Frank stemmte die Beine gegen die schwere Kiefer, rutschte ab, fiel rücklings auf die glatt geschälten Stämme, die einen betäubenden Harzduft ausströmten.
„Scheiße!“, schrie er und rieb sich das schmerzende Steißbein. „Verdammte Sauerei!“
„Was ist?“, rief eine Stimme von unten. „Gibt’s Probleme?“
„Quatsch, Dirk. Bin abgerutscht. Die Dinger sind glatt, als wenn Schmierseife drauf wär“, antwortete Frank und stieß erneut mit aller Kraft gegen den Stamm.
Diesmal rollte er über den Rand des Wagons, schlug mit dumpfem Knall auf den Schotter und polterte den Hang unterhalb des Schienenstrangs herunter.
Die glatten, bräunlich gefärbten Stämme stammten aus den finnischen Wäldern, waren am Morgen erst angekommen. Die Rangierlok des Sägewerks hatte die drei Wagons am Bahnhof abgeholt und sie auf den Platz des Sägewerks geschoben, der ein ganzes Stück außerhalb des Dorfes lag.
Früher, zu Zeiten des alten Keller, hatten viele Männer aus dem Dorf im Sägewerk und als Waldarbeiter ihre Brötchen verdient. Karl Keller hatte einen florierenden Betrieb besessen, wohl auch deshalb, weil ihm fast alle Wälder in der Umgebung gehörten.
Sein Sohn, Gustl Keller, war ein mürrischer Mann, der als verschroben und verbiestert galt. Er hatte als Kind seinen rechten Fuß nicht rechtzeitig weggezogen, als sein Alter einen mächtigen Stamm vom Sägetisch gestoßen hatte.
Seitdem zwang ihn sein verkrüppelter Fuß zum Langsamgehen. Die Dorfbewohner nannten ihn Klumpfuß, was sie aber nur sagten, wenn er nicht in Hörweite war. „Dieser Geizkragen!“, sagten sie untereinander und erklärten sich damit ihre Abneigung.
Es bedrückte sie, dass sie so abhängig von ihm waren; es gab praktisch keine andere Arbeit im ganzen Umkreis; die Touristen mieden diesen Teil des Bayrischen Waldes.
Niemand im Dorf mochte Gustl Keller. Keiner kannte ihn näher, hatte jemals ein persönliches Gespräch mit ihm gehabt. Und noch nie hatten sie ihn im Gasthof gesehen.
Die letzten Bäume an den Berghängen rund ums Dorf hatte er vor Jahren schon fällen lassen. Mit der Neuanpflanzung hatte er gezögert, hatte viel zu lange gewartet. „Aus Geiz“, sagten die im Dorf. Jetzt war finnisches Holz so billig, dass sie nur noch importierte Hölzer verarbeiteten. Schon lange war das alte Sägewerk nur noch Importeur und Vorbereiter für die große Möbelfirma in der Kreisstadt.
„Für neue Maschinen ist kein Geld da“, hatte Gustl Keller erklärt, als er beim Arbeitsamt um billige Hilfskräften nachgefragt hatte. „Arbeiter kann man auch wieder entlassen; Maschinen hast du, bis sie Schrott sind.“

Mit dumpfem Knall schlug der nächste Baum auf den Boden, polterte den leichten Abhang herunter. Frank richtete sich auf und wischte mit dem Unterarm den Schweiß aus den Augen. Er war nicht kräftig gebaut und die schweren Bäume brauchten seine ganze Kraft. Seine dünnen Beine zitterten jedes Mal, wenn sich ein Stamm verhakte, dem Druck nicht nachgeben wollte. Seine Unterschenkel und die Hände waren schwarz und klebrig vom Harz.
Er blickte herunter zu seinem Freund, der den leichteren Job hatte, nur dafür sorgen musste, dass die rollenden Stämme sich nicht festsetzten. Weiter hinten, da, wo der Abhang endete, stand die riesige Säge, an der die Männer die Stämme so zuschnitten, wie es vom Möbelwerk gewünscht war.
