Es krachte und rummste. – Stille. – Nicht enden wollende Stille. –
Leise knirschten, schlitterten Scherben über Steinplatten. – Stille. –
Schnelle Schritte auf platzendem Glas.
Die Geräusche hörten so abrupt auf, wie sie begonnen hatten. –
Nachtstille der Großstadt. Die breite Straße lag im kalten Licht der
Straßenlampen.
Mühsam hob er den Kopf von den Knien – gerade so hoch, dass er flach
über die Straße blicken konnte. Er sah nur Nebel, blinzelte mit den
verklebten Augen, aber es half nicht viel.
Langsam hob er den rechten Ellbogen und wischte mit dem rauen Stoff
über Stirn und Augen. Jetzt war alles klarer – die Straße schwankte,
warf riesige Wellen und lies die alte Übelkeit wieder hoch kommen, die
ihn schon die ganze Nacht quälte.
„Ups! Scheiße! Karl! Karl! Billigtröster macht ‘n Karussell im Kopp“,
dachte er, weil das immer der Hubert sagte, wenn sie billigen Fusel
kauften.
Er saß in einem Mauerwinkel der U-Bahntreppe; das Halbdunkel mit seinen
bizarren schwarzen Schatten löste seine Konturen auf; die nächste
Straßenlampe war etliche Meter weit weg, warf einen Lichtklecks auf
Bürgersteig und Fahrbahn.
Die krustige Mauer in seinem Rücken gehörte zum U-Bahnschacht, endete
am Kaufhofeck und bot ihm in den Sommernächten Schutz vor den Blicken
der schwarzen Sheriffs, die ihm Angst machten. Er fürchtete ihre Launen
und Stiefel mehr als die Rüffel der Polizisten.
Die Straße war leer; wie ausgestorben lag die Großstadt da, atmete tief
durch, um für den nächsten Tag gerüstet zu sein – nur ein dünnes
Brausen füllte die laue Nachtluft; im Osten wurde der Himmel bleigrau.
Eine leere Coladose drehte sich leise, vom warmen Nachtwind spielerisch
getrieben, torkelte ziellos über den Asphalt. Gegenüber, auf der
anderen Straßenseite, parkte ein schwarzer, total verdreckter Jeep. Die
hell erleuchteten Fenster des Juwelierladens wurden fast völlig vom
hochrädrigen Wagen verdeckt.
Er suchte die Quelle des Krachs, schaute angestrengt von links nach
rechts. Der Kopf dröhnte und in seinen Ohren spielte eine Violine
hässliche Töne. Soweit er sehen konnte, gab es da drüben keine Bewegung.
Er seufzte ergeben. Vielleicht hatte er wieder nur geträumt. Er war
sich fast sicher, dass es Träume sein mussten, die ihn in der letzten
Zeit so plötzlich überfielen – am Tag und in der Nacht.
„Bin doch nich’ bekloppt! Nee, bin ich nich’! Weiß doch wat ich seh’
und so“, hatte er Hubert erzählt, als sie im Englischen Garten leere
Bierflaschen gesucht hatten.
„Bist eben auf’m Trip; kenn ich genau“, hatte ihn Hubert getröstet.
„Aber et is’ unheimlich, wat ich allet erleb’; is’ wie Weltuntergang und so. Kannste nich’ verstehn, die Scheiße.“
So ganz sicher war er sich nicht mehr, ob es Träume waren; sogar an
Besucher aus dem Weltraum hatte er schon gedacht – konnte ja sein, dass
die ihm Bilder schickten. Das hatte er Hubert aber lieber nicht
erzählt. In der letzten Zeit waren eben immer wieder Dinge passiert,
die er sich nicht erklären konnte.
Mal waren es Autos, die sich von der Straße hoben und über den Himmel
segelten, mal stürzten Häuser lautlos ein und standen von alleine
wieder auf. Bunte Räder wirbelten über die Wiese des Hofgartens und
Spaziergängerinnen standen plötzlich splitternackt vor ihm. Bedenklich
stimmte ihn dabei, dass alle anderen Leute so taten, als wäre das
völlig normal.
Erst vor zwei Abenden hatte er ein brüllendes Flammenmeer über den
Hausdächern gesehen, war schreiend in die U-Bahn an der Leopoldstraße
gestürzt.
„In Deckung!“, hatte er geschrien, obwohl da unten niemand war, der seinem Kommando hätte gehorchen wollen.
Später – viel später erst – hatte er begriffen, dass es die Abendsonne
war, die ihre roten Flammen durch den Dunstschleier der Stadt drückte
und die Häusergiebel in Schwabing in kräftiges Rot tauchte. Und seit
diesem Abend hatte er Angst; eine würgende Panik überfiel ihn, wenn
eine Sirene aufheulte, wenn ein von einem Autofenster erzeugter
Lichtblitz ihn traf.
„Weiß ich, wat echt is’ und wat nich’? Nee, weiß ich nich’. Und dat is’ Scheiße, Karl. An müsste schon wissen, ob wat echt is’.“
Irgendwie
wusste er aber, dass es am Tröster liegen konnte, den er im Sommer
reichlicher bekam als in den harten Wintermonaten. Die Touristen warfen
ihm Münzen und Scheine in den speckig glänzenden Hut, fotografierten
ihn, wenn er das Geld gierig heraus klaubte und in seine Rocktasche
steckte.
