Babybell bekommt ein Fohlen

Ganz weit hinten, ungefähr da, wo die Wiese den Himmel berührte, bekamen die grauen Nachtwolken rosa Spitzen. Die Luft war kühl und ein leichter Wind streichelte Antonias Gesicht.

Im Haus machte Max leise „Wuff" und etwas drängender noch einmal „Wuff!". Das war seine Sprache, mit der er sagte: „He! Wollt ihr mich wohl mal nach draußen lassen? Oder habt ihr mich etwa vergessen?"

Antonia überlegte, ob sie ihn raus lassen sollte. Max gehörte zwar Annalisa, aber die schlief schon und sie passte auf den kleinen Hund genau so auf, als wenn es ihrer wäre.

„Lieber nicht. Der Max macht nur Lärm und ärgert Babybell", dachte sie.

Max war nicht irgendein Hund. Oh nein! Er war ein ‚Senfhund'. So stand es in seinen Papieren und das hieß nichts anderes, als dass viele Hundesorten im Laufe der Zeit dazu beigetragen hatten, dass er so aussah wie er eben aussah - ein schwarzer, strubbeliger, wuscheliger Blitz mit weißen und spitzen Zähnen. Von einem seiner Vorfahren hatte er außerdem die weiße Schwanzspitze und die weißgraue Brust geerbt.

Überhaupt hatte er wohl von jedem seiner Vorfahren etwas Besonderes mitbekommen: Sein hübsches, spitzbübisches Aussehen - und seine Flegelhaftigkeit; seine Wildheit, die kräftige Stimme, die klugen Augen - und er hörte nur, was er wollte. Und das war meistens etwas gaaaanz anderes, als das, was Annalisa und die anderen eigentlich von ihm wollten.

Also, er war zwar Annalisas Hund, aber das wussten nur die Menschen, die um ihn herum lebten. Er selber hatte da eine ganz andere Sicht der Dinge, was Zugehörigkeit und Hierarchie anging.

Er liebte alle Familienmitglieder - einschließlich Oma und Opa -, besonders allerdings die Mädchen Annalisa und Antonia.

Mit Antonia ging er allerdings so um, wie es ihm passte. Er warf sie schon mal um, wenn er sehr begeistert war oder sie stürmisch begrüßte.

Er leckte alles ab, was er gerade in die Schnauze bekam - am liebsten Finger und Nasen - und erhielt dafür schon mal einen kräftigen Knuff von Antonia.

Besonders liebte er allerdings das Kauen von Pantoffeln, Sandalen und Schuhen; was nur den Schuhhändler im Dorf erfreute.

 

Der alte Bauernhof, auf dem sie lebten, lag ganz einsam, ein ordentliches Stück weg von Pletschbachdorf, dem kleinen Ort, in dem Antonia in den Kindergarten und Annalisa und David, ihre Geschwister, in die Schule gingen.

Pletschbachdorf hieß der Ort, weil es da einen kleinen Bach gab, der genau so hieß. Aber das kann sich jeder denken, wenn er den Namen hört. Warum der kleine, eilige Bach so genannt wurde? Das allerdings wusste keiner, nicht einmal der Pfarrer - und das will schon was heißen.

Antonia allerdings wusste es genau: „Weil er so schön plätschert. Bäh! Ihr seid doof."

„Dann", sagte Annalisa, würde es ja „'Plätschbach' heißen müssen. Du bist doof."

 

David und Annalisa lagen in ihren Betten und schliefen fest. Sie hatten zwar genörgelt und immer wieder gebettelt, weil sei bei diesem Ereignis dabei sein wollten, dem „schönsten außer Weihnachten", wie es Antonia nannte.

„Das ist doch cool, Mama", hatte David gesagt. „Keiner in meiner Klasse hat so was schon mal gesehen."

Annalisa hatte ergänzt: „Echt, Mama! Wir müssen dabei sein."

Aber Dagmar, ihre Mutter, hatte sie ins Bett geschickt. „Ihr müsst morgen in die Schule und dort fit sein. Antonia kann im Kindergarten fehlen, aber ihr müsst in die Schule."

Antonia hatte ein paar Minuten draußen vor dem Pferdestall gestanden, um etwas frische Luft zu schnappen. - Und sie hatte zusehen wollen, wie die Sonne aufging. Aber der Himmel wurde nur langsam heller. Einzelne Wolken hatten sich aber schon rot gefärbt und die kleine Mondsichel wurde blass.

