„Ich könnte dem die Schaufel auf den blanken Schädel knallen“, rief Heinz Klump.
„Großmaul“, dachte Klaus und warf die Schaufel auf die Feinkohle.
Seine Arme schmerzten und der Schweiß lief ihm vom Kopf in den Nacken. Er stand in einer Reihe mit mehr als zwanzig etwa gleichaltrigen Jungen, alle mit nackten Oberkörpern, die von der Junisonne gerötet und von Kohlestaub und Schweiß mit langen Streifenmustern versehen waren.
Sie schaufelten bis zur Frühstückspause. Als die Sirene auf dem Dach der Lehrwerkstatt ertönte, hockten sich die Jungen auf das abgestellte Förderband.
„Wie die Spatzen auf der Telefonleitung“, dachte Klaus, als er vom Pinkeln zurück kam und seine Kameraden betrachtete, die ihre Beine baumeln ließen und sich eng aneinander drückten. Ihre gelben Plastikhelme lagen hinter ihnen und die nassen Haare klebten an Stirn und Nacken
„He! Soll ich mal ’n Foto von euch Spatzen machen?“, rief er und suchte mit den Augen nach Paul und einem freien Platz auf dem Band.
„Klappe, du dickes Landei“, rief Franz Bork, der älteste und rüdeste von allen.
Er und sein Freund, Heinz Klump, sagten immer ‚dickes Landei’ zu ihm, und er hatte sich noch nie bemüht, heraus zu finden, warum sie ihn dick nannten.
Er kam zwar, anders als seine Kameraden, wirklich vom Land, fuhr täglich mit dem Bus ins Ruhrgebiet, aber er war spindeldürr und von seinen Armen sagte seine Oma, sie ähnelten Spinnenbeinen. Das konnte ihn schon wütend machen. Wenn sie nackt in der Waschkaue standen und vor den Spiegeln nach Kohleresten auf der Haut suchten, dann konnte es passieren, dass einer rief: „Ha, Kumpels! Guckt mal! Nix zu sehen im Spiegel vom dicken Landei. Mann, bisse dürr!“
Er beneidete seinen Freund Paul, der groß und stark war und oft spielerisch die Muskelstränge an seinen Armen spielen ließ; er verrichtete die schwersten Arbeiten ohne zu stöhnen.
Franz Bork hielt seine feisten Hände hoch, drehte und wendete sie vor den Augen, als sei er kurzsichtig. „Guckt euch dat an. Schwielen und Blasen. Mann, so ein Scheiß!“, rief er und spuckte zuerst in die rechte, dann in die linke Handfläche. „Wenn ick meiner Uschi damit über ’n Po streichele, denkt die, dat wär ’n Reibeisen gewesen. Scheiße!“
Er war, wie fast alle Jungen hier, breitschultrig, stiernackig und hatte stämmige Beine – aber wehleidig „wie ’ne alte Oma“, sagte Paul oft.
Die Arbeit machte allen Jungen zu schaffen – und das lag nicht nur daran, dass sie acht Stunden lang Kohlen schaufeln mussten. Sie wurden mächtig angetrieben; Pausen waren unerwünscht und das Abstützen auf dem Schaufelstiel, oft nur für Sekunden, war das Äußerste, was sie wagten.
Zwei von den drei Jahren der Ausbildung zum Bergknappen verbrachten sie Übertage. Sie hassten diese „Scheißmaloche“, bei der sie wenig lernten. Sie hatten alle Sehnsucht und Verlangen nach „Unten, tausend Meter tiefer“, wo es endlich die richtige und ehrliche „Maloche“ gab.
„Ran anne Kohle, mehr will ick nich“, sagten sie untereinander und fühlten sich bei dieser Übertagearbeit minderwertig.
Neben der handwerklichen Ausbildung in den Lehrwerkstätten, wurden sie zeitweise schon mal mit der Kohle in Berührung gebracht. Drei Monate lang, so sah es der Plan vor, sollten sie die Kohle von der „feinen Seite“ kennen lernen, wie es der ‚Stempel’ grinsend nannte.
„Danach“, so sagte er mit vielversprechendem Lächeln, „danach erst, seid ihr reif für de Ausbildung zum richtigen Bergmann.“
So verschieden sie auch waren, in einem waren sie sich völlig einig: sie hassten diesen Aufpasser, der sie in diesen drei Monaten kontrollierte und drangsalierte. Manchmal vergaßen sie darüber sogar die Last der Arbeit.