„Is ’n klasse Trick, Hubert, ’n absoluter Lottovolltreffer. Mein
weißhaariger Kopf – hab ich vom Ollen geerbt –, meine alte Lederhose
und mein Gamsbarthut – der Geklaute. Dat gefällt den Amis und den
Japsen“, hatte er zu Hubert gesagt, der sich über die reichlichen
Einnahmen gewundert hatte.
Aber der kriegte immer was ab, wenn sie sich im Aldi neuen Tröster
kauften. Hubert war total unten. Dick und hässlich. Aber ein guter
Kumpel; auf den konnte er sich verlassen. Zu Zweit war man immer besser
dran auf der Straße.
Hubert kam, wie er, aus dem ‚Ruhrpott’, wie sie die Gegend um Dortmund
nannten. Das gab Heimatgefühl. Immerhin waren sie beide schon fast zehn
Jahre gemeinsam auf Achse und seit acht Jahren in München.
„Hier kennt dich keiner – auch nich’ einer. Nee, hier fühlste dich
einfach wohler“, hatte Hubert zu ihm gesagt, als er vorschlug, mal
wieder nach Dortmund zu trampen. „Nich’ mit mir. Nachher erkennt uns
einer von den alten Püttkumpels. Kannste dir dat vorstellen? Nee!
Kannst ja alleine gehen.“
Heute gegen Mittag hatte eine füllige Amerikanerin ihr niedliches
Töchterchen dicht neben ihn gestellt. Das Kind musste die kleine Hand –
die sich heftig verkrampfte – auf seine Schulter legen und die Mutter
machte zehntausend Fotos von ihnen.
„It´s great! Wonderful! Look at me!“, hatte sie ständig geschrien. Er hatte nichts verstanden, außer, dass es Geld geben würde.
Immer wieder musste er sich an anderer Stelle hinsetzen; sie wollte
unbedingt das Rathaus mit dem Glockenspiel ganz aufs Bild bekommen und
verzweifelte am Format des historischen Gebäudes.
Nachher hatte sie die Hand ihrer Tochter mit einem Tempotaschentuch
abgerubbelt, das sie mit ihrer Spucke befeuchtete. Ihm war´s egal
gewesen; den Schein hatte er am Abend – gemeinsam mit Hubert – im Aldi
gegen Rotwein getauscht.Seitdem war Hubert weg; aber das kannte er, es
machte ihm keine Bange. Das machte der immer so, wenn er genug Tröster
in der Tragetasche hatte; dann legte er sich fast immer in den
Englischen Garten auf den Rasen.
„Biste inne Arme von Mutter Natur; wenn de verstehst wat ich mein’. Da
bisse besser aufgehoben als inne stinkige Gosse, wo se dich nach Strich
und Faden beklauen“, fand Hubert.
Jetzt
bewegte sich etwas. Tatsächlich. Er hob den Kopf höher, achtete nicht
auf den stechenden Schmerz im Hinterkopf. Hinter dem Jeep ruckten Köpfe
und Schultern. Zwei Schatten bewegten sich vorsichtig, sicherten, waren
offensichtlich fluchtbereit.
„Ham wat vor, die Jungs“, dachte er und prüfte, ob der Schatten der
Mauer ihn genügend verdeckte. „Is’ ja wohl wahr, wat da abläuft – wat
meinste Karl? Kein Traum? Ham nur gewartet, ob sich wat tut nach dem
Krach.“
Durch das Jeepfenster entdeckte er ein zackig geformtes Loch im
Schaufensterglas. Zwei breite Schatten wuchteten sich vor dem Fenster
hoch, bewegten sich hektisch, hasteten zum Wagen, duckten sich, warfen
Gegenstände in den Jeep, tauchten wieder hoch und verharrten stocksteif.
Eine Windböe. Die Coladose bekam einen kräftigen Schubs, schepperte
langanhaltend, rollte über die Straße, kreiselte und hielt genau vor
seinem rechten Fuß, der direkt am Rinnstein lag. Er hielt den Atem an,
zog die Füße hoch bis ans Kinn, drückte sich tiefer in den Schatten,
bis die Steine sich schmerzhaft in seinen Rücken pressten.
„Scheiße! Scheiße!“, dachte er und wollte jetzt lieber draußen im
Englischen Garten liegen, wo Hubert bestimmt seinen Rausch ausschlief.
Über der Ladefläche des Jeeps blitzte ein Scheinwerfer auf, warf weißes
Licht herüber. Der zittrige Strahl glitt über den Asphalt, traf die
Coladose, seinen Fuß, wanderte hoch, huschte schnell über seinen Körper
und heftete sich an sein Gesicht.
Er sah nichts mehr, weiße und rötliche Kringel waberten vor seinen
angstweiten Augen; das grelle Licht nagelte ihn regelrecht fest, machte
ihn unbeweglich.
Er wusste, welchen Anblick er dem Suchenden bot: Sein
rotweiß-fleckiges, schorfiges Gesicht mit dem offenstehenden, fast
zahnlosen Mund, musste wie ein scheußlicher Halloweenkopf aussehen.