Alle arbeiteten mit nacktem Oberkörper; ihre Schultern und Rücken waren braun oder rot und nur die Bäuche sahen merkwürdig blass aus. Der Schweiß ließ die Körper der Männer und Jungen ölig glänzen.
Vor zwei Monaten hatten die Neuen angefangen, die ‚Frischlinge’, wie die Arbeiter die ängstlich und unsicher blickenden Jungen höhnisch nannten. Es waren Arbeitslose, die nach der Schule keinen Ausbildungsplatz gefunden hatten.
Andere, wie Frank und Dirk, waren schon im zweiten Jahr im Sägewerk beschäftigt, wurden aber nur geringfügig besser behandelt als die Frischlinge, bekamen auch nicht mehr Geld. Aber sie kannten inzwischen ihre Pappenheimer, wussten, wie sie ihnen aus dem Weg gehen konnten oder wann sie es wagen durften, zu widersprechen.
Allen Jungen war gemeinsam, dass sie vom Arbeitsamt hierher vermittelt worden waren, um ‚von der Straße zu kommen’ und die Statistik des Arbeitsamtes in der Kreisstadt zu schönen.
Das bisschen Geld, das sie dafür bekamen und das vom Arbeitsamt um einen geringen Betrag erhöht wurde, zahlte man ihnen jede Woche bar aus.
Sie sollten Erfahrungen sammeln, lernen, wie man die Holzarten schon am Geruch erkennt, an der Rinde den gesunden vom kranken Stamm unterscheidet. Das hatte der Vorarbeiter Konrad Blum ihnen gesagt und den fleißigsten und lernwilligsten eine mögliche Übernahme in Aussicht gestellt.
Konrad Blum war der Einzige, der regelmäßigen Kontakt mit Gustl Keller hatte. Alle Aufträge, die Vorgaben für die Männer an der Säge, gingen aus Kellers Büro direkt an den Vorarbeiter. Weil er als Vertrauter des Klumpfuß galt, mochten sie ihn nicht. Er wohnte auch nicht im Dorf, was die meisten sogar ganz gut fanden.
„Der passt doch nicht zu uns. So einen hat’s im Dorf noch nie gegeben“, sagten die Frauen beim Metzger oder beim Bäcker und nickten sich mit Verschwörermiene Einverständnis zu.
„Will mal sehen, wen ich von euch dürren Bohnenstangen gebrauchen kann. Bevor im nächsten Jahr die Würfel fallen, solltet ihr euch den Arsch aufreißen. Wollt doch richtige Kerle werden mit ordentlich Kohle in der Tasche, oder? Weiß doch, wo’s euch juckt. Dann könnt ihr eure Freundinnen vom eigenen Geld einen Kinobesuch mit Cola und Chips spendieren. Vielleicht hopst sie dann ja in euer Bett. Was anderes habt ihr ja doch nicht in euren dämlichen Schädeln. Na? Das wär doch mal was, oder? Also, strengt euch an, ihr Faulpelze“, sagte er mit hintergründigem Lächeln, als er die Frischlinge auf den Platz brachte.
Er war rau, hart in der Sprache und unzugänglich bei allen Bitten und Forderungen.
„Der spitzt uns an wie ’nen Bleistift und weiß genau, dass keiner eingestellt wird. Letztes Jahr hat er das auch gesagt. Scheißkerl“, hatte Dirk geflucht, als sie an dem Abend mit gekrümmten Rücken nach Hause schlichen.„Wenn ihr bei mir fertig seid, dann wisst ihr wenigstens schon, wie so ein richtiger, echter Holzstamm aussieht – und wo er her kommt. Vorbereiten fürs Arbeitsleben, ja, ja. Könnt dem Gustl Keller ruhig dankbar sein, Jungs – und mir auch“, hatte Konrad Blum nachgeschoben, bevor er in seiner Bretterbude verschwand, in der er meistens hockte.
„Dankbar! Ha! Haste gesehen, wie der hässlich gelacht hat?“, hatte Frank gefragt, als er sich vor der Haustür von Dirk verabschiedete.
„Billige Malocher sind wir für die! Was soll man denn hier lernen?“, hatte Dirk geantwortet.