Noch nie hatte sie gesehen, wie die Sonne aus der Nacht den Tag machte.

„Malt die Sonne den Himmel blau? Und macht sie das Wasser so hell? Löscht sie die Sterne und den Mond aus?"

Das und noch tausend andere Fragen quälten sie.

Ganz langsam, hatte ihre Mama gesagt, würde die Sonne da hinten, wo die Berge zu sehen waren, über den Rand kriechen.

„Sie ist blass, gar nicht so stark und blendend, wie am Tage. Sie schaut erst einmal nach, ob auch alles noch so ist wie am Abend vorher, als sie verschwunden ist. Erst dann schaltet sie ihr ganz helles Licht ein."

„Wo bleibt die Sonne in der Nacht?", hatte Antonia gefragt. „Versteckt sie sich in der Erde? Oder im Meer? - Oder vielleicht im Pletschbach?"

„Oh, nein! Wenn sie nicht bei uns zu sehen ist, wärmt sie die Menschen auf der anderen Seite unserer riesigen Erdkugel - also zum Beispiel die Menschen in Afrika oder Australien. Unsere Erde ist nämlich rund wie eine Apfelsine - nur größer."

„Hängen wir auch an einem Baum? So wie die Apfelsinen?"

„Nein, mein Schatz", hatte ihre Mama erklärt. „Wir hängen im Weltraum, im großen Himmel, wie alle anderen Planeten und Sterne und wie unser Mond."

„Und wenn die Sonne bei uns ist? Was machen die dann in Afrika oder Aus... wie heißt das? Ist es dort so dunkel wie bei uns?"

„Australien heißt das. Das ist ein Kontinent, also eine Rieseninsel. Oh, ja. Bei den Menschen auf der anderen Seite war es Nacht und dunkel, als die Sonne hier schien und alles erwärmte. Das ist jeden Tag und jede Nacht so, immer, solange es die Erde und die Sonne gibt."

Antonia schaute noch einmal zum Himmel und zu den Bergen am Horizont, aber noch war keine Sonne zu sehen. Es dauerte ihr einfach zu lange und sie ging zurück in den warmen Stall, in dem ihre Mutter auf sie wartete.

„Mama! Gleich geht die Sonne auf", sagte sie. „Dann wird es wärmer. Und wenn unser kleines Fohlen endlich da ist, kann es gleich die Sonne sehen."

Sie gähnte und rieb sich die Augen. Sie war müde, schon seit vielen Stunden hatte sie mit ihrer Mutter im Stall Wache gehalten.

„Ja", sagte ihre Mama. „Hoffentlich kommt es bald. Unsere Babybell lässt sich viel Zeit."

„Kann Babybell selber bestimmen, wann das Fohlen kommt?"

„Nein, das geht nicht. Das Fohlen meldet sich, wenn es soweit ist."

„Und woher weiß das Fohlen, wann es kommen soll?"

„Das hat der liebe Gott ihm beigebracht. Mehr braucht so ein kleines Fohlen zuerst noch nicht zu wissen."

„Hab ich mich auch bei dir gemeldet, als ich gebohrt wurde?"

„Du wurdest geboren, mein Schatz. Bohren tut man Löcher. - Klar, hast du dich gemeldet. Und dann bin ich schnell ins Krankenhaus gesaust."

Dagmar, ihre Mutter, und sie, saßen auf Hockern, lehnten an der Stallwand und schauten auf die Gitterstäbe, hinter denen Babybell sehr unruhig mit den Hufen im Stroh scharrte. Hin und wieder schnaubte sie nervös.

„Es ist so dunkel hier, dass Babybell fast schwarz aussieht", sagte Antonia.

Babybell war das gemeinsame Pferd von Annalisa, Antonia und David. Sie durften es abwechselnd reiten und mussten es auch gemeinsam pflegen, den Stall ausmisten und für Futter sorgen.

Und jetzt sollte Babybell ein Baby bekommen, ein Fohlen, wie Babys bei den Pferden heißen. Das Besondere aber war, dass dieses Fohlen Antonia gehören sollte - ihr ganz alleine.

„Weil es genau an deinem Namenstag, dem 6. Mai, zur Welt kommen wird - oder eben dicht dabei", hatte ihre Mama entschieden.