Wirre, weißgraue Haare quollen unter dem Gamsbarthut hervor, bedeckten
die flache Stirn. Das Weiß der starr glotzenden Augen leuchtete im
Licht, machte das Gespenstergesicht vollständig.
Er stierte unbeweglich, wie eingefroren, in den Lichtkegel. Aus
Richtung Marienplatz hörte er das Signalhorn eines Polizeiwagens – noch
recht schwach zwar, aber in der Stille deutlich vernehmbar. Im selben
Augenblick erlosch der Scheinwerfer.
Es wurde dunkel; er glaubte, die gesamte Beleuchtung der Stadt sei
ausgefallen. Nur langsam kam sein Sehvermögen zurück und zur gleichen
Zeit heulte der Jeepmotor auf. Reifen schrieen und quietschten; ein
unsauber eingelegter Gang ließ das Getriebe gequält aufschreien.
Sehr langsam nur ordneten sich seine Gedanken, machte er sich Wort für
Wort seinen Eindruck klar. „War kein Traum – oder?“, dachte er. „Nee!
War ‘n verdammter Bruch.“
Er akzeptierte widerwillig, dass er das nicht geträumt hatte, dass ihn
diesmal keine Hirngespinste narrten – er war Zeuge eines Einbruchs
gewesen – und deshalb musste er verschwinden, sehr schnell sogar.
„Hier wird’s gleich heiß, verdammt heiß!“, murmelte er, rutschte auf
die Knie, griff sich den dicken Pappkarton, der im Sommer seine
Matratze war, packte mit der anderen Hand das schwere Bündel, in dem
Glas klirrend aneinander stieß, und stand schwankend auf.
Die Polizei würde ihn entdecken, verhören, verdächtigen, einsperren –
und das im Sommer, wenn´s soviel zu Trinken gab. Dann fiel ihm der
Scheinwerfer ein und seine Beine zitterten.
„Verdammte Scheiße! Ham mich geseh´n, die Jungs. Sind harte Jungs – die wissen Bescheid, woll´n keine Zeugen nich’.“
Sie hatten ihn bestimmt genau gesehen, hatten sich sein Gesicht
gemerkt; sie würden denken, die Polizei hätte einen prima Zeugen, der
sie beschreiben könnte.
„Nix hassen die mehr als ’nen Zeugen, verdammt, verdammt“, knurrte er
und bewegte sich mit unsicheren, tapsenden Schritten auf die
U-Bahntreppe zu.
Das Heulen des Signalhorns kam näher – jetzt noch ein weiteres vom
Bahnhof her; er beschleunigte mühsam seine Schritte, drehte sich um die
Mauer, duckte sich, stolperte die Stufen herunter.
Am ersten Absatz rutschte er aus, fiel seitlich gegen das Geländer,
prellte sich die Hüfte. Er fluchte leise, stöhnte unterdrückt und war
froh, dass die Weinflaschen nicht zerbrochen waren.
„Dat heilt wieder“, dachte er und biss die Zahnstummel aufeinander.
Unten im Gang war es taghell, weißes Licht kam aus unzähligen Lampen.
Er presste sich flach an die Wand und linste um die Ecke; niemand war
in der weiß gefliesten U-Bahnhaltestelle zu sehen. Er schlich noch
einige Meter weiter zum Ende des Bahnsteigs, da wo die ölige Luft aus
der nachtschwarzen Röhre strich, drückte sich an die glatte,
eigentümlich kühle Fliesenwand.
Die Pappmatratze schob er dicht an die Wand; sein Bündel direkt
daneben. Mühsam setzte er sich, stöhnte auf, als er sich an der
verletzten Hüfte stieß. Die U-Bahnröhre gähnte ihn an; das schwärze
Loch ängstigte ihn. Er wusste, warum er nicht so gerne hier schlief.
Die zitternden Finger krabbelten hektisch im Bündel, ertasteten einen
Flaschenhals mit halb heraus ragendem Korken. Ruckhaft setzte er die
Flasche an den Mund, kippte den Kopf nach hinten und ließ den
säuerlichen Rotwein gluckernd in den Hals laufen. Lange lief der Stoff,
bis er ihn in den Füßen spürte.
Mit einem Schmatzen flutschte der Flaschenhals aus seinem Mund heraus
und er stöhnte erleichtert. Sorgfältig verstaute er die halbvolle
Flasche und leckte sich die Feuchte von den rissigen Lippen. Unendlich
langsam legte er den Kopf auf die Knie und schloss die Augen; so kam er
sich fast unsichtbar vor.
Es war stickig und warm hier unten, das Atmen fiel schwer. Die
Signalhörner heulten direkt über ihm und erstarben mit einem gequälten
Seufzer. Jetzt war dröhnende Stille in seinem Kopf; nur die
Scheißvioline spielte schon wieder.
Er wartete – sie würden kommen, das wusste er; er lauschte auf
polternde Polizistenschuhe. Langsam tastete er nach der Weinflasche,
zog die Hand zurück. Es dauerte lange; die Violine in seinem Kopf
schrillte, wurde leiser, waberte vor sich hin, schaukelte ihn in einen
traumlosen Schlaf.Ein heftiger Tritt in die schmerzende Seite ließ ihn
aufschreien; er schoss hoch und fiel hart zurück an die Wand.