Sie waren, wie an jedem Tag, mit schmerzenden Muskeln vom Platz geschlichen und verfluchten den Tag, an dem der Mann vom Arbeitsamt ihnen freudestrahlend diesen „Weg in eine gute Zukunft“ erklärt hatte.
„Die schwerste Arbeit geben die Alten immer uns; ausmessen und sägen, das dürfen nur die Herren vom Holzplatz!“

Unten am Hang standen sie, die sechs letzten Holzplatzarbeiter. Drei Männer maßen die Stämme ab, zeichneten mit Kreide die Schnittstellen an, kratzten sich nachdenklich am Kopf und prüften noch einmal die Übereinstimmung mit den Zahlen, die auf einem Blatt standen, das sie mit einem Nagel am nächsten Holzstapel gepinnt hatten. Sie durften sich nicht vertun.
„Einmal falsch gemessen und du kannst das Zeugs als Brennholz verarbeiten. Kostet nicht unser Geld; das bezahlt der, der falsch gemessen hat“, hatte Blum gedroht und sie hielten sich dran.
Die anderen drei Männer zersägten die Stämme auf die ausgemessenen Längen. Sie kommandierten mit harten Worten und scharfen Befehlen die Jungen, die nur widerstrebend die harte Arbeit verrichteten.
Sechs Jungen schrieen sich stöhnend Kommandos zu, hoben und schoben die Baumstämme auf den breiten Tisch.
Täglich waren sie den derben und manchmal recht üblen Scherzen der Männer ausgesetzt, die alle schon seit ihrer Jugend hier arbeiteten. Sie wussten jedenfalls in den kurzen Pausen immer von ‚damals, als der Alte noch lebte’ zu erzählen und wenn man ihnen glauben mochte, dann waren sie früher viel härter angefasst worden als die heutigen ‚Weicheier’.
„Müssen erst mal richtige Kerle aus euch machen! Schulkinder und Kirchenchorknaben! Ha! Hier weht ein anderer Wind. Aber leider! Aus Hosenscheißern wird so schnell kein richtiger Arbeiter!“
So oder ähnlich sprachen sie manchmal am Morgen, wenn die Jungen nicht so recht in die Gänge kommen konnten.

„Warum kauft der geizige Keller keinen Muli, so einen Gabelstapler, frag ich mich“, rief Frank und schaute zu Dirk herunter, der am Gleis stand und einen verhakten Stamm in Fahrt brachte.
„Weil wir billiger sind als das Muliding. Der alte, marode Gabelstapler da hinten, ist doch nur noch Schrott. Nee, der kauft keine neue Maschine, solange es uns gibt“, rief Dirk zurück.
Die Jungen hoben einen der glatten Baumstämme mit keuchend ausgestoßenem Kommandoruf hoch, wuchteten ihn auf den breiten Sägetisch.
„Weiter nach rechts! Blödmänner! Blind, wa?“, schrie der Mann am Sägeblatt und dirigierte mit heftigen Handbewegungen die Kreidemarkierungen vor das sausende, singende Sägeblatt.
„Pass lieber auf, dass du deinen Daumen nicht durchsägst“, schrie ein Junge und duckte sich danach blitzschnell hinter seine Kameraden.
„Schnauze!“, schrie der Mann und schob den Stamm vor das flirrende Sägeblatt.
Das Holz kreischte auf, als das Metall sich gierig durch das Kreidezeichen fraß; klebrige Späne flogen in die Luft. Je zwei Jungen packten die zerschnittenen Stämme und schleppten sie auf bereit stehende niedrige Transportwagen.
Konrad Blum war plötzlich da, stand zwischen den Holzstapeln, als wäre er aus dem Boden gewachsen. Er blickte auf seine Armbanduhr und rief mit dünner Stimme: „Frühstück!“
„Jau! Pause!“, rief der Säger und schaltete den Motor ab; das Sägeblatt lief surrend aus und alle griffen sich ihre Taschen.
„Komm rauf, Dirk! Bringste mir meine Tasche mit? Hier sitzt man prima, kriegst kostenlos frische Luft!“, rief Frank und schwenkte die Arme.
