uns – damals!“
„Ich will nichts erzählen! Wem sollte ich was erzählen?“
„Deutschen Schülern sollst du berichten, Aja! Es geht um viel – um Geld
und um das Ansehen unseres Landes. Die Deutschen haben gesammelt, um
uns diese Reise zu ermöglichen. Wir brauchen nichts zu bezahlen. Für
Unterkunft und Verpflegung ist gesorgt. Im Brief steckten sogar die
Fahrkarten für uns. Du kannst doch weg? Nächste Woche? Also noch sieben
Tage hättest du Zeit für die Vorbereitung. Zier dich nicht, Aja, meine
kleine Anschikaija!“
Sie zögerte, sah ihn zweifelnd an und schüttelte den Kopf.
„Warum so schnell? Im Herbst, wenn die Felder kahl sind, wenn ich wenig zu tun habe, ist auch noch Zeit für eine solche Reise!“
„Herbst! Du bist so alt geworden, hast so viel gearbeitet, da wirst du
wohl für einige Zeit hier weg können. Hast du keinen, der dir die
Arbeit abnimmt?“
„Na ja – vielleicht – wenn ich ihm ein Ferkel dafür gebe? Der Petrovitsch, der könnte das schon. Aber ich weiß nicht …“
Sie zögerte, und so erzählte er von den jungen Leuten, die sie eingeladen hatten.
„Sie wollen darum kämpfen, dass wir für all das Unrecht, für die
Schmach, für das Elend und für die Schmerzen endlich entschädigt
werden.“
So hätte es zwar die deutsche Regierung beschlossen, aber die Leute,
für die er und Aja – und alle die anderen Zwangsarbeiter – damals
gearbeitet hatten, die wollten noch nicht bezahlen, die verzögerten es
immer wieder. Darum wollten die Schüler Druck ausüben, ihnen klar
machen, dass sie sofort zahlen müssten, weil die alten Menschen sonst
sterben würden, bevor das Geld da wäre.
„Wie können sie Druck machen? Hört man auf so junge Leute?“
„Sie sagen das, was wohl viele denken, aber nie aussprechen. Sie haben
eine freie Presse und die schreiben, wenn etwas passiert. Also auch,
wenn wir kommen. Das macht Druck! Druck macht, dass darüber berichtet
wird. Ich hoffe, dass man auf sie hören wird.“
Lange saßen sie da, auf der alten Hofbank, bedachten das Gesagte und schauten in die weite, staubige Landschaft.
„Unrecht? Fühlen sie sich plötzlich im Unrecht? Sagen sie, es wäre falsch gewesen?“
„Aber ja, Aja! Sie sagen es und sie werden dafür bezahlen müssen! Glaub es mir! – Nur wann, darum geht es, weißt du?“
„Du und ich – wir zwei alten Besen – wir sollen das machen? Warum ich?“
„Ach, meine dumme Aja! Nein, so nicht! Das machen die da oben – nicht
wir. Aber es braucht Anschub und Aufregung. Das machen junge Menschen –
und dazu wollen sie verstehen, begreifen, unsere Geschichte hören.