„He! Penner! Aufwachen!“ Zwei Polizistenhosen mit messerscharfen Kniffen wuchsen dicht vor ihm hoch.
Er blickte nach oben, sah harte, gleichgültige Gesichter unter breiten
Mützenschirmen. Die Männer beobachteten ihn, stießen sich an und zogen
die Luft scharf durch die Nasen.
„Stinkt wie´n Abwasserkanal“, sagte der eine.
„Muss aber von ’ner Weinabfüllanlage kommen, der Kanal“, antwortete der andere und beugte sich vor.
„He, du! Wie lange biste schon hier, Penner?“
„Weiß nich’. – Hab keine Uhr. Bin eingeschlafen, hab Kopfschmerzen. Warum habt ihr mich ge…?“
„Keiner hat dich getreten, Penner! Du hast schlecht geträumt, Alter.“
Er brummte Widerspruch und schaffte es endlich, sich aufrecht an die
Wand zu lehnen; trotzdem schwankte er leicht, die Gesichter vor ihm
waren in Nebelschwaden versteckt.
„Haste was gehört oder gesehen?“
„Wo? Wen?“
„Frag nicht so bescheuert. Draußen, du Pfeife! Auf der Straße. Ihr kriegt doch sonst alles mit, ihr Ratten.“
Er schüttelte unwillig den Kopf, verdrehte dabei die Augen zur Decke. „Hab fest geschlafen.“
„Wieso pennst du bei dem Wetter im muffigen U-Bahntunnel? He? Los, warum?“
„Hab Angst draußen; sind immer Jungs unterwegs, die einem in die Seite treten. Hab alles voll blauer Flecken. Drum!“
„Willste frech werden, Penner?“
„Ach, komm! Lass den besoffenen Kerl in Ruhe. Der sieht ja noch nicht
mal richtig“, sagte der zweite Polizist und zog seinen Kollegen am
Ärmel.
„Mach, dass du hier weg kommst. Verzieh dich! Du weißt, dass du hier
unten nicht schlafen darfst. Leg dich draußen in den Englischen Garten.
Da sind genug von deiner Sorte“, stieß der erste Polizist rau heraus,
zeigte zur Treppe und dann gingen sie weg.
Er
saß auf dem warmen Gras, dicht unter dem Monopteros, und beobachtet die
Spaziergänger, die durch den Englischen Garten flanierten. Der Kopf
schmerzte unerträglich; aber die Angst, die seinen Hals zudrückte war
schlimmer. Er war überzeugt, dass sie ihn suchten, dass sie ihn
beseitigen mussten, dass sie deshalb die Stadt abgrasten.
Noch in der Nacht war er weg vom U-Bahnschacht. Nicht einen Blick hatte
er auf die Autos mit dem zuckenden Blaulicht geworfen. Im Englischen
Garten hatte er sich – gegen seine Gewohnheit – in einem Gebüsch
verkrochen und tatsächlich geschlafen, bis ihn Stimmen geweckt hatten.
„Wenn der Hubert wenigstens auftauchen würde; wer weiß, wo der wieder
is’“, dachte er voller Angst. „Der weiß doch immer wat, wenn ich mal
Probleme hab.“
Erfahrene Verbrecher, da war er sicher, kannten die Plätze, wo sie
Typen wie ihn finden konnten; sie wussten genau, wie er aussah – und er
kannte seine Verfolger nicht, kannte nur ihre Schatten.
„Zeugen müssen weg!“, wusste er.
Sie würden ihn hetzen, zusammenschlagen, in der Isar ertränken oder ein Messer in den Bauch jagen.
„Hab doch keinen geseh’n. Verdammt! Verdammt! Aber wat interessiert die
dat schon.“ Er hatte keine Chance, keine Möglichkeit, ihnen zu
entkommen. Ohne Wohnung, ohne feste Unterkunft, blieb ihm nur die
offene Bühne der Stadt, auf der ihn jeder beobachten und finden konnte.
„Kenn keine Pension, die mich nimmt. Kröten hab ich dafür eh nich.“ Er
kratzte seine offenen Beine und wurde starr; er spürte, dass er
beobachtet wurde. Eisige Kälte strich ihm über den Rücken. Langsam
drehte er den Kopf und schielte nach hinten.
„Bloß
ein Mädchen!“, dachte er erleichtert und sah in die schläfrigen Augen
einer jungen Frau, die – mit bis zum Schritt hochgeschobenem Rock –
ausgestreckt am Hang lag und ihre Beine in der frühen Sonne bräunte.
Von der linken Seite kamen zwei Männer auf ihn zu, schlenderten betont
langsam, blickten den wenigen frühen Sonnenanbetern ins Gesicht. Sie
trugen Maßanzüge, Lackschuhe und diskutierten über etwas, was er nicht
verstand.
„Mist! Dat sind se! Verdammt, die ham mich schon! Scheiße! Scheiße!“
Er sprang auf, torkelte, rutschte weg und saß wieder. Sie waren schon
da, gingen dicht vor ihm durchs Gras, sahen nur kurz, abfällig
grinsend, in sein Gesicht. Viel länger betrachteten sie die langen,
nackten Beine des Mädchens hinter ihm.