Dirk kletterte hoch, setzte sich neben Frank auf den Baumstamm und zeigte mit dem Kopf auf den Vorarbeiter. „Wo der bloß immer so plötzlich her kommt? Richtig unheimlich. Du denkst an nichts Böses und dann steht er neben dir – der Schleicher! Komischer Typ!“
Frank murmelte eine unverständliche Antwort und packte seine Brote aus. Sie kauten die dicken Stullen, tranken aus ihren Aluminiumflaschen den lauwarmen Tee, steckten die Gesichter in den warmen Wind, genossen die Ruhe und den harzigen Holzgeruch.
„Wenn du bedenkst, dass die vor ein paar Tagen noch in Finnland standen, richtige Bäume waren, mit Grün oben, Wurzeln unten und Eichhörnchen die rauf und runter rannten, dann wird dir ganz komisch. Findest du nicht? – Finnland! Da möchte ich mal hin.“
„Is’ weit weg, Frank. Wie willste da hinkommen? Mit dem Fahrrad? Für Bahn oder so haste doch kein Geld – und langweilig ist’s da bestimmt auch.“
„Und still! Ich mag´s, wenn’s still ist.“
„Gibt’s da überhaupt Eichhörnchen?“, fragte Dirk.
„Vielleicht. Da gibt’s doch auch Nussbäume und Eichen, oder? Aber Elche gibt’s ganz sicher. Bestimmt sind die Waldarbeiter auch besser, als die Blödmänner da unten. So in der Natur, da denkt man anders – menschlicher, möchte ich mal sagen.“
„Mann! Worüber du dir Gedanken machst!“
„Muss man doch. Nachts, wenn ich wach liege, dann bin ich da oben. In Finnland, meine ich. Träume sind klasse, echt. Ich möchte gar nicht leben ohne Träume.“
„Mensch, du bist komisch. Träume! – Okay. Wenn ich penn, dann kommen die manchmal, aber wenn ich wach bin? Okay. An Mädchen und so, da denk ich auch manchmal. Aber an finnische Wälder? Nee. Erzähl das lieber keinem, die glauben sonst, du wärst ballaballa“.Der Vorarbeiter ging an ihrem Wagon vorbei und stieß mit dem Fuß gegen die Stämme, die sich neben dem Gleis verhakt hatten.
„Wie der watschelt!“, flüsterte Dirk und stieß Frank mit dem Fuß an.
Die stämmigen, scheinbar verkehrt eingehängten Beine des Vorarbeiters mussten einen schweren Körper tragen. Der Mann hatte einen spitz zulaufenden Brustkorb, den sie spöttisch Hühnerbrust nannten. Er überragte selbst den längsten Arbeiter um mehr als eine Kopflänge; das breite Gesicht wirkte freundlich; er lächelte ständig, was durch die wabbeligen Hängebacken verzerrt wirkte.
„Die hättet ihr ja wohl vorher noch runter rollen können“, sagte er mit seiner Fistelstimme vorwurfsvoll, und lächelte weiter.
Die Jungen, die auf einem der Stämme saßen und ihre Brote futterten, antworteten nicht, kauten heftig, rochen am Brotbelag, stierten an ihm vorbei. Der Vorarbeiter klopfte an das Eisen des Wagons, sah nicht hoch, tat so, als gäbe es die beiden Jungen nicht.
„Frühstück is’ Frühstück!”, rief eine dünne Jungenstimme.
Der Vorarbeiter drehte sich nicht um, stakste an der Säge vorbei.
„Ob das stimmt?“, flüsterte Dirk nachdenklich. „Du weißt schon …“
„Na klar! Warum geht der sonst nicht mit den anderen duschen?“ Frank wusste sofort, was Dirk beschäftigte; sie hatten das Gerücht schon am ersten Tag gehört und an jedem Tag wurde es aufgewärmt, gab es Witze und Anspielungen.
„Könnte ja auch sein, dass er nur wegen seiner krummen Beine nicht geht“, zweifelte Dirk.
„Quatsch! – Wegen krummer Beine! Nein! – Der ist bestimmt ein Zwitter! Hör doch bloß mal die Stimme!“, flüsterte Frank und blickte hinter Blum her, der das Holz eines riesigen Stapels befühlte.