Stempel, nannten sie diesen Aufpasser abfällig – aber nur untereinander. Ihr Respekt, mehr eine animalische Angst, ließ sie den Mund halten, wenn er in der Nähe war.
Auf Beinen wie Säulen, aber mächtig krumm, war ein tonnenförmiger Körper aufgesetzt, auf dem halslos ein glänzender, runder Schädel thronte. Mit blassblauen Augen verfolgte er jede Bewegung der Jungen, grunzte unwillig, wenn einer mal dringend pinkeln musste und brüllte sich glattweg heiser, wenn einer schlappt machte.
Es gab kein normales Gespräch mit ihm; die wenigen Worte, die sie hörten, wurden gebellt und gebrüllt: „Los, Schleimscheißer!“, „Schneller, ihr Ratten!“, „Flott, ihr faulen Säcke!“, „Schluss mit Faulenzen, ihr Weichlinge!“

Er war eigentlich kein Ausbilder, hatte hier nur die Aufsicht, weil er für die Halden aus Staubkohlen, ihre Anschüttung und Verladung, zuständig war. Es waren die Reservehalden für die Kokerei, die sich an das Bergwerk anschloss.
Bei jeder Gelegenheit schlenderte der Stempel rüber zu den Ausbildungswerkstätten, die sich neben der letzten Halde befanden. Hier suchte er die Nähe der Meister und Vorarbeiter, schwätzte mit ihnen über die „gute alte Zeit“ und die Jungen an den Werkbänken hörten zu.
Niemand blaffte sie in dieser Zeit an, wenn sie die Feilen ruhen, die Rohrzangen auf die Werkbänke sinken und die Bohrmaschine leer laufen ließen.
Was der Stempel unter der guten Zeit verstand, war allseits bekannt. Seine Vergangenheit, sein Rang bei der Partei, das alles gab Anlass für Getuschel und Gerüchte – aber auch für mehr oder weniger offene Zustimmung. Und immer wieder hörte man ihn von seiner Vergangenheit schwärmen.
„Hatte mächtigen Einfluss. Mann, wat die stramm standen, wenn ick Kommandos gab. Ja, ja. Damals war noch Ordnung! – Wat sachse? – Da konnte unsereiner zulangen, ohne dat so ’n Arsch gleich zum Betriebsrat rannte. Un wat ham wa da zugelangt! Un? Hattet den Jungs geschadet? Nee! Dat war de beste Lehrzeit, die se sich denken konnten!“
Stummes Nicken, widerspruchslose Zustimmung. So war man sicher; man hatte ja selber nichts gesagt. Und so wie der Stempel würde man nie über damals sprechen. Nie!
„Adolf hat ne Menge gute Sachen gemacht, da können se sagen, wat se wollen. Da könnten se sich heut noch ne Scheibe von abschneiden. Der hat sich nix gefallen lassen. Diese Säcke, diese, die allet machen, wat die Amis woll´n, die ham keine Ahnung. Jetzt sind se wieder am heulen, wegen dreißig Jahren, Gedenken und so. Wenn ick die Typen seh, die da ihre Kränze hinlegen. Mann! Dat ganze Kroppzeugs von damals, dat se da inhaftiert hatten, dat läuft heute frei rum. Kuck se dir doch an, diese Schwatten. Diese Weiber mit dem Tuch auf’m Kopp. Und unsere Politiker? Ha! Die kriechen denen doch bloß in den Arsch, diese Armleuchter.“
Wieder wortlose Zustimmung, was ihn noch stärker ermunterte.
„Wat da über de Juden erzählt wird! So ’n Quatsch! Un wenn da wat gewesen is – wat soll dat? War´n doch allet alte Geldsäcke, Halsabschneider, Ausbeuter! Die ham doch Deutschland damals, achtzehn un danach, verschachert. – Gaskammer? Erfindung von Amis. – Ick sachet euch: alet erstunken und gelogen. Ick war schließlich lang genug dabei; ick war anne vorderste Front.“
Dann war andächtige Stille und jeder wusste, es war wieder mal vorbei. Die Jungen an den Werkbänken ließen ihre Eisenfeilen wieder kreischen, drückten die Griffe der Rohrzangen zusammen und stießen die Bohrer auf die Werkstücke herunter.