„Sitzt hier frei zum Abschuss, du blöder Kerl. Biste bekloppt, Karl?“,
sagte er leise, stand auf, nahm seine Sachen und ging quer über die
Wiese.
Er senkte das Kinn bis auf die Brust, als er am Chinesischen Turm
vorbei strich, weil da eine Gruppe Leute stand. Nur schwach hörte er
die Frauenstimme, die ihm „Lumpenpack! Verschwinde gefälligst!“,
nachrief. Er reagierte nicht; bei anderer Gelegenheit hätte er der den
Stinkefinger gezeigt. Erst in der belebten Georgenstraße wurde er
ruhiger.
„Sollen die doch den Englischen Garten absuchen! Ha! Ich werd´s denen schon zeigen“, dachte er mit neuem Mut.
Er stakste quer durch Schwabing, erreichte endlich die Leopoldstraße,
stolperte in Richtung Siegestor und Feldherrnhalle; dabei sah er sich
alle paar Meter um. Nichts!
„Oder doch? Wat woll’n die da hinter mir?“, dachte er entsetzt und
spürte wie ihm schon wieder schlecht wurde. „Warum geh´n die so
langsam? – Mist!“
Er bog ab, querte die Fahrbahn, schlich an den Hauswänden entlang.
„Warum laufen die immer noch hinter mir her? Die woll´n doch wat, verdammt. Die warten nur ab, bis keiner inner Nähe is’.“
In Wellen stieg die Übelkeit hoch, nahm ihm die Luft. Die zwei jungen
Burschen mit schwarzen T-Shirts folgten ihm in gleichem Abstand,
wollten ihn nicht überholen.
Er hatte ihre muskulösen Arme und die tintenblauen Tätowierungen
gesehen – das mussten die Typen der vergangenen Nacht sein. Er wusste
es einfach. „Dat sind die! Mist! Die ham mich! Genau dat war´n die
Figuren, die ich gesehen hab.“
In seinem Hals pulsierte das Blut, seine schmutzigen Hände krampften
sich um das Bündel. Der Schweiß lief ihm über die Stirn, brannte in den
entzündeten Augen.
Die Beine schmerzten unerträglich, wollten nicht mehr gehorchen; er
ging langsamer. Es hatte keinen Zweck; die Männer waren jung und viel
schneller als er.
„Werd denen einfach sagen, dat ich nix am Hut hab mit den Bullen – nie
und nimmer! Hab noch keinen verraten. Karl doch nich’! Karl verrät doch
keinen an die Bullenschweine.“
Er lehnte sich an die Wand der Pfälzer Weinstube und schloss die Augen.
Wartete. Nichts geschah. Er machte die Augen langsam auf. Frauen und
Männer hasteten an ihm vorbei, hatten keinen Blick für den wackeligen
Alten, der so gar nicht in das fröhliche Sommerbild der Weltstadt
passte. Auf den Stufen der Feldherrnhalle hockten Japaner und ließen
sich tausend Mal fotografieren. Die T-Shirt-Jungs waren weg.
„Ham mich glatt überseh’n, die Typen.“ Er atmete auf und ging langsam
weiter. In Einfahrten blieb er stehen und holte tief Luft. An
Querstraßen linste er zuerst um die Ecke, beobachtete misstrauisch die
Passanten.
Als die bunten Verkaufstände am Viktualienmarkt in Sicht kamen, atmete
er auf. Das hier war ein bisschen sein Zuhause, hier fühlte er sich
sicherer.Zwischen den breiten Tischen mit auffällig drapiertem Gemüse,
hoch aufgetürmten Tomaten, Äpfeln, Kokosnüssen und Apfelsinen, da
konnte er herumlungern, ohne dass man ihn verjagte. Die Touristen und
Einkäufer hatten nur Augen für die Auslagen, befühlten das Obst, ließen
sich fotografieren – und sahen ihn nie an.
Hier gab es Marktfrauen, die ihm heimlich was zusteckten und sogar ein
Lächeln für ihn übrig hatten – und hier kannte er jeden Winkel.
Und hier war er alleine unter den vielen Menschen – wenn er wollte –
und sicher in den Kistenstapeln hinter den Verkaufsbuden – wenn es
nötig war.
Am Fischbuberl-Brunnen ließ er das Wasser über den Kopf laufen, bis er
keine Luft mehr bekam. Danach fühlte er sich besser und schlich hinter
die Buden und Häuschen, saugte die typischen Gerüche ein, die aus
tausend Kisten und Kasten strömten.
Leergut und Abfälle aller Art stapelten sich an den Rückwänden;
angefaulte Bananen, Äpfel mit einem Fleck hässlicher Bräune und
Kartoffeln, die schon Keime hatten, lagen in den Kartons. Kästen mit
Pfandflaschen verströmten einen alten Biergeruch.
Er durchwühlte einige Kisten, sammelte auf, was noch brauchbar
erschien, stopfte es in seinen Beutel. Er wusste nicht, warum er das
machte; noch nie hatte er Vorräte angelegt, hatte immer „frische Ware“
für den nächsten Tag gesucht.