Dafür wollen die jungen Menschen sorgen, die das Unrecht begriffen
haben. Sie haben uns eingeladen, um mehr darüber zu erfahren. Sie
wollen unsere Geschichte hören.“
„Ich erzähle meine Geschichte nicht – nie! Es ist meine Geschichte, und
… sie ist nicht gut, Iljitsch! Junge Menschen würden sie nicht
verstehen; nicht meine Geschichte!“
„Doch, doch! Gerade, weil sie nicht gut ist! Gute Geschichten wollen
sie nicht. Deine, meine, – das waren böse Geschichten – und die
brauchen sie bei dem Kampf um Gerechtigkeit!“
„Oh mein Gott! Es wird Kampf geben? Ist es gefährlich, Iljitsch? Ist es
nicht besser, wir warten hier ab, ob sie uns Geld geben wollen?“
„Abwarten? Was willst du warten, Aja? Ach wo! Es ist Frieden; es gibt
keine Feindschaft mehr zwischen Deutschland und Russland! Das ist lange
vorbei, liebe Aja!“
„Mutter hat immer gesagt: ‚Nicht so hastig! Warte, warte – es kommt
schon alles zur rechten Zeit!’ – und sie hat meistens recht gehabt“
„Worauf warten? Auf den Tod? Ja, da kannst du drauf warten, der kommt
ganz bestimmt – aber sonst? Warten will ich nicht mehr, Aja. Wir haben
nicht mehr viele solche Sommer vor uns – und tote Zwangsarbeiter
bekommen keinen einzigen Rubel. – Wozu auch?“
Sie schaute hinüber zu dem großen, schwarzen Auto, das wie ein
schlafendes Tier mitten auf der Dorfstraße stand. Hinter der
spiegelnden Scheibe konnte sie eine Bewegung erkennen.
„Warum hast du so einen großen Wagen, Iljitsch? Ich meine, du bist pensioniert und arm?“
„Ach, das ist nicht mein Wagen; schau ihn doch genau an! Da sitzt einer
drin, der ihn fährt; aber dem gehört er auch nicht, er kommt von der
Regierung in Smolensk, von der Verwaltung. Der gehört er wohl auch
nicht – er gehört eigentlich niemanden.
„Und das soll einer verstehen? Das fährt herum und gehört niemandem?“
„Na ja. Es gehört Mütterchen Russland – und unser Mütterchen lässt
wichtige Leute damit fahren. Die Regierung in Smolensk wünscht, dass
wir beiden Alten unser Mütterchen Russland vertreten sollen in
Deutschland, darum darf ich in diesem Auto fahren. Ich bin für die
Leute in Smolensk eine Berühmtheit; sie haben mir damals auch eine
Wohnung besorgt“, sagte er und zeigte auf die Brust, auf der das
Ordensband schaukelte.
„Das war schon eine tolle Sache! ‚Der berühmte Sohn kehrt in die Heimat zurück!’ sagten sie bei der Begrüßung.“
Anschikaija Pawlowska schüttelte verwirrt den Kopf; es war ihr alles
unheimlich und unbegreiflich. Und so plötzlich sollte sie die gewohnte
Umgebung verlassen?
„Warum ich, mein kleiner Iljitsch? Ich bin doch ein Nichts, nur ein
Staubkorn. – Wie lange müsste ich denn weg von hier? Würde ich dort
Arbeit haben, wo wir hinfahren sollen?“
„Oh, du dumme, dumme Aja! Du verstehst nichts! Du sollst nicht arbeiten
in Deutschland! In einer Woche bist du wieder hier! Und du wirst ein
gutes Stück Geld haben hinterher, viele Rubel, du altes Mütterchen.
Kannst dir was kaufen, etwas, von dem du schon immer geträumt hast.
Hast du dir mal was ganz Besonderes gewünscht?“
„Eigentlich nicht. – Warte! – Oh doch! – Letzte Woche, da hat es durchs
Dach geregnet, und ich habe mir neue Dachschindeln gewünscht – aber das
ist zu viel. Nein, – ich glaube, ich habe keinen Wunsch. Ich habe
alles, was ich brauche. Meine Gänse haben noch nie so viele Eier
gelegt. Ach, Iljitsch! Willst du ein frisch gebratenes Gänseei? Du isst
sie so gerne!““
„Das weißt du noch?“„Hier auf dem Land vergisst man nicht. Alles ist
wie gestern und vorgestern. Morgen wird sein wie heute, weißt du nicht
mehr?“
„Oh, ich weiß! Wenn ich zurück denke, dann muss ich feststellen, ich
habe viel versäumt! Ich liebe diese Stille, diese Ruhe und das Gefühl,
dass es nichts gibt, was wichtig ist. Die Stadt ist laut und unruhig.
