Sie wurde wütend. Er könne von Glück sagen, nicht abgeführt zu werden, sie könne auch anders – das könne er gerne haben.
„Stehen Sie auf! Sie sind lächerlich!“, belehrte ihn die Grenzerin und stieß den alten Mann, der immer noch auf den Knien vor ihr lag, mit dem Fuß an.
Das nenne ich den Verlust von Würde. Mir hat es wehgetan, diesen alten, schwachen – aber klugen – Mann hier auf den Knien betteln zu sehen.“
„Er hätte es wissen müssen, dass er was Verbotenes machte. Und außerdem: ein Einzelfall. Sicher hat sie aus einer persönlichen Laune heraus so emotional reagiert. Diese Grenzerin hat sicher etwas übertrieben, aber sie hatte im Grund doch Recht. Unsere Geschichtsschreibung – ich weiß das aus eigener Erfahrung – ist in großen Teilen falsch. Unsere Lehr- und Schulbücher sind bewusst gefälscht – ich sage nur ‚Ver-Bücher’ dazu. Verherrlicht, verhüllt, verschwiegen und versteckt wird da drin. Die Verdienste des Kommunismus bei der Vernichtung der Naziherrschaft – um nur ein Beispiel zu nennen – die werden völlig ignoriert. Hier muss man einschreiten, muss verfälschte Geschichtsschreibung schon an der Grenze gnadenlos zurückgewiesen werden.“
„Sie halten das für Recht? Hat dieser Kommunistenstaat alleine die Wahrheit für sich gepachtet? Und die Menschlichkeit? Die so oft beschworene Menschlichkeit? Halten Sie es auch für menschlich, was hier, an dieser Grenze täglich passiert? Glauben Sie, dass hier der Mensch im Vordergrund steht?“
„Gerade die Menschlichkeit ist es, für die der Sozialismus kämpft. Nur dafür kämpfen wir.“
„Das eben, ist hier nicht so. Sie sagen, ‚wir kämpfen’. Wenn Sie sich dem hier verbunden fühlen, dann müssen Sie ihre Augen öffnen, dann müssen Sie bereit sein für Kritik und Widerspruch.“
Mark sieht den Mann an, dessen Schweißperlen inzwischen den Kragen nässen. Er sieht die flackernden Augen und die fahrigen Hände. Was ist nur mit diesem Mann?
„Haben sie Angst?“
„Ich? Ja – ich glaube, die habe ich. Wegen meiner Bibel, den zwei Geschenkbibeln, meinen Aufzeichnungen. Ich habe inzwischen bei jedem Grenzübergang ein beklemmendes Gefühl – ohne dass ich ein Unrechtsbewusstsein habe. Ich gestehe aber gerne, dass ich meinen Herrgott um Hilfe bitte. Ich fühle mich ausgeliefert, einer imaginären Macht ausgesetzt.“
Er geht rückwärts bis an seine Abteiltür und schiebt sie mit der linken Hand auf.
„Passen Sie gut auf! Hier gibt es was zu lernen – auch für Sie“, sagt er leise, nickt einen wortlosen Abschiedsgruß und verschwindet in seinem Abteil.
Vor der Wagentür wird Bewegung erkennbar, sieht man unscharf Figuren durch das Glas. Mark dreht schnell weg, will in sein Abteil zurück. Dann verharrt er erschrocken, starrt durch die Scheibe auf seinen Platz.
„Die Zeitung! – Scheiße!“, murmelt er. Da liegt sie, die Zeitung mit dem Namen „Bild“.
Sie hat sich völlig entrollt; das Bikinimädchen lächelt ihn aufdringlich an. Neben ihr springt eine Schlagzeile aus dem Blatt; die er bisher nicht zur Kenntnis genommen hat. Dick, fettschwarz und alarmierend verkündet das Blatt: „Erneut ein Verletzter bei Fluchtversuch über die Mauer! Wann hört das auf?“
„Oh, verdammt! Diese saublöde Zeitung! – Aber sie gehört mir doch gar nicht“, denkt er erleichtert und triumphierend.
Er zögert, hält den Türgriff umklammert und zwingt seine Gedanken zur Ruhe. Er kann doch – mit vier Zeugen – jederzeit belegen, dass es nicht seine Zeitung ist, dass sie da einfach gelegen hat – herrenlos sozusagen. Dann fällt ihm ein, dass er sie, schon seit der Abfahrt aus Wolfsburg, gelesen hat.
„Weiß überhaupt einer von denen, dass sie dieser alten Frau gehörte? Was musste die sich auch so eine Zeitung kaufen. – Verdammt!“
Die Wagontür öffnet sich, er erblickt graue Uniformen und schiebt hastig die Abteiltür auf. Sie knallte in die Halterung, schlägt zurück und trifft ihn an der Schulter.
„Entschuldigung“, sagt er heiser, als sein Schuh den Fuß der zurückzuckenden Rosamunde trifft.
„Passen sie doch auf, Sie Tölpel!“, faucht sie und sieht ihn giftig an.
„Die würde nie für mich was aussagen“, denkt er. „Hab Ihren Fuß nicht gesehen, liebe Frau“, entgegnet er achselzuckend, schon wütend, und steigt über die Beine seiner Mitreisenden.
„Sie kommen“, sagt er berechnend, sich zu ihnen drehend, was alle Blicke zur Abteiltür zwingt.