Ein Geräusch störte ihn, ließ den Schweiß sofort wieder fließen. Er
verharrte, sah sich um – auf alles gefasst. Leichter Nebel senkte sich
über seine Augen. Ein Mann stand hinter ihm, mit dem Gesicht zu einer
Bude und pinkelte in einen leeren Bierkasten, betrachtete stur seinen
Strahl. Er schlich weiter; noch war er ziellos.
An der Rückseite der Bude, die frisch geschossenes Wildbret anbot, wo
frisch geschossene Kaninchen und Fasanen an Drähten aufgehängt waren
und im leichten Wind baumelten, blieb er abrupt stehen. Da war was,
etwas, was hier nicht hin gehörte. Leise Stimmen! Aufgeregtes Flüstern!
Füße, die ungeduldig scharrten.
„Erst Überfall und dann …“, nuschelte eine Stimme.
Eine Gänsehaut lief ihm den Rücken herunter, vor seinen Augen
verschwamm alles. Plötzlich explodierte direkt vor ihm die Tür der
Bude, spuckte zwei Männer aus, die mit geschwungenen Knüppeln schreiend
auf ihn zustürmten.
Er fiel auf den Rücken, schrie mit heiserer, versagender Stimme um
Hilfe, ruderte mit Armen und Beinen – lag da, wie ein hilfloser
Maikäfer. Er fühlte dumpfe Schläge auf dem Kopf und dem ganzen Körper.
Er schrie immer weiter, bis er plötzlich das Lachen entdeckte.
Vorsichtig öffnete er die Augen und schloss den Mund. Zwei schmächtige
Jungen in kurzen Lederhosen standen vor ihm, stützten sich auf ihre
Indianerausrüstung und lachten; sie mussten sich die Rippen halten,
weil ihnen vom Lachen das Zwergfell schmerzte.
„He! Penner! Schade, dass du nicht vor Schreck in die Hose gemacht hast
– oder haste vielleicht schon? Mach, dass du hier wegkommst, hast hier
nix zu suchen, verstehste? Vater sagt, du seiest ein Dreckarsch, ein
Vieh, das man verjagen müsste. Du vergraulst unsere Kunden. Hau ab!
Oder besser noch: Krepier!“, rief einer. Als sie wegliefen, schwangen
sie Pfeile und Bögen über den Köpfen und lachten.
Sie hatten ihn kaum berührt, nur leicht mit den Lanzen gestoßen. Er
kannte das zur Genüge und es hätte ihn niemals so erschrecken dürfen.
Das machten die Jungs vom „Wildbrett“ oft, waren gnadenlos in ihrer
Dummheit. Sie konnten sich scheckig lachen, wenn er ihnen hilflos
drohte. Das begriff er ganz plötzlich – und verstand noch mehr.
„Gespenster! Ich seh schon Gespenster! Mein Kopf is’ kaputt; ich werd’ verrückt. Verflucht, wie soll dat enden?“
Langsam rappelte er sich auf, ergriff das Bündel und schleppte sich
weg; bog ab in Richtung Isartor und setzte sich auf den Bordstein.
Nachdenken! Er musste nachdenken und das brauchte Zeit. Mühsam versuchte er den Anfang zu finden.
„Alles falsch. Scheißleben dat. Kind sein. Dat wär’s. Da könnt ich noch
mal von vorne … – Weggehen und … – Muss mir ’nen Plan machen, klar … –
Kann so nich’ weiter geh´n … – Zuerst – oder – nein – ganz anders … –
Mann, Karl, denk nach! Biste schon so blöde? Also: Zuerst …“
Er hatte seit vielen Jahren wie Treibgut gelebt, ohne Kraft und Ziel – außer dem einen: Überleben.
An allen Tagen hatte er nur das getan, was ein Bettler tun musste, um
über die Runden zu kommen. Er hatte gebettelt, gesammelt, im Abfall
gewühlt, billigen Fusel gekauft oder gestohlen, einen sicheren,
trockenen Schlafplatz gesucht, sich gegen andere verteidigt – und
häufig genug getrunken bis zur Bewusstlosigkeit. Mehr war nie gewesen.
Frauen hatten ihn nicht interessiert, Männer eh nicht. Hubert war da
anders, der mochte Frauen und pfiff ständig hinter ihnen her.
„Du bis’ bekloppt, Hubert“, hatte er ihm gesagt. „Wenn de so ’ne Ehe
hinter dir has’ wie ich, Hubert, dann kannste nich’ ma’ mehr an so wat
denken. Nee, dat reicht für immer und alle Zeit“, hatte er ihn belehrt.
Aber jetzt war da etwas Neues, etwas, das er nicht benennen konnte.
Angst? Nein, mehr – viel mehr war das. Angst, die kannte er schon
lange, die war sein täglicher Begleiter. Angst hatte er schon immer
gehabt. Angst vor dem Streit mit seiner Alten, Angst vor Prügel,
Diebstahl, Polizisten, Gefängnis, schwarzen Sheriffs und ihren
Fußtritten; Angst vor der eisigen Winterkälte und den nassen Nächten
unter zugigen Brücken. Das hier war eine andere Angst. Todesangst?
Vielleicht.