Ich möchte manchmal hierher kommen dürfen, mit dir auf dieser alten
Bank sitzen und still sein können. Würdest du mir das erlauben?“
„Ich weiß nicht, Cousin Iljitsch. Was werden die Leute im Dorf denken? Wird man uns was unterstellen?“
„Ach, Aja! Wie alt sind wir? Ich habe die vielen schweren Jahre in den Gliedern stecken; ich bin kein Heißsporn mehr.“
„Du kennst die Leute, Iljitsch. – Aber du wirst Recht haben – was
kümmert´s uns? Komm ruhig mal vorbei – im Sommer, wenn wir draußen
sitzen können, ja?“
„Ja, Aja; aber lassen wir das. Du solltest dir Gedanken machen, was du
mit den Rubeln anfängst, die du bekommen wirst. Nachher nimmt sie dir
einer weg, und du bist arm wie zuvor!“
„Ich bin nicht arm! Mir fehlt nichts! Was denkst du nur, Iljitsch? Warum soll ich denn arm sein?“
„Du bist arm, meine Aja, hast nichts, gar nichts. Wünsch dir was!“
„Ich brauche nichts; meine Schuhe – guck sie dir an – sind wie neu! Ich
pflege sie mit den Schweineschwarten – wie meine Mutter es schon
gemacht hat.
‚Schweinefett auf die Schuhe und auf die Haut – das macht schön und du
siehst reich aus’, sagte sie immer. Das Fett macht das Leder glänzend
und es hält das Wasser ab.“
„Du hast nur dieses eine Paar? Oh mein armes Mütterchen Russland! Was
hast du mit deinen Kindern gemacht? Warte nur ab! Die Wünsche werden
kommen!“
„Jetzt, lieber Iljitsch, hast du aber einen Wunsch frei! Möchtest du einen Tee oder ein Glas Milch?“
„Ein Glas Milch, das wird mich erfrischen – und es geht schnell!“
„Ich hole es dir – und ein Stück Brot dazu.“
„Nein, Aja, kein Brot, nur etwas, um mich zu kühlen.“
Sie verschwand im Haus, und Professor Boronow stand auf, ging die paar Meter zum Auto.
„Es dauert noch, mach dir keine Sorgen. Möchtest du etwas haben? Milch
vielleicht?“, sagte er zum Fahrer, der in einer Zeitung las.
„Nein, nein, Professor, nichts! Ich habe immer meinen eigenen Tee dabei.“
Als er zurück kam, stand Aja schon vor der Bank und hielt ihm ein Glas mit Milch entgegen.
„Ich danke dir, Aja. Setzen wir uns.“ Er trank einen großen Schluck und zeigte auf die Bank.
„Setz dich, Aja. Wir haben noch Zeit.“
„Warum kümmert sich die Regierung, Iljitsch? Ist das wichtig für Russland?“
„Das ist hohe Politik, liebe Aja, weißt du. Ja, es ist wichtig!
Deutschland und Russland sind Freunde geworden; unter Freunden muss man
die Schulden begleichen, sonst gibt´s Streit! Sie haben Fahrkarten für
uns besorgt – die deutschen Schüler – und unsere Landesregierung die
Visa – und sie fährt uns mit diesem schönen Auto zum Bahnhof in
Smolensk.“
„Ich versteh nicht; warum soll ich fahren? Ich bin ein Nichts. Niemand in der Welt kennt mich.“
„Na, ich kenn dich! So ein hohes Tier von der Verwaltung sagte: ‚Wir
haben Sie ausgewählt, weil Sie unser Land gut repräsentieren können,
verehrter Professor!’, und ich habe gnädig genickt“, sagte er mit
tiefer sonorer Stimme und lachte laut.
„Und dann habe ich zu ihnen gesagt: ‚Nur, wenn meine Aja mitfährt,
sonst sucht euch einen anderen für diese schwere Aufgabe!’, und da
haben sie gelacht und genickt. Wir setzen uns in einen Zug und fahren
nach Deutschland. Das ist alles! Sag ja!“
Sie seufzte tief, bedachte sich noch einmal, sah den wiedergefundenen Cousin liebevoll an und stand langsam auf.