„Wie sprechen Zwitter denn? Weiß das einer? Wär doch Scheiße, wenn das nicht stimmen würde, oder? Alle hier sagen´s – einfach so. Jeder sagt Zwitter zu dem, eigentlich ist das doch blöd. Wissen tut´s keiner!“, sagte Dirk.
Frank wurde wütend. „Hör auf. Der müsste doch nur einmal nackt unter der Dusche erscheinen, dann wär alles geklärt!“
„Du meinst …? Wie sieht wohl ein Zwitter aus? Glaubst du, was die erzählen?“
„Keine Ahnung, hab noch keinen gesehen. Die wohl auch nicht. Aber wenn man´s überlegt, – da gibt´s ja wohl nur eine Möglichkeit.“
Sie lachten verlegen und gehemmt, hatten ein ungutes Gefühl – und genossen gleichzeitig das Geheimnisvolle des Gerüchtes.
„Guck mal! Bestimmt aus Finnland, der Kleine! Mann, wie muss der sich fühlen, so alleine im fremden Land“, sagte Frank und stieß mit ausgestrecktem Finger an das Hinterteil eines metallisch grün schimmernden Käfers.
„So wie du, wenn du ohne mich nach Finnland gehen würdest. Da könnteste mit keinem quatschen – oder kannste finnisch reden?“
„Ob man mit den finnischen Mädchen zurecht käme – ich meine ohne finnisch zu können“, überlegte Frank.
„Kannst ja mal hier üben. Wenn du am Samstag in die Disco in der Stadt gehst, schleppste eine ab und tust so, als wenn du ihre Sprache nicht verstehst. Dann weißte, wie das ist.“
Sie lachten fröhlich und beobachteten den Käfer, der gemächlich in einen Spalt zwischen zwei Stämme kroch. Oben am Himmel drehte ein Gleitschirm seine Runde, erregte für einen Moment ihre Aufmerksamkeit.
„Ach!“, seufzte Dirk. „Geld müsste man haben. Nur noch Urlaub machen und überlegen, was man mit dem vielen …“
„He! Blum!“ Das schallte so laut, dass sie ihre Köpfe hoben und den Platz absuchten.
Der Vorarbeiter stand zwischen zwei mannshohen Holzstapeln, hatte wohl keine freie Sicht und drehte sich langsam in die Richtung, aus der er die Stimme gehört hatte. Der Rufer musste weiter weg sein – stand sicher hinter einem der großen Stapel am Platzende.
„He, Zwitter – äh – ich meine Blum, machst du´s mit dir selber? Zeig uns mal den Trick! Hose runter und die Klamotten raus. Zeig’s uns! Wir sagen´s auch nicht weiter.“
Die Stimme war wohl durch einen Handtrichter verfälscht, klang seltsam hohl. Konrad Blum stakste langsam auf den Stapel zu, hinter dem er den Mann vermutete. Prustendes Lachen begleitete ihn; das Gelächter schallte über den ganzen Platz. Manche kreischten sogar laut und schrill. Dirk und Frank fielen etwas verspätet ein, lachten wie die anderen.
Die Jungen unten am Hang schlugen sich gegenseitig auf die Schultern, klopften vor Begeisterung auf das Holz und wiederholten immer wieder: „Zeig’s uns! He, Blum, zeig´s uns!“
Konrad Blum stand still vor dem mächtigen Stapel, sah unentschlossen aus, als ob er angestrengt nachdenken müsste. Sie lachten immer lauter, überboten sich in ihrem grellen Gekreische.
Langsam drehte der klobige Mann sich um, kam näher zu ihnen hin, und sah sie an, einen nach dem anderen. Er fing mit denen an, die dicht bei ihm ihre Brote kauten, denen die Brocken beim Lachen aus dem Mund fielen. Dann fand er die Männer, die an der Säge saßen, den gerade geschluckten Tee rausprusteten.
Er nahm sich jedes Gesicht vor, blickte lange in die Augen der Männer und Jungen. Es sah aus, als wolle er sie nach dem Grund fragen, wollte wortlos wissen, warum sie über ihn lachten.