„Mann! Noch nie hatt’ ich so’n Schiss. Dat macht nur der verfluchte Tröster.“
Er legte den Kopf auf die Knie, faltete die Hände im Nacken und schloss
die Augen. Lange blieb er so, versuchte erneut seine Gedanken zu ordnen
– und fand den Anfang einfach nicht. Langsam kroch die Müdigkeit hoch
und er verfiel in einen oberflächlichen Schlaf.
Schritte,
klackende Schritte holten ihn zurück. Leichte Schritte und klappernde
Absätze. Er hob den Kopf und sah den Füßen entgegen. Sie waren schlank,
von der Sonne gebräunt und gehörten einer jungen Frau. Unendlich lange
Beine, ein kurzer, enger Rock. Mit einer Gier, die ihm fremd war,
starrte er das Wesen an, das da heran kam.
„Mann! Sieht die aus! Mann! Wie die auf’m Plakat am Stachus – genau so.
Mann, ob die dat is’? Is’ die aus’m Bild raus oder wat? – Mann, ich
spinn schon wieder; ich werd’ verrückt.“
Ihr schlanker Körper wiegte sich beim Gehen und ihre Brüste wippten
rhythmisch. Er schluckte Spucke und fühlte, wie ihn das Bild aufregte.
Die Frau kam schnell auf ihn zu, ein paar Meter vor ihm wich sie aus,
schlug einen Bogen, trippelte hastig – rannte fast. Ihre Augen! Er sah
den Ekel, den Widerwillen, fühlte ihren Abscheu und auch ihr Misstrauen
– es traf ihn schmerzhaft. Zum ersten Mal seit vielen Jahren taten ihm
Blicke weh und zum ersten Mal schämte er sich.„Weiber! Is’ auch bloß
eine von denen; sind alle gleich. Keine Aufregung Karl. – Wat is’ mit
dir los, he?“, versuchte er sich einzuholen.
Er starrte die elegante Frau an, wollte sie hochmütig, grinsend –
mindestens aber gleichmütig ansehen – es gelang nichts; sein Gesicht
verzerrte sich und er musste den Blick senken. Die Frau runzelte die
Stirn, ging schnell weiter, drehte sich nicht einmal um.
Er besah seine zitternden Handrücken, auf denen die wettergegerbte Haut
mit schwarzen Dreckstriemen bedeckt war. Er brauchte nicht viel
Fantasie, um die gleiche Farbe seinem Gesicht zuzuordnen. Er roch seine
Haut, den Schweiß und den Urin in seiner Hose; die nässeschimmeligen
Schuhe waren an den Seiten aufgebrochen, zeigten gähnend ihre Zähne.
„Scheiße, wat Karl? Bis’ kein Typ für so ’ne Frau – für überhaupt keine
nich’. Von so wat kannste nich’ ma’ träumen. Dat is’ wat anderes, als
deine keifende Alte mit der Schnapspulle unterm Arm.“
Er dachte an sein früheres Leben – weit vor allem. Weit auch bevor er
die versoffene Alte getroffen hatte: arbeiten; lieben; lachen; träumen;
versinken in Bildern; bunte Fantasien haben; lachen und weinen; träumen
vom Glück; wach werden und noch lächeln.
Sein Geruch stieg ihm in die Nase und alles war Jetzt, war ohne
Lächeln. Mit einem Schlag waren die Bilder weg. Das Leben hatte ihn
wieder: Albträume; besinnungsloser Schlaf; aufwachen in der eigenen
Kotze; wach werden mit einem explodierenden Kopf; Angst – Todesangst.
Er zog den speckigen Hut vom Kopf, fuhr sich mit der Rechten durch die
Haare und kam nicht durch den Filz. „Wann hab ich die zum letzten Mal
gekämmt? – Hab ja gar keinen Kamm“, dachte er und der Gedanke kam aus
dem Nichts.
„Die Jungs suchen ’nen versifften, vergammelten, stinkigen Penner. Und
die suchen den hier, hier in München. Na klar! Und da finden die den
auch. Scheiße! Ich muss wat umkrempeln.“
Er dachte angestrengt nach, suchte die Lösung, die Folgerung aus dieser
plötzlichen Erkenntnis. Er klopfte sich mit der Faust an den Schädel,
wollte Ordnung im Kopf schaffen, wollte einen Plan machen. Wo sollte er
anfangen? Kleider klauen – gute Klamotten? Vielleicht im Kaufhof am
Marienplatz?
„Nee“, dachte er, „Kaufhausbullen sind die Schlimmsten; die erwischen
mich und dann setzt dat wat. Nee, geht nich’. Klauen is’ nich’ die
Lösung.“
Die Gedanken glitten weg; er sah sich im Knast und spürte die Knüffe,
die er hatte einstecken müssen. Nur mühsam konnte er sich zum
Hauptproblem zurück arbeiten. Alles in ihm sperrte sich dagegen.
„Dat is’ die Geschichte – nur dat! Die Scheiße mit der Sauferei. Ich
muss mit dem Saufen aufhören – oder? Oder nich’ mehr so viel? Karl! Wat
sachste dazu? Na? Bisse Manns genug? Nee – Mist. Bissken geht aber auch
nich’. Ganz – ganz oder gar nich’.“
Trübsinnig hockte er da, vergaß seine Angst, die Bedrohung durch die
bösen Jungs, sich selber und die ganze Welt. Endlich fasste er sich,
hob den Kopf und atmete tief durch.