„Und wir?", hatte David empört gefragt und seine Schwester Annalisa und sich selber damit gemeint.

„Ja, genau! Und wir?", hatte Annalisa gemault.

„Nun, es gibt noch einen Grund, warum Antonia dieses Fohlen bekommt: Es wird ein kleines Pferd sein, so wie sein Vater, sagt der Tierarzt, Dr. König. Und Antonia ist die kleinste von euch und darum gerade richtig für das neue Pferd. Ihr könnt dann die Babybell alleine reiten."

„Na gut", hatte Annalisa gesagt. „Antonia muss aber auch alleine für das neue Pferd sorgen."

„Genau! Ha! Stall ausmisten! Füttern! Wasser geben! Fell striegeln! Mähne bürsten! Hufe säubern! Fohlen auf die Wiese führen! - Na ja, und reiten!", hatte David aufgezählt und darauf gewartet, dass Antonia sagen würde: „Das mach ich nicht."

Hatte sie aber nicht! Sie hatte nur genickt und schließlich gesagt: „Mach ich alles. Bin doch kein Baby mehr!"

Trotzdem hatten alle drei Kinder fleißig geholfen, damit das Fohlen eine saubere Box hatte, wenn es auf die Welt kam. Sie hatten die Wände der Abfohlbox schon einige Tage vor der Geburt gereinigt und den Boden mit sauberem Stroh reichlich eingestreut. Es war eine schöne, helle und große Box - und sie war gut einsehbar.

Albrecht, Antonias Papa, hatte ihnen geraten, der Stute die Eisen entfernen zu lassen. So vermindere sich das Verletzungsrisiko des Fohlens.

„Aus Versehen könnte Babybell ihr kleines Fohlen treten. Das wär bestimmt nicht gut für das Pferdchen."

„Klar!", hatte Antonia gesagt. „Mama musste bestimmt auch ihre Schuhe ausziehen, als ich gebohrt wurde."

„Völlig richtig!", hatte ihre Mama gesagt. „Als du geboren wurdest, hatte ich keine Schuhe an! Ich wollte dir doch nicht wehtun. Also müssen die Hufeisen bei Babybell auch ab."

Das hatte der Hufschmied Hans Storch gemacht, der deshalb extra mit seiner mobilen Schmiede auf den Hof gekommen war.

„Ich mache sie dir auch später wieder dran", hatte Herr Storch versprochen, als Babybell ärgerlich gewiehert hatte und ihre Beine nicht anheben wollte.

Der Hufschmied, Hans Storch, hatte mit seinem Gesellen, dem Ludwig Klein, im Dorf eine Schmiede, in der man auch die Räder der Karren und Leiterwagen reparieren lassen konnte. Die Männer hatten geflucht und mit Babybell geschimpft, weil sie ihre Beine nicht anheben wollte.

„Ich mach das schon", hatte Antonia gesagt und Babybell die Beine hochgehoben - einfach so. Dabei hatte sie mit Babybell „geschwätzt" - wie David das nannte. Jedenfalls mochte Babybell dieses „Geschwätz". Sie hatte ihre Hufe ganz lieb und ohne Probleme angehoben.

„Du bist ja eine richtige Pferdeverzauberin", hatte Herr Storch gesagt.

Babybell mochte Antonia wirklich sehr gerne. Sie schnupperte immer an ihren Haaren, fraß Möhren aus ihrer Hand und stieß sie mit ihrem weichen Maul an, wenn Antonia nicht genug auf sie achtete.

Der schöne Hof, auf dem Mama Dagmar, Papa Albrecht, die Kinder Annalisa, David und Antonia - und Max und Babybell - wohnten, lag am Rand der Berge und die saftigen Wiesen begannen gleich hinter dem Hof.

Rapsfelder gab es, die ganz doll gelb waren und sogar in der Nacht leuchteten.

„Wie die Lampe in meinem Zimmer", hatte Antonia gesagt und gefragt, ob sie nicht einen Arm voll in ihr Zimmer stellen könne - statt Lampen!

„Mädchen!", hatte David gesagt und verächtlich mit dem Kopf geschüttelt.

„So falsch ist das gar nicht", hatte der Papa gesagt. „Aus Raps macht man Öl und das brennt in Lampen ganz herrlich und so schön gelb, wie die Blüten sind.

„Bäh! Jungs sind ballaballa!", hatte Antonia festgestellt.