Die Meister und Vorarbeiter schwiegen, einige nickten, andere sahen zu Boden, als gäbe es da eine Entschuldigung für ihr Schweigen zu entdecken.
Nach dieser Aufklärung grüßte der Stempel und ging wieder raus an die Kohlenstaubfront, zu den Jungen, die „noch wat beigebracht kriegen müssen“. Am nächsten Tag würde es eine weitere Belehrung geben.

„Auf! Ihr Säcke! Habt wohl keine Lust, wa?“
Er stand neben dem Wagon, den sie gerade beluden, hatte sich angeschlichen, wie er es häufiger machte. Mit hochrotem Kopf, leicht vorgebeugt, brüllte er die Jungen an und warf im gleichen Augenblick den Schalter am Sicherungskasten herum. Das Förderband sprang mit einem gequälten Quietschen schlagartig vorwärts.
Das anziehende Band warf sie durcheinander. Einige fielen rechts und links herunter, andere lagen, lang ausgestreckt, teils übereinander, auf dem Transportband, das sie nach oben, zum Waggon schleppte und über die Kante schaufelte. Sie wurden auf die Feinkohle geworfen, die zum Glück schon, kegelförmig gehäuft, den Sturz glimpflich verlaufen ließ.
Klaus hatte den schlechtesten Abgang; er verschluckte sich an seinem Brot, stürzte, das Gesicht voran, vom Band, schlug mit dem Kopf zuerst auf, aber er spürte keinen Schmerz; die weiche Kohle und der gut sitzende Helm hatten den Sturz gebremst. Der Kohlenstaub drang ihm in Mund und Nase; es schmeckte widerlich und er spuckte und würgte.
„Da siehse ma, wofür der Helm da is! Die ham bestimmt an solche Dämlacks wie euch gedacht“, lachte der Stempel.
Sie waren alle glimpflich gestürzt; aber ihre Brote lagen im Dreck, waren nur noch als Spatzenfutter zu gebrauchen. Die Jungen, die das Band auf den Waggon gekippt hatte, krochen mühsam über die Brüstung, kletterten an den rostigen Seitenwänden herunter.
Klaus stand auf, wischte sich den Kohlenstaub vom Mund und sah sich um. Sein Freund Paul stierte auf den Boden, suchte nach seinem Brot. Franz Bork wischte sich wütend den Kohlenstaub aus dem Gesicht. Die anderen klopften Dreck aus den Hosen oder sammelten ihre Brote ein.
„Arschloch!“, schrie Klaus dem Dicken hinterher, der schon wieder auf dem Weg zur Lehrwerkstatt war. Sein Kaffee und das tägliche Geschwätz warteten auf ihn; er hatte seinen Lehrauftrag gerade wieder einmal erfüllt.
„Wat war dat? Wer hat dat gerufen?“
Der schwere Mann drehte sich erstaunlich schnell um und stakste auf sie zu. Die Jungen standen starr und zogen die Köpfe ein. Der Stempel schlürfte an den ersten Jungen vorbei ohne einen Blick auf sie zu werfen, passierte auch Klaus und ging direkt auf Paul zu. Es sah fast so aus, als wolle er ihn umrennen. Unmittelbar vor ihm stoppte er, schob den Schädel aggressiv vor.
„Dat wars du doch sicher, du dreckige alte Judensau, oder?“
Paul wurde blass, und die Kohlenspuren im schweißnassen Gesicht zeichneten sich krass ab. Klaus brauchte nur eine Sekunde. Bevor Paul reagieren konnte, hatte er sich entschlossen.
„Ich hab das gerufen!“
Er sagte es nicht leise oder verlegen; seine Stimme war nicht verklemmt, nicht belegt. Bis zum letzten Jungen an der Halde war sie klar und deutlich zu hören.
Klaus spürte die erschrockenen Bewegungen der Jungen, starrte mit weit aufgerissenen Augen nur den gefürchteten Mann an, der sich auf den Absätzen umdrehte, auf ihn zukam und einen knappen Meter vor ihm stehen blieb.