Blitzschnell legt er die Zeitung zusammen, setzt sich auf sie, verdeckt die prallen Brüste und die fettschwarze Schlagzeile mit seinem Hinterteil. Sichernd linst er rechts und links an seinen Oberschenkeln entlang. Am rechten Bein schaut ein Stück raus; ein weißer Rand ist sichtbar, muss schnell untergeschoben werden.
„Und wenn ich aufstehen muss? Wenn, sagen wir mal, mein Gepäck kontrolliert werden soll? Vielleicht machen sie mit allen eine Leibesvisitation? Verflucht, was dann?“
Und dann schämt er sich plötzlich seiner Angst. Was hat er denn gemacht? Er versteht den Sinn der Kontrollen, hat keine Bedenken und unterstützt alle Maßnahmen, die Feinde und ihre Agitation aufdecken könnten. Aber er – er hat doch nichts zu verbergen.
„Karl! Sie kommen! Ich höre sie schon nebenan. Oh mein Gott, was bin ich aufgeregt! Sie auch?“, fragt Rosamunde die gleichgültig ausschauende Odilia.
„Wüsste nicht, warum. Ein gutes Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen.“
„Aha!“, denkt Mark. „Dann habe ich aber ein schlechtes Gewissen – verdammt noch mal!“
Prüfend gleiten die Blicke der Ehepaare über das Gepäck des jeweils anderen Paares; man versucht abzuschätzen, befragt die undurchsichtige Hülle nach Geheimnissen. Rosamunde verzieht angewidert das Gesicht beim Anblick der prächtigen Gepäckstücke.
„Neureiche! Hoffentlich kontrollieren sie die zuerst und räumen sie aus. Gönnen tät ich denen das. – Angeber!“
Fieberhaft sucht Mark nach einer Lösung. Er muss die verfluchte Zeitung loswerden.
„Ob ich sie schnell unters Hemd stecke und zur Toilette gehe?“, denkt er – aber dann fällt ihm ein, dass die Toiletten abgeschlossen wurden.
„Oder ich schiebe sie erst unter meinen Sitz und dann langsam mit dem Fuß unauffällig auf die andere Seite“, denkt er und sieht im selben Augenblick die sichernden, unsteten Blicke seiner Mitreisenden, die ihn immer wieder treffen.
„Das hätte ich längst machen sollen! Jetzt schauen diese Blödmänner genau zu. – Verdammt, was hab ich Muffensausen!“

Sein Adamsapfel hüpft rauf und runter, schon immer ein Zeichen innerer Erregung. Er sitzt in der Falle! Und plötzlich spürt er seine Blase; sie drückt, pocht und meldet ihren Füllstand. Er legt die Beine übereinander, was meistens einen Aufschub garantiert. Dann sieht er aus den Augenwinkeln den entblößten Busen neben seiner Hose und lässt das Bein hastig zurückgleiten.
Stille! Nicht einmal das Atmen wird geräuschvoll betrieben; fünf Menschen warten, als fürchteten sie eine Entdeckung. Marks Blase drückt stärker, das Signal wird dringender. Das passiert ihm immer, wenn er Probleme hat, die sich nicht sofort lösen lassen. Er muss an seine Schulzeit denken. Da gab´s immer Widerspruch, wenn er mit seiner schwachen Blase während der Stunde mal raus wollte.
„Du bleibst hier! Dafür gibt´s die Pausen!“, wurde er regelmäßig belehrt.
Und wenn es dann gar nicht mehr auszuhalten war, war er einfach raus gelaufen, hatte aufatmend und glücklich den nachlassenden Druck gespürt. Das hatte immer eine Strafarbeit gegeben, aber das war nichts gegen das gute Gefühl auf dem Klo, wenn das Wasser endlich raus konnte.
Aber hier kam er wohl nicht mit einer Strafarbeit davon. „Schreiben sie hundert Mal: Ich darf während der Grenzkontrolle nicht aufs Klo gehen!“ Trotz des hässlichen Drucks muss er lächeln, als er sich das vorstellt.
Plötzlich rumort es im Nachbarabteil. – Stille! – Wieder rumort es. – Erneute Stille! – Heftiges Poltern! – Undeutliche Stimmen drücken sich durch die Trennwand. – Dann eine lange Stille!
Heftige Geräusche kommen jetzt aus dem Gang, ein hartes Geräusch wie Hinfallen und Anecken – dann anhaltendes Poltern.
Mark starrt zum Gang, erblickt zuerst einen großen Lederkoffer, an dessen Handgriff ein Arm hängt; die Armbanduhr an dem Handgelenk erkennt er sofort. Das Gesicht des Pfarrers ist grau, die Augen jetzt nicht mehr schlitzförmig, sondern weit aufgerissen; die Lippen bewegen sich wie in stummem Protest. Der Mann wendet den Kopf, sieht Mark an und bewegt wieder den Mund; man hört keinen Ton. Dann schieben ihn kräftige, unbarmherzige Hände vorwärts; das lässt den sperrigen Koffer heftig gegen die Abteiltür schlagen.
„Da hat´s einen erwischt!“, flüstert Rosamunde aufgeregt. „Sie haben ihr Opfer. Vielleicht genügt´s ihnen für heute und sie lassen uns in Ruhe.“
„Das ist kein Opfer, sondern einer, der wohl gegen die hier geltenden Gesetze verstoßen hat“, entfährt es Mark. „Wissen Sie denn, was der im Koffer hatte?“
„Ach nee? Sie sind wohl einer von denen? Hab ich mir doch gleich gedacht, dass Sie von Drüben sind“, verkündet Rosamunde triumphierend, wirft dabei einen bezeichnenden Blick auf Marks Koffer.