„Ich muss viel vorbereiten, Iljitsch, das wird dauern. Du hast es gut!
Du hast keine Schweine, keine Gänse, die auf dich warten, die gefüttert
werden wollen.“
„Das stimmt! In meiner kleinen Wohnung wär das auch nicht angenehm!“,
lachte er. „Du hast ja eine ganze Woche Zeit, Aja! Also hast du ja
gesagt?“
„Wie kann ich absagen, wenn Mütterchen Russland mich braucht? Ich muss
ja wohl fahren, in dieses schreckliche, fremde Land. – Werde ich es
aushalten, Iljitsch?“
„Ja, das wirst du! Nichts und niemand wird dir dort weh tun! Wir fahren
also! Ich werde es berichten, und sie werden nach Deutschland
telefonieren.
„Lass dir Zeit; es eilt doch nicht. Mutter hat immer gesagt: ‚In der
Eile machst du die meisten Fehler.’ Das hat sie immer gesagt, wenn ich
zu schnell die Gänseeier sammeln wollte und ein gutes Stück auf den
Boden fiel.“
„Du und die Ratschläge deiner Mutter! Hör genau zu! In sieben Tagen –
hör zu! In sieben Tagen, also am Montag, sehr, sehr früh, wenn die
Sonne dort hinten aufgeht, dann bin ich mit diesem Auto wieder hier und
hole dich ab. Wir fahren nach Smolensk, steigen in den Zug, und dann
geht´s ab nach Deutschland. Wir fahren fast zwei Tage! Du solltest
Würste, Brot und Tee mitnehmen. Hast du alles verstanden, Aja? Und du
bist fertig, wenn ich komme?“
„Ich werde fertig sein, wenn du kommst, lieber Iljitsch! Ich sorge für dich mit, brauchst nichts einpacken.“
„Das ist gut so; ein Junggeselle tut sich schwer mit so einer Reisevorbereitung.“
„Bleibst du noch, Iljitsch? Ich will dir etwas zum Abend kochen; magst du hier essen?“
„Nein, Aja – ich muss gleich fahren! Der Fahrer wird nicht so lange
Zeit haben. Komm, lass uns einmal zu ‚meinem Haus’ gehen. Steht es
noch?“
„Ach, das alte Boronow-Haus! Ja, es steht noch; aber es sieht jetzt
ganz anders aus. Damals, nach dem Krieg, als keiner mehr zurück kam in
das Haus, da haben sie Arbeiter aus der Kolchose einquartiert. Später,
als die Kolchose aufgelöst wurde, kam eine junge Familie. Sie haben es
schön umgebaut, haben das Dach neu gemacht. Der Mann verdient wohl viel
Geld; er arbeitet in Roslawl, in der großen Molkerei.“
Sie gingen langsam über die staubige Straße. Vor manchen Häusern spielten Kinder; Erwachsenen waren nicht zu sehen.
„Warum lässt sich keiner blicken?“
„Du weißt, lieber Iljitsch, wie die Menschen hier sind. Du bist fremd,
kommst mit einem Regierungsauto, und das ist schließlich Grund genug,
von der Straße fern zu bleiben. Sie wissen ja nicht, aus welchem Grund
du hier bist.“
„Nun, was denn schon? Die Zeiten sind vorbei, Aja!“
„Das sagst du! Sicher sein kann man da wohl nicht, oder?“
Das Haus sah aus wie die meisten in der Straße. Nur das Schulgebäude
war größer; ansonsten sah es aus, als habe derselbe Architekt den Plan
für alle Häuser des Dorfes gemacht.Eine klobige Bank aus weißem
Birkenholz, auf der eine schwarzweiße Katze saß, stand vor einem
niedrigen Fenster; die glänzenden Augen der Katze sahen sie starr an;
die Körperhaltung ließ das Tier fluchtbereit aussehen.