„Wiederhol dat noch mal!“
„Gerne! Wissen Sie, was Sie sind? Sie sind ein dummes Arschloch, ein großes, wenn sie´s genau wissen wollen. Und es gibt nur zwei Möglichkeiten für sie. Entweder sie entschuldigen sich bei uns, besonders bei Paul, oder ich geh zum Betriebsrat – außerdem zu unserem Ausbilder, dem richtigen. Sie haben Mist gebaut – absichtlich sogar; wir hätten uns die Knochen brechen können. Außerdem haben sie Paul beleidigt!“
Klaus sah, wie die Farbe im Gesicht des Stempels von rot zu gelb, einem wächsernen Farbton, wechselte. Der Mann sah fast krank aus. Er dürfe keine Aufregung mehr haben, sein Blutdruck, sein Herz und überhaupt, erzählte er ständig.
„Die Jahre anner Front und unten im Pütt ham mich kaputt gemacht“, erklärte er oft mit wehleidigem Gesicht, wenn sie sich gegenseitig ihre Wehwehchen aufzählten.
Klaus erschrak über die dumpfe Wut in den zuckenden Augen. Er wusste einfach nicht, hatten keinen Schimmer Ahnung, was jetzt passieren würde.
„Ich werd den Deibel tun und mich entschuldigen! Bei euch grünen Jungs? Du spinnst wohl!“, rief der Stempel und sah sich nach den anderen Jungen um, die wegschauten.
„Sie werden sich entschuldigen!“, sagte Klaus mit mühsam fester Stimme und fühlte, dass seine Beine zitterten.
„Et reicht, du Blödkopp! Bei Adolf würdeste jetzt im Arbeitslager landen, mein Junge!“, gurgelte er und sein kahler Kopf wurde dunkelrot.
„Und sie an der Front!“, blaffte Klaus.
„Halt deine dumme Fresse, du Kappeskopp, du Judenfreund!“
Klaus ging einen kleinen Schritt auf den Mann zu. Er war zwar ein ganzes Stück größer als der Stempel, aber auch deutlich schmaler. Der Mann rührte sich nicht; nur seine Augen ruckelten nervös.
„Sie wollen mich fertig machen?“, fragte Klaus leise, fast vertraulich flüsternd.
Er nahm seinen Helm ab, als wäre ihm heiß, fuhr sich mit dem Ärmel übers Gesicht. Der Stempel legte die Stirn in Falten, als überlege er, was jetzt passieren solle.
Klaus verdrehte die Augen, wankte und fiel der Länge nach in den Kohlenstaub. Das Gesicht presste er in den feinen Staub, hielt die Luft an und schmeckte trotzdem schon wieder die Kohle; seine Augen hielt er fest geschlossen.
Aufgeregte Rufe ertönten von allen Seiten. Er fühlte Hände an Kopf, Schultern und Beinen. Sie drehten ihn, hoben seinen Kopf an. Er spürte Finger, die den Kohlenstaub von den Lippen und den geschlossenen Augen wischten; zittrige Bemühungen um seinen Kragenknopf machten ihn kribbelig.
„Klaus! Wat is? Hörste mich? Is dir schlecht? Soll ich nen Arzt rufen?“, rief Paul.
„Oh, Gott! Der is tot!“, sagte eine weinerliche Jungenstimme.
„Quatsch! Dem is nur schummerich!“, antwortete Franz Bork.
Sie schrieen durcheinander und dann spürte er kräftige Hände unter seinem Körper. Sie hoben ihn an und legten ihn auf das Förderband, das schon wieder stand.
„Ganz ruhig Junge. Dat hab ick nich gewollt. Entschuldige! Mein Gott! Bisse noch da? Mach de Augen auf, los!“
Klaus aber blieb wie tot liegen und dachte nach. „Judensau“ hatte der Stempel zu Paul gesagt. Klaus verstand auf einmal, warum Paul immer wieder von dem Stempel angegangen worden war. Er ahnte, dass der Mann noch immer Hass und Abneigung gegen Fremde oder Juden verspürte.