Er hielt ihre Augen fest, beobachtete ohne erkennbare Regung, wie dabei das Lachen erfror, die Blicke sich senkten – er stahl ihnen das Lachen aus dem Gesicht. Gleichmäßig und langsam blickte er von einem zum anderen; man wusste genau, wann man dran war. Zuletzt blickte er rauf zu den beiden Freunden, oben auf dem Wagon – und Frank war der letzte in der Reihe der so Befragten.
Er war weit weg von Konrad Blum, aber doch nicht weit genug; er konnte die Augen des Mannes deutlich sehen. Sie fragten ihn ruhig ab; er spürte seinen Hals eng werden, seine Gesichtszüge froren ein. Er bewegte sich nicht, atmete nur ganz flach.
Dann, als Blum genug gesehen hatte, alle Fragen beantwortet waren, ging er mit gesenktem Kopf an ihnen vorbei, latschte quer über den Platz, drehte sich nicht einmal um. Die Tür an seiner Bude knarrte, als er hinter ihr verschwand.
„Scheiße!“, sagte Dirk laut.
„Ganz große Scheiße!“, flüsterte Frank heiser.
Dirk stieg vom Wagon; die Frühstückspause war vorbei. Sie arbeiteten hart und verbissen bis zum Feierabend; niemand sprach mehr über den Vorfall. Den Vorarbeiter Blum sahen sie nicht mehr.Es goss in Strömen, als sie am nächsten Morgen zum Holzplatz hasteten. Sie hielten die Taschen mit den Teeflaschen und den Butterbroten als Regenschutz über den Köpfen.
„Scheißwetter! Das Holz ist heute noch glitschiger. Am besten setzen wir uns alle zum Zwitter in die Bude“, rief einer der Jungen und einer der Frischlinge lachte.
Die Holzplatzarbeiter waren schon da, warteten vor der Bude; sie rauchten und schwatzten, lachten laut, und einer schlug mit der Faust vor die Holztür.
„Mach auf, Blum! Oder haste deine Freundin da drin versteckt?“
„Der und ’ne Freundin! Eher hab ich was mit meiner Großmutter“, rief Heini Melker, der Säger.
Das Gelächter schallte den Jungen entgegen, als sie die letzten Meter rennend überbrückten, um unter das schützende Vordach zu gelangen.
„Schon ausgeschlafen, ihr Hosenscheißer?“, fragte der Säger. „Konntet wohl nicht aus der Falle kommen, was? Penner!“
Sie hassten den Mann, der keine Gelegenheit ausließ, ihnen seine Verachtung zu zeigen.
„Eines Tages fällt dem ein Baum auf die Knochen“, hatte Dirk kürzlich zu Frank gesagt. An dem Tag hatte er Dirk mit dem Gesicht ins Sägemehl gedrückt, bis der halb erstickt war.
„Wenn du noch einmal an die Holzstapel pisst, schneide ich dir das Ding mit der Säge ab“, hatte er Dirk gedroht.
„Der Zwitter hat mal wieder verpennt – denk ich mal!“, sagte ein anderer Arbeiter.
„Oder der sitzt beim Klumpfuß und trinkt bei dem Sauwetter mit dem Kaffee. Zutrauen würd ich dem Arsch das. Und wir frieren uns hier einen ab“, sagte Heini Melker und alle nickten zustimmend
Sie konnten ohne Konrad Blum nicht beginnen. Sie kannten die Aufträge nicht, die er an jedem Tag frisch vom Büro bekam. So blieben sie also unter der überstehenden Dachkante der Bude stehen, suchten Schutz vor dem Regen.

„Da kommt einer! – Scheiße, der Klumpfuß – äh – der Keller!“, rief Dirk.
Der Mann näherte sich langsam. Er hinkte stark, bei jedem Schritt pendelte sein Oberkörper zur rechten Seite. Mit seinem Krückstock schlug er im Vorbeigehen auf die nassen Stämme, als wolle er sie strafen.