„Ruhe! Verdammt! Halt endlich den Mund, du dumme Kuh!“, schnauft Karl aufgeregt.
Sein roter Kopf weist inzwischen eine Unzahl glitzernder Schweißperlen auf, die sich aber immer noch beharrlich weigern, talwärts zu laufen. Rosamunde schließt – nach einem verzweifelten Blick auf Odilia – beleidigt die Augen und zuckt verächtlich mit den Achseln.
Mark ist nicht sonderlich erregt über den Vorfall; er ist wohl der einzige Reisende im Abteil, den diese Aktion fast unberührt lässt. Er hat den Mann schon richtig eingeschätzt – und sie haben ihn entlarvt.
„Ein Pfarrer! Einer, der die Menschen im Osten bekehren möchte und bei jeder Gelegenheit über sie her zieht. Das kurze Gespräch auf dem Gang hat ihn schon enttarnt. Die Sicherheitsmaßnahmen funktionieren perfekt.“
Wieder kommt Bewegung auf, entsteht Unruhe. Zunächst erscheint der Offizier, den er zuvor auf dem Bahnsteig beobachtet hat, zieht am Abteilfenster vorbei – stockend, zerrend, im Rückwärtsgang. An seinem ausgestreckten Arm hängt eine alte, sehr dünne, schon gebrechlich wirkende Frau. Der Offizier hat ihren Kostümkragen fest in seiner Hand, zieht und hebt ihn weit nach oben, bis an den Ansatz des spärlichen Silberhaares.
Ihr Kopftuch ist ins Gesicht gerutscht, gibt den Hinterkopf frei und bedeckt dafür ein Auge; sie sieht dadurch irgendwie lächerlich aus.
Sie geht am Stock – nein, das stimmt nicht: Sie wird gezogen und gezerrt. Krampfhaft versucht sie, sich mit dem Stock abzustützen. An der anderen Hand trägt sie eine Tasche aus braunem Gummi, die bei der stolpernden Vorwärtsbewegung unkontrolliert gegen die Abteiltür poltert.
Mark sieht in das faltige Gesicht, in dem Angst und Unverständnis, aber kein Widerstand, keine Empörung abzulesen ist. Das Gesicht! Plötzlich fällt ihm das Foto ein, das auf seinem Bücherbord steht. Seine Mutter hat es in einem Wutanfall in den Mülleimer geworfen, als ihr letzter Brief ungeöffnet zurückgekommen ist. Er hat es später rausgeholt und sauber gemacht. Er muss zugeben, meistens beachtet er es nicht, schiebt es höchstens mal an die Seite, weil es im Wege steht.
Diese Frau sieht aus wie Großmutter Olga, die auch am Stock geht; sie hat den gleichen Blick, voller Unverständnis – nur bei der Großmutter ist ein grundsätzlicher, vorauslaufender Einspruch, ein Widerstand gegen alles Mögliche ablesbar.
Das Gesicht der Alten ist weißgrau, die Augen huschen ängstlich hin und her. Dann fällt sie ganz plötzlich über ihren Krückstock, verschwindet für einen Moment hinter der Türblende. Der Offizier bückt sich, zieht und zerrt, er schaut, ganz kurz nur, wütend und mit hochrotem Kopf in das Abteil; Zuschauer zu haben, ist ihm sichtlich unangenehm.
Seine Lippen bewegen sich ständig; er stößt wohl heftig Worte heraus, Aufforderungen, Ermahnungen, die sie nur als dumpfes Gegrummel erkennen können.
Endlich steht die alte Frau wieder, wankt, stützt ihre schweißfeuchte Hand an die Scheibe der Abteiltür; dann bückt sie sich, versucht mit einer Hand ihren Stock aufzuheben. Aber da wird sie schon gezogen, verschwindet – sozusagen im Fallen – aus ihrem Blickfeld.
Nur langsam, fast unmerklich, verblasst der Abdruck der unwahrscheinlich kleinen Hand auf dem Glas. Mark spürt eine Übelkeit, wie er sie zuletzt beim Marsch der Neonazis in der Düsseldorfer Altstadt empfunden hat. Da hat er als Zuschauer erkennen müssen, dass es Menschen gibt, für die Rechte und Gesetze nichts anderes sind, als ein Schutzzaun, hinter dem sie ihre persönlichen Freiheiten ausleben und ihre dümmlichen Sprüche grölen können.
„Noch eine Verhaftung! Furchtbar! Schrecklich! Ob das so sein muss?“, fragt Rosamunde sehr leise.
Mark kann den Blick nicht mehr von der Tür wenden, obschon da im Moment nichts zu sehen ist.
„Was sollte das? Ist das noch Recht und Gesetz? Was hat ihnen die alte Frau getan?“, denkt er und ist erstmals nicht kompromisslos einverstanden.

Dann fällt ihm die Großveranstaltung des SDS ein und sein Vortrag über die „Freiheit und Gleichheit“ der Bürgerinnen und Bürger im Sozialismus. Was soll er nur mit der gerade gemachten Erfahrung anfangen? Wie soll er den Vorfall deuten, in die vorgedachte Linie des Vortrags einpassen?