Aber wieso war Paul ein Jude? Stimmte das überhaupt? Der sah doch völlig normal aus. Wie sahen Juden überhaupt aus? Ihm fielen Bilder ein, die er zu Hause, bei seinen Großeltern, gesehen hatte; Karikaturen, Zeitungsausschnitte, die sie in der Wohnzimmerschublade aufbewahrten. Da besaßen Juden immer lange, spitze Nasen, lächerliche Rastazöpfe, trugen einen bodenlangen schwarzen Kaftan, hatten einen Buckel und einen grausamen, hinterhältigen Blick.
So sah Paul wirklich nicht aus. Dann fiel ihm das mit dem Beschneiden ein; er hatte damals im Religionsunterricht etwas davon gehört und sich geschüttelt vor Entsetzen. Er dachte nach, sah Paul nackt unter der Dusche in der Waschkaue; Paul war nicht beschnitten! Aber egal, er hatte es diesem dicken Fiesling gezeigt.
„Es ist genug!“, dachte er und spürte eine irre Genugtuung.
Langsam öffnete er die Augen und erblickte über sich drei schwarzweiße Jungengesichter und das schwitzige, tomatenrote Gesicht des Stempels.
„Da biste widda! Gott sei Dank!“
„Oh – ist mir schlecht!“
„Der hat ´ne Gehirnerschütterung! Bestimmt!“
Das war die Stimme von Franz Bork und Heinz Klump schrie unterstützend: „Jawohl! Ne´ schwere! Dat kommt sie teuer zu stehn!“
Klaus setzte sich aufrecht und linste umher. Er sah in die feixenden Gesichter der Jungen, die im Rücken des Aufpassers standen; sie hatten sein Schauspiel durchschaut.
Er pendelte leicht mit dem Kopf, fasste ihn stützend mit der Linken; dann musste er noch einmal „Oh!“ sagen.
„Geht´s widda?“, fragte der Stempel besorgt und legte einen hoffnungsvollen Ton in seine Stimme.
„Ein bisschen! Mir ist furchtbar schlecht.“
„Dann hau dich hier hin, auffe weiche Kohle. Brauchs heute nich mehr schippen.“
Er fasste Klaus unter den Achseln, stützte ihn, als er vom Band kletterte und schwankend losging. Dabei flüstere er in sein Ohr: „Zeigst mich nich an? Ja? Versprich’s!“
„Erst, wenn sie sich bei Paul und den anderen entschuldigt haben. Oh, mein Gott! Mir ist so schwindelig!“ Mit fast bewegungslosen Lippen flüsterte er die Forderung in das rot angelaufene Ohr und wankte weiter.
Die Kohle war weich und man konnte ganz gut sitzen. Über ihm schwebte das Gesicht des Mannes, der sich tief über ihn beugte und in seine Agen schaute. Er dachte offenbar krampfhaft nach.
„Tut mir Leid, sach ich ma. Wollt ich nich. Äh – dat mit dem Wort Judensau war Kackscheiß. Wollt ich nich sagen“, grummelte er.
„Lauter!“, stöhnte Klaus.
„Tut mir Leid – ich mein, dat mitte Judensau und allet“, sagte er in Richtung Transportband.
Er beobachtete die erstaunten Gesichter der Jungen. Als keine Reaktion kam, bewegte er sich ruckhaft, drehte sich weg.
Klaus schüttelte den Kopf, konnte nur mühsam seinen Triumph verbergen. Der Dicke ging, sich mehrfach umsehend, unschlüssig zur Werkstatt, um seinen Kaffee zu trinken. Die Jungen warteten, bis er verschwunden war; dann stürzten sich alle auf Klaus, drückten ihn tiefer in den Kohlenstaub, schlugen ihm auf die Schulter, rollten ihn durch die Kohle, lachten und wiederholten ständig: „Sie sind ein dummes Arschloch!“
Dabei stolzierten sie in allerlei Posen an Klaus vorbei; Franz Bork stelzte geckenhaft umher, schrie laut: „Arschloch!“ und warf sich dann erneut ins Getümmel.
Klaus guckte in die begeisterten Gesichter, zwischen denen die von Franz Bork und Heinz Klump hin und her wuselten.
„Selber Arschlöcher!“, dachte er und war nicht sicher, ob er sich freuen oder ärgern sollte. Aber er war doch erleichtert – das auf alle Fälle. Die Begeisterung hielt lange an, was noch in der Waschkaue etliche Wiederholung provozierte.