Antonias Vater hatte viel Arbeit mit dem Heu, das er im Frühjahr und Sommer von den Wiesen holte. Und noch mehr Arbeit mit den Tieren und dem Raps.

„Wenn ich groß bin, dann helfe ich dir", hatte Antonia ihm versprochen. „Wenn ich Lust habe, nach dem Spielen."

 

In der Box brannte eine matt gelb leuchtende Lampe und in ihrem Schein konnte Antonia hin und wieder die großen Augen von Babybell erkennen.

„Hat sie Angst, Mama? Sie hat so große Augen."

„Nein, nein. Sie weiß, dass ihr kleines Fohlen bald kommt und wartet genau so gespannt wie wir", sagte ihre Mutter und streichelte den Kopf von Babybell.

„Sie soll sich beeilen, sonst schlaf ich noch ein. Ich bin so müde."

„Geh doch ins Bett", sagte ihre Mama. „Es dauert noch lange. Ich weiß es, weil ich es schon oft erlebt habe. Ich wecke dich, wenn es soweit ist."

„Ganz bestimmt?", murmelte Antonia.

Sie war wirklich todmüde, konnte die Augen kaum noch aufhalten. Dabei hatte sie sich so sehr vorgenommen, ganz wach zu sein, wenn es losging. Sie wollte alles genau mit ansehen.

Ihre Freundinnen, Jana, Alexa und Lara sollten staunen, was sie ihnen alles zu erzählen hatte.

Aber als ihre Mama sie anstoßen musste, weil sie schon wieder eingeschlafen war, stand sie auf, ging zur Box und streichelte die Nüstern von Babybell, die ihren Kopf an ihrer Schulter rieb.

„Mach's gut, Babybell. Ich lege mich etwas hin. Ich komme wieder, wenn dein Baby - äh, dein Fohlen - kommt."

Babybell wieherte leise und stupste sie mit dem Maul an der Schulter.

„Weckst du mich auch ganz bestimmt, Mama?", fragte Antonia, als sie schon in der Stalltür stand.

„Ja, Kleines. Leg dich hin. Ich weck dich schon."

Als Antonia auf den Hof trat, war der Himmel verzaubert. Sie stand starr und schaute auf die blasse Kugel, die soeben den Horizont verlassen hatte.

„Mama! Schau mal!", rief sie in den Stall. „Sie ist da, die Sonne. Jetzt habe ich sie gesehen, wie sie aus Afrika kommt. Sie ist noch ganz schwach, weil sie soooo lange unterwegs war. Machen die Menschen in Afrika sie so gelb?"

„Nein!", rief ihre Mama aus dem Stall und man konnte hören, dass sie lachte. „Das ist nur so, weil unsere Luft nicht ganz sauber ist. Nachher, wenn sie höher am Himmel steht und mehr Kraft hat, wird sie so hell, wie du sie kennst."

Müde schlich Antonia ins Haus, zog sich aus, und fiel schon mit geschlossenen Augen ins Bett.

Sie zog sich die Decke über den Kopf und schlief sofort ein.

 

Babybell schaute sie traurig an. Sie stand in der Box und hatte ganz große, richtige Riesenaugen. Antonias Bett stand auch in der Box und deshalb war es ziemlich eng. Babybell wieherte aufgeregt, bäumte sich hoch auf und sagte: „He, du, Antonia! Warum bist du im Bett? Ich brauche deine Hilfe. Komm und gib mir was zu trinken. Ich habe Durst."

„Ja, mach ich", sagte sie.

Sie stand auf, ging zum Wasserhahn, füllte einen riesigen Eimer mit Wasser und schleppte ihn zu Babybell.

Genau in dem Augenblick, in dem Babybell den Kopf senkte, um zu trinken, fiel der Eimer um. Das Wasser schwappte auf Antonias Füße.

Babybell wieherte empört und sagte: „Du taugst nichts, Antonia! Du bist nicht lieb zu mir. Erst hast du mir die schönen Hufeisen abgenommen, dann bist du einfach ins bett gegangen und jetzt lässt du mich verdursten."

Sie weinte vor Enttäuschung und schluchzte: „Ich hab dich doch soooo lieb, Babybell."

Da verschwand Babybell, löste sich in Nichts auf, wie Nebel, wenn die Sonne ihn verbrennt.

 

 

Fortsetzung folgt