„Wie kann das in meiner Schilderung wirken? Kann ich es, darf ich es überhaupt erwähnen? Wird da nicht Zweifel provoziert? Weglassen, was nicht rein passt?“
„Was nicht passt, lässt man weg“, hat Gerd, der SDS-Vorsitzende gesagt, als er ihm Vorwürfe gemacht hat.
Er hatte die Zerstörung von Autoscheiben bei einer nicht genehmigten Demonstration durch maskierte SDS-Leute im folgenden Meeting nicht einmal erwähnt. Mark hatte ihn empört zur Rede gestellt, hatte Distanzierung, Empörung eingefordert.
Er spürt den Druck der Blase, der jetzt schmerzhaft wird, einen sofortigen Gang zur nächsten Toilette unbedingt erforderlich macht.
Etwas stimmt hier nicht überein mit ihrer Theorie; hier sind die Dinge anders, als er erwartet hat. Er spürt eine kalte Ernüchterung. Noch ist er ratlos, unsicher – er schwankt zwischen Empörung und dem Versuch zu einer Entschuldigung für den Vorfall.
„Vielleicht übersehe ich einfach etwas; vielleicht sind die Dinge komplexer als ich es wissen kann. Und wenn sie es hier genau so machen, wie überall? Wenn sie das Recht nur ausnutzen, es für ihre eigenen Interessen beugen? Wenn sie die Menschlichkeit, den Anstand hintenan stellen? Kann ich dann über eine beispielhafte, selbst erlebte Brüderlichkeit und Menschlichkeit reden?“
Die Abteiltür fliegt auf, der harte Rückschlag wird durch einen Stiefel gebremst, der aus Erfahrung da hingestellt worden ist.
Sie füllt den Türrahmen vollständig aus; ihre massigen Oberschenkel spannen den steingrauen Hosenstoff; sie machen ihn richtig dünn. Die Uniformjacke ist faltenlos, legt sich wie maßgeschneidert über den fülligen Oberkörper. Mark sucht das Gesicht, das zu dieser Uniform gehören muss.
Es ist breit, die Augen werden von der Schirmmütze weitgehend in Schatten gehüllt; sie sind nur undeutlich sichtbar. Aber die wulstigen, ungeschminkten Lippen drängen sich auf, ziehen unweigerlich alle Blicke auf sich.
„Guten Tag. Grenzkontrolle! Ihre Papiere!“, formulieren diese blutleeren Lippen.
Das wirkt wie ein knallender Startschuss. Da fliegen Hände; zittrige Finger nesteln an Handtaschenverschlüssen; behaarte Männerhände sortieren Kalender, Merkzettel, Briefe und Einreisepapiere. Angst wird fühlbar; man kann sie sozusagen riechen, in der stickigen Hitze des Abteils.
„Hättest du früher machen sollen!“, zischelt Rosamunde ihrem Mann aufsässig zu, der in seinen Sachen blättert; sie hält lächelnd als Erste ihre Papiere hin.
„Bitteschön!“, sagt sie dienerisch und legt ihr freundlichstes Lächeln ins Gesicht.
Dann strecken sich nach und nach die anderen Arme in Richtung der Uniform, die keinen Millimeter aus dem Türrahmen tritt. Da wird unterwürfige Bereitschaft fühlbar: „Ist es so in Ordnung, gnädige Frau? Soll ich das Papier entfalten? Darf ich ihnen behilflich sein …“
Die Papiere von Karl, dann die von Odilia ziehen die feisten Hände an sich. Sie spannt sie zu denen von Rosamunde auf ein breites Holzbrett, das als Schreibunterlage dienen muss. Theo hat das Pech, dass sich sein goldener Füller an die Papiere gehakt hat; das erfordert krampfhaftes Nachfassen und eine hastig gemurmelte Entschuldigung.
Nur Mark ist noch im Besitz seines Passes und des Einreisevisums – und das hat seinen Grund. Er beugt sich nach rechts hinüber zur Abteiltür, streckt den Arm weit raus, die Papiere klemmen zwischen den spitz gehaltenen Fingern.
Der freie Arm der Grenzerin wächst ihm entgegen – und dann ist da eine Lücke von – sagen wir mal – grob zwanzig Zentimetern; die Papiere hängen schlaff vor dem Gesicht von Odilia.
Mark hat mehr als Sorgen; eine kleine Panik befällt ihn und seine Blase bringt sich mit einer heftigen Attacke in Erinnerung. Blitzschnell, während die Grenzerin noch beschäftigt ist, denkt er über seine Möglichkeiten nach, aber die sind mehr als gering.
Er könnte die Papiere fallen lassen und hoffen, dass sie von seinem Nachbarn aufgehoben werden. Und wenn nicht? Dann muss er aufstehen!
„Dann liegt der Busen blank“, denkt er sarkastisch und sieht das wogende Oberteil des Mädchens vor seinen geistigen Augen.
„Und die verfluchte Schlagzeile muss der Uniformierten quasi ins Gesicht springen. – Verdammter Mist!“
Da packt Theo mit einem, „Darf ich?“, seine Papiere, zieht sie ihm aus den Fingern und reicht sie mit einem devoten „Bitte!“ an die Uniform weiter.
Jetzt können sich alle zurücklegen, können gelassen oder höchstens mit unterdrückter Spannung, die Prüfung der Papiere abwarten. Da ist keine Überraschung zu erwarten, kein bellendes Nachfragen möglich; die Papiere sind von DDR-Behörden ordentlich ausgestellt worden – nach sozusagen akribischen, misstrauischen und abwägenden Prüfungen.