„Bist ein prima Kumpel, Klaus!“, rief einer und schrubbte ihm den Rücken, was sonst nur Paul gemacht hatte.
„Bist du wirklich Jude?“
„Ja, so´n bisschen!“
„Bisschen? Geht das? Jude ist man oder nicht. Stimmt´s?“

„Dann bin ich eben einer“, sagte Paul mit Trotz in der Stimme.
„Warum bist du dann nicht beschnitten oder wie das heißt?“
„Meine Oma war dagegen. Der Junge wird nicht verstümmelt, soll sie immer gesagt haben.“
Sie rannten über die Brücke, an der Kokerei vorbei. Klaus hatte es immer eilig, seinen Bus zu bekommen und Paul hielt Schritt.
„Was denn jetzt? Bist du oder bist du nicht?“
„Ja, sicher; meine Mutter ist Jüdin – war Jüdin. Mein Vater war kein Jude.“
„Wieso war? Sind sie tot? – Beide?“
„Ja. Sie haben sie damals abgeholt, meine Mutter meine ich. Papa ist einfach mitgegangen; er wollte sie nicht allein lassen, sagt meine Oma. Sie ist noch heute böse darüber.“
„Einfach so ist der mitgegangen? – Warum?“
„Warst du schon mal verliebt?“
„Wieso? Was hat das damit zu tun?“
„Alles. Papa hat meine Mutter geliebt. Sehr sogar. Viel zu viel, sagt Oma. Er wär blind gewesen vor Liebe. Dann, und nur dann, würde man so einen Wahnsinn machen, sagt sie.“
„Mag sie keine Juden?“
„Quatsch! Aber sie hat Papa immer gewarnt. Er sollte sich scheiden lassen, hat sie ihm gesagt. Aber er wollte nicht; das hat sie ihm wohl übel genommen.“
„Und du? Wo bist du dann geblieben?“
„Na, ich war bei Oma und Opa – immer. Mama und Papa haben beide in einer Wäscherei gearbeitet. Deshalb musste Oma auf mich aufpassen; darum war ich nicht da, als sie kamen. War mein Glück, sagt Oma. – Sonst hätten sie mich auch vergast.“
„Quatschkopf! Die haben doch keine Kinder vergast. Du spinnst!“
„Ach nee? Und meine Eltern haben sie auch nicht kaputt gemacht? Das träum ich wohl, he?“
Sie hasteten die Treppe runter, ihre schweren Schuhe dröhnten auf den eisernen Stufen.
„Was weiß denn ich. In der Schule haben wir das besprochen, auch das mit den Konzentrationslagern und den Arbeitslagern. Gut, das war Scheiße. Aber die haben doch keinen umgebracht – keinen einzigen – sagte unser Lehrer damals.“
„Dann hat dieser miese Stempel wohl doch recht? – Ja?“ Paul blieb stehen und hob die Fäuste in Brusthöhe, als wolle er zustoßen. „Soll ich dir mal ein Bild mitbringen? Von meinen Eltern? Wie sie damals aussahen? Weißt du, wie schön meine Mutter war? Wunderschön! Sag noch einmal, dass es nicht stimmt, dass diese Schweine sie vergast haben, dann …“
„Nein, ein! Mein ich doch nicht! Meine Oma hat vor einiger Zeit auch mal so was angedeutet. Aber sie hat gesagt: Wer weiß, ob das alles stimmt. Die Leute reden viel und weil wir den Krieg verloren haben, können sie uns ja alles vorwerfen.“
„Ich weiß aber, dass es stimmt! Warum glaubst du´s nicht?“
„Scheiße! – Wie soll ich das denn wissen? War ich vielleicht dabei?“
„Liest du keine Zeitung? Hörst du keine Nachrichten?“
„Doch, manchmal. Aber ich kann das nicht so richtig … Wie viele sollen sie denn vergast haben? Hunderte? Tausende? Oder ne´ Million?“
Sie liefen wortlos und mit unguten Gefühlen zum Parkplatz. Paul gab ihm, wie immer, beim Abschied die Hand.
„Danke für das Arschloch.“
„Gerne gemacht“, antwortete Klaus und grinste flach.
Sie mochten sich und das für immer, da war er sicher. Paul konnte sogar behaupten, sie hätten fünf Millionen Juden vergast, er würde zu ihm halten. Immer!