„Müsste ich etwas spüren? Druck in der Brust, vielleicht? Atemlosigkeit? Schwindel oder mindestens leichtes Schwitzen?“
„Na, ich weiß nicht – ich täte schon was fühlen.“
„Ich fühle nichts, Aja! Es ist ein totes Haus für mich! Meine
Erinnerungen liegen da nicht begraben. Sie sind hier“, sagte er und
zeigte auf den Kopf.
„Ich würde fühlen – glaube ich, Iljitsch! Als ich damals – im Juni 1945
– zurückkam, da hat es weh getan, als ich unser Haus sehen konnte.
Meine Füße brannten und schmerzten vom langen Marsch, von Smolensk bis
nach Gurka, aber ich bin gerannt, als ich da hinten aus dem Wald kam
und unser Dach gesehen habe. Ich bin gerannt, bis ich die Hände auf das
sonnenwarme Holz legen konnte. Ich habe geweint vor Glück! Dann war ich
zu Hause, dann war ich wieder da. Und im Haus war jedes Stück – es gab
nicht mehr viele – eine Erinnerung; alles brachte mir die Kindheit
zurück, die ich doch längst verloren hatte.“
Professor Boronow sah seine Cousine lange an. Sie war so anders, als er
sie in Erinnerung hatte. Sie war damals ein kleines, schmales, immer
ruhiges Mädchen gewesen, das er oft genug ausgelacht hatte, wenn es mit
den Hausaufgaben Schwierigkeiten hatte.
„Ach, da fällt mir ein, was ist mit unserer alten Schule?“
„Du kannst sie von hier aus sehen – da unten am Fluss. Sie steht noch,
wie du siehst. Es gibt immer noch den einen Klassenraum für die wenigen
Kinder. Später gehen sie alle nach Roslawl zur Schule. Da fährt täglich
ein alter Schulbus, der sie abholt und bringt. Im Winter kommt er oft
nicht durch, dann gehen sie wieder hier in die Schule.“
Anschikaija sah die weghuschenden Köpfe hinter den Scheiben, als sie zurück gingen; sie winkte ihnen zu und lächelte glücklich.
„Es war eine schöne Zeit heute bei dir – nur so schrecklich kurz“, sagte Professor Boronow.
„Ja, wenn du weg bist, werde ich ein wenig weinen – glaube ich.“
„Ich komme wieder, Aja. Du weißt das – und wir haben noch sehr viel Zeit!“
Sie nickte und sah ihm zu, wie er mühsam einstieg. Das große Auto
wendete auf der holprigen Straße und schlich sich aus dem Dorf. Sie
stand noch lange und sah ihm nach. Sie würde nicht weinen; das
beschloss sie in diesem Augenblick.
Das Auto war kaum hinter der Desnabrücke verschwunden, kamen langsam, bedächtig – wie zufällig – alle Nachbarn aus den Häusern.
Zunächst erschien der Petrovitsch mit seiner Frau Naidenka und den drei
Kindern, dann der Pijotre und seine Frau Helenka, die ihr Jüngstes auf
der Hüfte trug und die fünf anderen Kinder im Schlepptau hatte.
Danach kamen noch etwa zehn andere Frauen und Männer mit einer Anzahl kleinerer und größerer Kinder aus den Häusern hervor.
Alle schlenderten langsam über die Straße, taten so, als seien sie
beschäftigt oder müssten den Bruder oder sonstige Verwandte am anderen
Ende des Dorfes besuchen und erblickten ganz zufällig die alte
Anschikaija, die noch immer vor dem Haus stand.
Da blieben sie natürlich bei ihr stehen, wie es sich gehört, und
wollten mit ihr ein wenig über die bevorstehende Ernte plaudern oder
über den zu warmen Sommer; niemand fragte nach dem geheimnisvollen Auto
und dem unbekannten Besuch.