Strenge Blicke vergleichen ihre Köpfe mit den gestempelten Fotos; eine gerunzelte Stirn zeugt von kritischem Nachdenken und Prüfen.
„Ich habe ein scheußliches Foto in meinem Pass. Niemand kann mich da erkennen. Wenn ich so in Wirklichkeit aussehen würde – ich müsste mich glatt erschießen“, plaudert Odilia gerne, wenn die Sprache auf die Qualität ihres Passfotos kommt.
„Frauen sehen auf Bildern immer schlechter aus, als sie wirklich sind! – Modells und Schauspielerinnen ausgenommen“, pflegt ihr Mann sie dann zu trösten.
Aber sie wird wohl doch einwandfrei erkannt. Stempel knallen auf die Papiere, die auf der festen Unterlage hochgeklappt werden. Nochmals ein Blick in gespannte Gesichter, dann kritzelt die feiste Hand der Grenzerin etwas auf die Genehmigungen zur Einreise in die Republik, bestätigt mit ihrer Unterschrift die Echtheit des Vorganges. Aufatmen ist nun zu vernehmen, nochmaliges Entspannen fast hörbar.
Die Grenztruppenfrau blickt in die Papiere, dann noch einmal in die Gesichter. Ohne einen Gesichtsmuskel zu bewegen, reicht sie die Unterlagen an die richtigen Besitzer.
„Vergessen sie nicht, sich umgehend bei der zuständigen Volkspolizei zu melden.“
„Nein, nein! Ist klar“, sagt Theo erleichtert und stellvertretend für alle anderen.
„Haben sie etwas zu verzollen? Befinden sich in ihrem Gepäck Bücher, Zeitschriften, Zeitungen? Haben sie Wertgegenstände, Devisen – über die genehmigte Höchstgrenze hinaus – bei sich? Haben sie Tonträger? Schallplatten oder Tonbänder?“
Fünf Köpfe bewegen sich von links nach rechts, fast synchron, und geben damit ihr „Nein!“ wortlos weiter.
„Nichts?“, fragen die dicken Lippen über der steingrauen Uniform zweifelnd; es ist die letzte Chance zur freiwilligen Offenbarung.
Wieder das Kopfschütteln. Spätestens jetzt hätte die Grenzkontrolle sagen können: „Gute Reise!“. Oder wenigstens wortlos die Abteiltür hinter sich schließen müssen.
Aber stattdessen fliegt ihr Blick forschend über die Gepäckablage. Jetzt kramt sie ihre Erfahrungen aus jahrelangem Dienst hervor. Da drängen sich ihr wohl Erinnerungen an bittere Niederlagen bei einwandfreiem Gepäck auf, aber auch triumphale Erfolge bei kleinen und großen Sündern purzeln ihr aus dem Dienstgedächtnis.
Die kundig suchenden Blicke gleiten über die billigen braunen, heften sich an die prächtigen schwarzen und verharren dann – bei atemloser Stille – lange auf dem schäbigen, kleinkarierten Presspappekoffer von Mark.
„Wem gehört dieser Koffer?“, sagt sie mit schnarrender Stimme und ihr Arm weist zweifelsfrei auf den kleinen Koffer – direkt unter dem Dach.
„Mir“, quetscht Mark heraus.
„Aufmachen!“
Fast hätte Mark die übliche Quizfrage gestellt: „Wie heißt das Zauberwort mit fünf Buchstaben?“, die er immer seinen Kommilitoninnen zur Aufgabe macht, wenn die mal wieder das Wort „Bitte!“ vergessen haben.
Stattdessen sagt er: „Meinen sie meinen Koffer?“, was genau so wirksam ist wie seine Fragen an die Mädchen, die ihn dann immer auslachen und „Flott!“ rufen.
„Aufmachen – habe ich gesagt!“, bellt die befehlsgewohnte Stimme. Da erblickt er erstmals die zwei Orden auf der mächtigen, durch heftigen Atem bewegten, Brust.
„Ich soll nach meiner Reise einen Vortrag über die Errungenschaften der Menschen im ersten sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat halten – vor der Jugend des SDS!“
„Aha! Und was hat das mit ihrem Koffer zu tun?“
„Nichts. Ich wollte es nur mal sagen.“
„Haben sie ja jetzt getan. – Aufmachen!“
Jetzt muss er aber aufstehen, muss den Hintern heben und den prächtigen Busen, mitsamt der nebenstehenden Schlagzeile, den harten Blicken preisgeben.
Er schiebt zwar die Zeitung synchron mit der Aufstehbewegung an den Rand des Sitzes, aber das ist eigentlich zwecklos, nur ein letzter, verzweifelter Versuch. Als er endlich steht, schaut das Bikinimädchen mit ihrem naiven Lächeln die erstaunten Betrachter an.
„Ach! Gucke mal da! Vortrag beim SDS, ja? Über Bikinis? Über den Versuch, illegal Kampfblätter der imperialistischen, kapitalistischen Springerpresse in unser Land zu schmuggeln?“
Er bekommt keine Luft mehr, würgt und presst, um die notwendigen, einleuchtenden Gegenargumente aufzuzählen. Er fühlt fünf – nein, sieben – Augenpaare auf sich gerichtet. Hinter den Scheiben, neben der rahmenfüllenden Frau, gaffen zwei uniformierte Männer ins Abteil.