Dicht vor den Männern, noch im Freien, blieb er stehen, stieß seinen Stock kräftig in den Boden. Das Wasser lief ihm vom Hut in den Nacken, perlte glitzernd in seinem Gesicht. Ernst und prüfend schaute er die Arbeiter an – die Jungen beachtete er zunächst nicht.
„Die halbe Stunde hängt ihr heute hinten dran. – Mußezeit vorbei. Braucht nicht zu warten. Der Blum kommt nicht – wird überhaupt nicht mehr kommen.“
Er machte eine Pause, fragte mit starren Augen die Wirkung seiner Worte ab. Die Männer schwiegen, warteten reglos auf eine Erklärung.
„Sie haben ihn heute Morgen gefunden – hat sich aufgehängt!“, sagte er leidenschaftslos, ohne Anteilnahme, ohne erkennbare Regung.
Sie standen steif, wie angefroren, an ihren Plätzen, vergaßen den Regen und blickten den Mann an, den sie nicht mochten.
„Er hat Glasaugen, so starr, so kalt und blau wie die Glasmurmeln, mit denen ich früher gespielt habe“, dachte Frank.
Der Klumpfuß blickte sie der Reihe nach an. Die Jungen hielten den Blick nicht aus, ihre Augen glitten schnell weg, als suchten sie etwas auf dem Boden. Sie warteten ängstlich auf eine Schuldzuweisung.
„Soll unheilbar krank gewesen sein – sagt man“, erklärte Gustl Keller. „Muss jeder selber wissen. War allein seine Sache. Hat mit unserem Betrieb nichts zu tun. Hier geht alles normal weiter. Ist das klar?“
Nach einem letzten Rundblick blieben seine Augen an dem krummbeinigen Säger hängen, der Blum schon mal vertreten hatte.
„Melker, du übernimmst die Holzplatzaufsicht! Hol dir die Aufträge und den Schlüssel für die Bude bei mir im Büro ab.“
Heini Melker nickte Einverständnis und ging sofort los. Die anderen verharrten, waren unschlüssig, ob sie an ihre Plätze gehen sollten.
„Was ist? Wollt ihr eine Stunde länger arbeiten? Fürs Glotzen wird hier keiner bezahlt. Und glaubt bloß nicht, dass ihr euch jetzt Frechheiten rausnehmen könnt. Stell schon wieder einen ein, der euch auf die Finger klopft.“
Er drehte sich um, ging weg und ließ sie ratlos stehen. Er hinterließ einen Haufen Männer und Jungen, die sich nicht ansehen konnten.
„Eines Tages …“, murmelte Dirk und schluckte.

Bis zur Frühstückspause sprachen Dirk und Frank nicht miteinander; sie hatten genug Stoff zum Nachdenken. Es regnete nicht mehr, aber der Himmel war noch dunkel; schwere Wolken drückten sich über den Platz, schoben sich aufquellend an die nahen Berghänge.
Als der Ruf „Frühstück!“ ertönte, stieg Dirk auf den Wagon und legte seine Tasche als Unterlage auf den nassen Stamm.
„Scheiße“, sagte er flach und Frank ahnte, dass er nicht das Wetter meinte.
Er biss lustlos ins Brot und starrte zu den Arbeitern rüber, die dicht aneinander gedrängt dasaßen und ihre Brote aus den Dosen pulten. Die anderen Jungen hockten heute dicht bei den Männern, lauschten auf ihre Gespräche.
„Die suchen den, der den Scheiß gestern gerufen hat!“, flüsterte Dirk.
„Quatsch! Die wissen genau, wer das war. War doch verabredet.“
Die Männer sprachen erregt, fuchtelten mit den Händen; neigten ihre Oberkörper pendelnd vor. Ein Arbeiter sprang auf, zeigte auf einen kleinen Mann, der etwas abgerückt von den anderen auf einem Baumstamm saß. Sie konnten nur Wortfetzen hören, wussten trotzdem genau, worüber sie stritten.
„... nicht nötig gewesen.“
„Quatschkopp, dämlicher!“
„... selber gesagt!“
Frank packte sein Brot wieder in die Dose. „Schmeckt mir nicht“, sagte er achselzuckend, als Dirk ihn forschend ansah.