Jedenfalls gab es einen großen Auflauf, und alle warteten geduldig, ob
die alte Anschikaija von ganz allein über den hohen Besuch berichten
würde, dessen blinkender Orden jedem aufgefallen war.
Und es kam, wie es alle erhofft hatten. Als sie mit prüfendem Blick
festgestellt hatte, dass niemand mehr fehlte – sogar der alte
Dantschenko, der kaum noch gehen konnte, stand mit zittrigen Beinen vor
ihr.
„Setz dich Dantschenko, da auf die Bank. Sie ist noch warm von meinem Besuch. Ich glaube, es könnte länger dauern.“
Sie erzählte schnell, fast hastig; ihre Freude und Aufregung übertrug
sich auf die Zuhörer; sie sprudelte die Neuigkeiten nur so heraus; und
ständig musste sie wiederholen, den Iljitsch und seinen Werdegang
beschreiben; sie schmückte aus; sie entführte die Erwachsenen und die
ungläubig lauschenden Kinder in dieses fremde Land, von dem sie alle
schon viel gehört hatten – Schreckliches und Erstaunliches.
„Setz dich, liebe Anschikaija, deine Beine!“, riet Naidenka und schob sie sanft zur Bank.
Sie erzählte von der Zeit als Zwangsarbeiterin – obwohl alle die
Geschichte schon kannten –, ließ sehr persönliche Erlebnisse aus. Dann
kam sie zu den möglichen Entschädigungen und sie begannen zu raten, wie
viele Rubel sie wohl erwarten konnte. Das regte dann doch alle ziemlich
auf.
„Wirst noch Rubelkönigin von Gurka!“, rief der alte Dantschenko, der
ständig die Hand hinter einem Ohr hatte, um ja nichts zu verpassen.
„Ach du! Mach man bloß keine Späße; es könnte ja wirklich Geld geben
und dann muss alles gut und reichlich bedacht werden. Wir können unsere
Anschikaija dann nicht alleine lassen. Ich werde jedenfalls aufpassen
und sage es euch, wenn sie wieder etwas im Fernsehen bringen; ich habe
schon öfter Berichte über Deutschland gesehen – wie es heute da zugeht
– und über die Entschädigung“, sagte Jaroslaw, der unbestritten den
besten Fernseher besaß.
Er war mächtig stolz auf den neuen Apparat, der den größten Bildschirm hatte, den es im Dorf zu besichtigen gab.
Schließlich holte man sich noch Stühle aus den Häusern, setzte sich in
den Schatten, erzählte, lauschte und diskutierte. Hin und wieder stand
einer auf, besorgte sich ein Glas Milch und war geschwinder wieder da,
als man allgemein glauben sollte.
Die Kinder saßen auf dem Boden, hörten aufmerksam zu, warfen sich mit
kleinen Steinchen und stießen sich schon mal leicht an. Aber ansonsten
waren sie still und regten niemanden auf; sie wollten nicht verjagt
werden, bei dieser spannenden Angelegenheit.
Natürlich gab es viele gute Ratschläge, und als es ganz dunkel war,
verabredete man sich für den nächsten Abend, um sich über das größte
Ereignis, das dem Dorf seit dem Krieg bevorstand, ausführlich zu
beraten.
Man traf sich also an jedem Abend dieser Woche, regelte die Fütterung
der Tiere in Anschikaijas Abwesenheit und versprach feierlich, nach
jedem Regen im Haus nach dem Rechten zu sehen.
„Könnt die Eier der Gänse und Hühner nehmen und gebt sie dem Pijotre
und der Helenka; ihre Kinder brauchen sie am nötigsten. Habt ihr
verstanden?“
Alle fanden es gut und genossen den schönen Abend. Die Frauen tranken
Tee oder Ziegenmilch und die Männer den einen oder anderen Wodka.
Danach schien alles bestens für die bald anstehende Reise vorbereitet
zu sein.