Endlich ist seine Stimme frei. „Das ist nicht meine Zeitung! Die – die lag hier“, sagt er flach und zeigt auf den freien Platz.
„Und dann ist das feine Blatt unter ihren Hintern gekrochen? Unbemerkt, sozusagen? Wollte wohl ihren Hintern abwischen, was?“, fragt sie mit vulgärem, rauem Lachen
„Nein, das nicht, ich hab sie nur aufgehoben. – Und dann bin ich auf dem Gang gewesen. – Und dann lag sie einfach da. – Und dann habe ich mich drauf gesetzt.“
Nur diese hilflose Aufzählung fällt ihm ein; wie ein unreifes Kind stammelt er seine Erklärungsversuche. Er wird tiefrot, als ihm einfällt, dass er schon einmal, unter den strengen Blicken seines Vaters nach einer ähnlichen Erklärung gesucht hat. Eine Begründung für den Zerfall des Lieblingsbuches seines Vaters, „Gedichte von Heinrich Heine“, in eine Loseblattsammlung, war damals von ihm gefordert worden. Da war ihm auch nichts Vernünftiges eingefallen. Er war damals gerade fünf – und die Prügel für die mangelhafte Erklärung hatte er nie vergessen können. Immer, wenn er von Heinrich Heine gehört hatte, in der Schule und an der Uni, hatte ihm der Hintern wehgetan. Genau so klein, so schäbig, so hilflos fühlt er sich jetzt. Er spürt die Tränen nicht, die seinen Blick wässerig machen.
„Her damit!“, befiehlt die Stimme; um ein Haar hätte er „Ja, Papa!“ gesagt.
Fast blind tastet er nach dem Blatt, reicht es mit einem Ausfallschritt der Frau im Türrahmen entgegen. Sie fasst sie mit den Fingerspitzen, macht ein angeekeltes Gesicht und gibt sie einem der noch immer starr guckenden Männer hinter ihrem Rücken.
„Koffer aufmachen!“
Er zerrt den Koffer runter auf den Sitz, fummelt an den Schlössern, die sich aber beharrlich weigern. Dann fällt es ihm endlich ein.
„Abgeschlossen! Moment!“
Er ist wie blockiert, weiß nicht mehr, wo er seine Schlüssel hat. In der linken Hosentasche findet er schließlich seinen Schlüsselbund, dreht und schraubt den Schlüssel-Winzling in die simplen Schlösser. Es klackt hörbar. Mit zittrigen Fingern öffnet er die klemmenden Schnappschlösser, legt endlich den Deckel hoch und starrt auf sein Gepäck.
„Zur Seite!“
Jetzt kommt sie ins Abteil, steigt ohne Rücksicht über die quer liegenden Beine, füllt den ganzen freien Platz aus, greift mit der rechten Hand in den Koffer.
„Nur Kleidung – und Wäsche“, sagt er flach. Er ist sich da sehr sicher. Sonst ist doch nichts drin – oder? Ihre Hände wühlen sich in die Wäsche, zögern, tasten und kommen dann blitzschnell zum Vorschein.
„Und das hier?“
Sie hält einen Bilderrahmen in der Hand, nicht einfach einen Rahmen: Das schwere, in filigraner Handarbeit verarbeitete Silber mit verschnörkelten Ecken, lässt alle Reisenden die Hälse recken. Dieser Rahmen macht jedes Bild, das darin Platz nehmen darf, zu einer Kostbarkeit.
„Reines Silber! – Eine kostbare Handarbeit“, erkennt Odilia und nickt anerkennend.
Der Blick der Kontrolleurin wandert zwischen Mark und dem schweren Rahmen hin und her. Sie wartet wohl auf eine schnelle Erklärung, eine Entschuldigung für das Verschweigen dieser Kostbarkeit. Mark fällt nicht viel ein, daran hat er nicht mehr gedacht – einfach vergessen hat er das Bild.
„Oh, verflucht! Den hab ich einfach vergessen“, murmelt er und wird rot.
Er weiß noch, wie das Bild entstanden ist. Damals – in diesem letzten glücklichen Sommer. Es war wirklich eine herrliche Zeit gewesen. Papa war noch da, hatte noch Spaß gehabt an seiner Familie.
Sie hatten einen Ausflug gemacht in die Eifel; Papa hatte mit Mark auf der sonnenwarmen Wiese getobt. Mama hatte sich faul gesonnt und war dann eingeschlafen. Erhitzt von der Sonne und vom Ballspiel, hatten sie am Nachmittag im Biergarten am Tisch gesessen. Mama und Papa hatten ein Weizenbier vor sich stehen und er eine riesige Limo. Sie hatten alle in die Kamera gelacht, die eine Frau am Nebentisch willig auf sie gerichtet hatte.
Das eingefangene Lachen von Mama und Papa war spontan in ihre Gesichter gesprungen, als die Tischnachbarin „Kuckuck!“ gerufen hatte. Heute will Mama das Bild nicht mehr sehen.
„Nimm´s ihr mit. Schenk es ihr und sag ihr, wir wären glücklich! Vielleicht ärgert sie sich dann wenigstens.“
Es soll Großmutter also zeigen, wie ihre Familie heute lebt; gemeinsam, verliebt, leicht und fröhlich sollen sie aussehen. Mark war´s recht; vielleicht, so hat er gedacht, stirbt sie dann ohne Gram.