„Davon wird er auch nicht mehr lebendig.“
„Ist mir scheißegal. Es war jedenfalls die größte Scheiße unseres Lebens, was wir da gemacht haben!“„Wir haben doch gar nichts gemacht! – Verdammt noch mal! – Nur gelacht.“ Dirk sah Frank trotzig an, aber der war mit seinen Gedanken schon weit weg.
„Wie das wohl ist? – Aufhängen, mein ich. Ob du schnell weg bist? Letzte Nacht … Diesmal hab ich nicht von Finnland geträumt. Immer kam dieses Bild, wie der Blum da am Strick hängt. Solche riesige, gequollenen Augen hatte der“, sagte Frank, zeigte mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis und schüttelte sich.
„Was? Ob man sofort tot ist? Mensch, wie soll das einer wissen. Ich frier schon, wenn ich dran denke.“
„Warum musste der sich aufhängen? Sag! Warum? Vom Dach springen oder sich erschießen, alles. Aber erhängen?“, fragte Frank
„Ist doch egal, wie. Bloß! Warum hat er das gemacht? Warum bloß? Wegen dem von gestern? Sind doch alles nur dumme Gerüchte! Deshalb macht man doch nicht Schluss!“
„Ich weiß nicht; kommt drauf an. Hast du gesehen, wie er uns angesehen hat? Ich hab´s richtig gefühlt, hab gedacht, der würde meine Gedanken lesen.“
„Brauchte der nicht. Wir haben ja laut genug gelacht. Da wusste der genug …“
„Ob er sich wirklich wegen diesem – diesem dämlichen Mist aufgehängt hat?“, fragte Frank mit leiser Stimme. „Weißt du, dass er mir vor ein paar Tagen gesagt hat, wenn ich so weitermachen würde, dann …“
„Hör auf! Hat er mir auch gesagt. Leeres Gerede. – Ich weiß nicht. Vielleicht gab’s ja wirklich einen anderen Grund. Hast ja gehört, krank war der, unheilbar krank.“
„Glaub ich nicht. Sagen die bloß so. Gestern das, das war bestimmt der letzte Anstoß – der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Die da unten haben ihn so oft gehänselt!“
„Und wenn er doch krank war? Ich weiß nicht, was ich machen würde. Wenn du genau weißt, wie es steht, welche Schmerzen du … Ach Scheiße! Eigentlich sah der nicht krank aus.“
Sie schwiegen, warteten lustlos auf das Ende der Pause.
„Mein Großvater hat mal gesagt: ‚Lachen ist wunderbar, ein Geschenk des Himmels; jemanden lächerlich machen ist fürchterlich, ein Geschenk des Teufels’. Ich glaube, er hat sogar gesagt, es wär tödlich“, murmelte Frank.
„Dein Großvater ist wohl oberschlau, was? Mann! Was haben wir denn schon gemacht? Ja, wir haben gelacht, gut. Aber wir wollten dem doch nichts! Irgendwie war der doch ok.“
„He! Ihr da oben! Haltet endlich die Klappe, Jungs. Der Zwitter war nicht richtig im Kopf! Is’ selber schuld! Habt ja gehört, was der Klumpfuß gesagt hat“, rief Heini Melker, der neue Vorarbeiter und stand auf. „Außerdem: Frühstück is’ vorbei! Ende der Diskussion! Ran an den Speck!“
„So? Scheiße! So einfach ist das? Selber schuld? Das war’s dann für euch? Er nicht! Ihr! Ihr seid schuld! – Ihr seid schuld daran, ihr blöden Arschlöcher!“, schrie Dirk, sprang hoch und sah wütend rüber zu den Männern an der Säge.
„Dirk, lass sein! Wenn, dann sind wir alle dran schuld – wir doch auch, verdammt!“, stieß Frank mit erstickter Stimme heraus, stand ebenfalls auf und stierte Dirk mit weit aufgerissenen Augen an.
Die Jungen und Männer an der Säge standen da, blickten hoch zu den beiden Jungen, die auf den Baumstämmen balancierten – ganz dicht voreinander – und haltlos weinten.