„Das ist ein Wertgegenstand aus Silber! War sicher nicht ganz billig. Haben Sie nicht vorhin “Nein!” gesagt, auf meine Frage nach Wertgegenständen? Wollten Sie also schmuggeln – vielleicht, um damit Geschäfte zu machen?“
„Das – das da, das ist doch nur ein Bilderrahmen für meine Großmutter; kein Wertgegenstand – also bitte! Lassen Sie uns doch vernünftig reden. Ich stehe voll und ganz hinter dem Sozialismus der Deutschen Demokratischen Republik; ich verteidige alle ihre Kontrollen gegen Spione, Devisenschmuggler und andere Imperialisten; aber das hier, das ist unser Familieneigentum. Nicht mehr!“
Sie hat sich bei seiner Antwort hoch aufgerichtet, sieht ihn lange an. Totenstille, atemlose Stille herrscht im Abteil. An der Scheibe sieselt, kreist und summt eine widerlich dicke Westfliege, versucht ins Freie zu kommen. Dann gibt sie auf, stößt sich kraftvoll ab und schießt quer durchs Abteil. Sie trifft die Grenzerin im Nacken, direkt unter dem Rand der Schirmmütze.
Mit einer hastigen Handbewegung versucht sie die unverschämte Fliege zu packen, aber die ist schon, leicht beduselt vom Aufprall, in den Flur getrudelt. Die Grenzkontrolleurin sieht Mark ins Gesicht, der wegen der Fliege fast eine Entschuldigung gemurmelt hätte.
Jetzt kann er ihre Augen sehen; sie sind steingrau, wie die Uniform – und kalt, wie gefrorener Stein. Dann zieht ein Lächeln um ihre Mundwinkel. Er hofft sofort, deutet ihr Lächeln so, wie er es sich wünscht. Dann endlich spricht sie: „So, so! Der feine Herr aus dem Westen ist ein Hobbysozialist. Ein Westentaschenkommunist. Leicht zu verstecken, bei Bedarf rauszuholen? Nicht wahr? Aber sonst lebt es sich gut im kapitalistischen Westen? Und der gibt einer, die mit dem Verdienstorden von unserem großen Ministerpräsidenten persönlich ausgezeichnet wurde, einer Kämpferin für den Frieden, einen Rat: ‚Lassen sie uns doch vernünftig reden!’ So sagten Sie doch, oder?“
„So hab ich das nicht gemeint. Bitte! Ich wollte Ihnen keinen Rat geben, nur eine Bitte war´s, nur eine kleine Bitte.“
Er wird wieder Kind, ist gerade aus dem Kidergarten gekommen, sieht seine weinende Mutter mit ihren zittrigen Händen am Spülbecken stehen.
„Bitte Papa, bleib bei uns. Geh nicht! Bitte, wir brauchen dich doch. Bitte! Bitte!“
Er hat geweint, sich an Papas Hosenbeine gehängt, hat gebettelt, gefleht – und lauter unsinniges Zeug versprochen. Und als er doch ging, hatten Mama und er stundenlang geweint. Später dann, nach einer langen Zeit, hatte er sich geschämt, sich für seine Unterwerfung gehasst. Für einen solchen Blödmann hatte er geweint. Pah! Das, hatte er sich geschworen, würde ihm nie mehr passieren.
Und jetzt ist er wieder so klein, so erbärmlich, bettelt und bittet um Gnade und Verzeihung.
„Hier verliert man seine Würde!“
Er richtet sich hoch auf. Es ist genug! Er ist gebeugt worden, aber nicht tief genug; er kann noch hochkommen. In ihren Augen sieht er ein Flackern, als er den Zeigefinger auf sie richtet. Den Kopf, wie er es schon als Kind gemacht hatte, kämpferisch vorgebeugt, blickt er die Frau mit dem Vaterlandsorden an.
„Gut! Sie wollen diesen Silberrahmen haben, Sie wollen ihn beschlagnahmen. Tun Sie es! Meine Großmutter liegt im Sterben und ich werde sie noch vor ihrem Tod sehen. Ich werde sprechen, ich werde erzählen, von dem herrlichen Leben in Freiheit – da drüben, im Westen. Dazu brauche ich kein Foto. Oma – ich meine Großmutter – kann den Rahmen nicht mitnehmen, wenn sie weggeht. Behalten Sie ihn einfach. Ich beschreibe ihr dieses Bild so, dass sie es vor ihren alten Augen sieht. Und ich werde berichten von der oft widerlichen Politik bei uns, die man nicht mittragen kann; die man aber bekämpfen darf – und kann. Und ich werde ihr sagen, dass bei uns niemand einen harmlosen Bilderrahmen beschlagnahmt, in dem für eine sterbende Frau ein Bild ihrer Familie steckt. Niemand! Nie, niemand!“, schreit er.
Sein Adamsapfel rutscht rauf und runter; seine Blase hat vor Schreck ihre Bemühungen aufgegeben.
Rosamunde schlägt entsetzt die Hände vors Gesicht; Karl sieht ihn fassungslos an; Odilia lächelt zum ersten Mal in diesem Abteil und Theo knetet verlegen seine Hände.
„Machen Sie mit mir, was Sie wollen“, sagt er dann noch, jetzt wieder leise und fast unverständlich.
Die Grenzerin sieht ihn an und ihr Blick ist nicht mehr eiskalt; er flackert und wackelt. Sie muss nachdenken, eine Entscheidung gedanklich vorbereiten.
Es dauert – vielleicht ist dies eine neue Erfahrung, die sie gerade gemacht hat. Widerspruch, ernsthaften Widerspruch hat sie in ihrem Dienst wohl nur selten erlebt. Demut, dienerisches Ducken, verquältes Zustimmen – das kennt sie, das ist Alltag. Sie ist fix, erfahren in allen Situationen, bestens geschult; sie findet schnell einen Ausweg.
„Wir sind nicht herzlos, junger Mann. Hätten sie sofort gesagt, wofür sie den Rahmen verwenden wollen, hätten sie sich nicht so erregen brauchen. Sie hätten ihn nur deklarieren müssen – unaufgefordert! Und merken sie sich für die Zukunft eins: Sie haben den Anordnungen der Grenztruppen unaufgefordert, in jedem Fall aber nach Aufforderung zu gehorchen. Wenn sie noch einmal in unseren Staat einreisen, dann halten sie sich daran.“
Sie hat die Kurve gekriegt; sie hat ihm die Schuld gegeben; sie hat ihn belehrt und konnte doch großzügig sein. Wortlos drückt sie ihm das Bild in die Hand, quetscht sich an ihm vorbei und geht grußlos raus.
Als die Tür sich geschlossen hat, steht Mark immer noch starr da. Er blickt raus, durch die schmutzigen Scheiben. Alles sieht grau und schmuddelig aus; aus dem heißen Sommertag ist ein bleischwerer, den Atem raubender Albtraumtag geworden.
„Ich habe meine Würde verloren; ich habe mich von dieser Hyäne demütigen lassen.“
„Quatsch, junger Mann! Ihren Mut möchte ich meinem Mann manchmal wünschen“, sagt Odilia und da erst wird ihm bewusst, dass er laut gesprochen hat.
Er wird schon wieder rot und sieht sich gehetzt um; dann packt er das Bild zwischen die Wäsche und verschließt den Koffer. Gerade, als er ihn hoch wuchtet, rumst es mächtig. Er schwankt und balanciert den Koffer über dem Kopf.
„Das war die Dampflok! Die ist beim Ankoppeln angestoßen; nicht mal das können die“, sagt Karl. „Die haben hier ja nur alte Dampflokomotiven. Na, ja! Jetzt geht´s gleich los. Gott sei Dank, möchte man sagen, nach diesem Schauspiel.“

„Halt deine verdammte Klappe!“, sagt Rosamunde heftig und schenkt Mark ein herzliches Lächeln.
„Jedenfalls hat uns das eine Durchsuchung unserer Koffer erspart. Wenn ich daran denke, was das gegeben hätte. Mein lieber Mann!“, sagt Theo und ist sichtlich erleichtert.
Und jetzt können die Frauen sich endlich unterhalten; sie finden Beispiele aus vergangenen Reisen. Sie müssen aufzählen, erlebte Beanstandungen ausschmücken und immer wieder einleiten mit Worten wie: „Stellen sie sich mal vor …“ „Ich weiß noch, wie wir damals …“ „Der Gipfel aber, das können sie mir glauben, das war, als wir …“
Die Männer aber finden Zeit und Gelegenheit – „Ist ja noch ein Stück bis Leipzig!“ – über ihre Kriegserlebnisse zu sprechen und das eben Erlebte da einzubinden.
Da darf ein Vergleich der NVA mit der Bundeswehr und der „selbst erlebten Wehrmacht“ nicht fehlen.
„Das war´n noch Zeiten, sag ich ihnen! Davon haben die heute keine Ahnung mehr.“
Mark sitzt am Fenster und blickt starr in die vorbei gleitende Gegend; die Stimmen in seinem Rücken rauschen und plätschern über seinen Kopf hinweg. Eine lange nicht mehr erlebte Traurigkeit lähmt ihn. Er alleine weiß, dass er keinen Mut gezeigt hat.
„War doch nur ein Verzweiflungsausbruch. Gerade so wie ein Mann, der aus dem zweiten Stockwerk des brennenden Hauses springt, wenn er keinen Ausweg mehr sieht. Den würde auch kein Mut dazu bringen, nur eine gedankenlose Wut und Verzweiflung“.
Er hat plötzlich Angst, fürchtet, dass Großmutter Olga schon gestorben sein könnte, wenn er sie findet.
„Tu das nicht, Oma! Ich hab dir viel zu erzählen!“, denkt er und spürt den heftigen Ruck kaum, mit dem der Zug die Richtung wechselt. Am Abteilfenster fegt graubrauner Qualm vorbei, verdeckt für Sekunden die Sicht auf die blendend gelben Rapsfelder, die sich bis zum Horizont dehnen.
„Und ich werde erzählen! Diesen Romantikern werde ich einen spannenden Abend bieten. Ich werde ihnen schildern, was die Grenze ist, was ein Grenzübergang wirklich bedeutet. Die Bilder will ich ihnen so malen, dass sie es begreifen. Und ein besonderes Kapitel werde ich dem Thema Würde widmen; der Würde, die man sich in jedem Fall erhalten sollte. Ich will nichts weglassen, auch das nicht, was nicht ins schöne Bild passt.“
Er schließt die Augen, spürt das Rattern unter sich und fühlt sich nicht mehr ganz so schlecht. Seine Blase hat sich beruhigt; der elende Druck ist einfach weg.