„Und? Die finden mich doch. Bin für die eben ’n trockener Penner. Nee,
ich muss überhaupt weg von hier. Nur so hab ich ’ne Chance; dann finden
die mich nich’.“
Langsam tasteten sich seine Gedanken vor und er fasste den Entschluss
für den nächsten Schritt. Aus seiner ausgebeutelten Rocktasche zog er
das gesammelte Klimpergeld. Ein Geldstück neben dem anderen lag vor ihm
auf den Bordstein. Er zählte bedächtig und staunte, als er die Endsumme
kannte. „Dreizehn Euroklunker und zwanzig Cent! Donnerwetter!“
Er sammelte das Geld wieder ein, stand mühsam auf, schlurfte los,
suchte und fand endlich das Haus mit dem großen Silberteller an der
Kette.
„Waschen, eleganter Schnitt und Rasur – allet ohne Blutvergießen“, sagte er und warf sich in den schweren Sessel.
„Haste im Lotto gewonnen? Oder willste heiraten?“, fragte der Friseur,
den die Penner hin und wieder aufsuchten, wenn es unbedingt
erforderlich war.
Er kannte diesen ‚Figaroverschnitt’, wie ihn seine Kumpel nannten; er
war schon mal hier gewesen – vor ewig langer Zeit. Damals hatte eine
aus ihrer Gruppe tatsächlich geheiratet; einen, mit dem sie schon immer
im Schlafsack gelegen hatte.
„Ordnung muss sein“, hatte sie gesagt und auf ihr Gepäck gezeigt. „Wenn
se mich ma’ in die Hölle schicken, dann hab ich wenigstens ’nen Erben.“
Eine Wahnsinnsfeier hatten sie veranstaltet. An der Isar, weit draußen,
in Schaffhausen, wo die beiden auch geheiratet hatten. Ja, da war er
beim Friseur gewesen, hatte sich sogar rasieren lassen; alle waren sie
hingegangen. Hubert hatte ihnen gesagt, dass man da auch als Penner
willkommen war. „Wenn de Geld has’! Ohne Geld is’ nich’ bei dem.
Stinken kannste bei dem wie ’n Scheißhaus.“
Er ließ sich für acht Euro die Haare waschen und schneiden – und für
zwei Euro rasieren. Das angeekelte Stieren des Friseurs nahm er reglos
in Kauf.
„Willst wohl anständig werden?“, sagte der Figaro, als er das Geld mit spitzen Fingern in die Kasse warf.
„Anständig? War ich immer; hab nie nich’ geklaut oder sonst wat
gemacht. Bin anständiger als du, Figaro“, nuschelte er und bleckte
angriffslustig seine wenigen Zähne.
Dann fiel ihm etwas ein. „Haste ma ’n Stück gebrauchte Seife für so ’nen Stammkunden wie mich übrig?“
Der Friseur sah ihn an, schüttelte den Kopf und zog aus der Schublade ein verpacktes Stück raus.
„Sag bloß, du willst deinen Astralkörper mit Wasser und Seife verschandeln?“
„Klappe! Hass’e oder hass’e nich’?“
„Gebrauchte hab ich nicht. Macht fuffzig Cent. Willste die haben?“
Er steckte die Seife in die Rocktasche, legte das Geldstück auf die Theke und schob sich vor den riesigen Spiegel.
Er besah sich vom Kopf bis zu den Füßen. Manches gefiel ihm nicht. Aber
der Kopf! Ein völlig neues Gesicht sah ihn an; die Haut war immer noch
schorfig, fleckig, aber die ordentlich geschnittenen Haare, die glatt
rasierte Haut, machten bereits einen anderen Menschen aus ihm.
„Ob die mich so noch erkennen?“, dachte er mit zaghafter Hoffnung und spürte schon wieder diese beklemmende Angst.
Er ging zurück auf den Markt, setzte sich ans Valentinsdenkmal und
dachte nach. Und plötzlich war alles klar, wusste er, wie er es machen
würde.
Er sprang auf, humpelte eilig über den Markt, als schmerzten ihn seine
offenen Beine nicht. Am Aldiladen steckte er einen Euro in den Schlitz
eines Einkaufswagens und legte sein schweres Bündel hinein.
Vorsichtig fuhr er den Wagen über den Parkplatz, raus auf die Straße,
schob ihn bis zum Parkhaus. Da legte er erst einmal eine Pause ein und
beobachtete die Umgebung.Die Leute haststeten vorbei; niemand nahm
Notiz von dem ärmlich gekleideten Mann mit dem Einkaufswagen. Er
wartete noch einen Moment und schob entschlossen los. Immer wieder sah
er sich um, suchte Verfolger, prüfte jedes männliche Gesicht, blieb vor
Schaufenstern stehen, um in der Spiegelung die Leute abzuprüfen.
Er kam nur langsam vorwärts; wenn seine Beine zu sehr schmerzten,
stützte er sich auf dem Griff des Einkaufswagens ab, machte lange
Pausen.
„Immer nach Süden, Karl. Wirste wohl noch finden, alter Junge. Süden
is’ da, wo keine Eisbären auf der Straße rum laufen.“ Er lachte heiser
und schob den rappelnden Wagen über das holprige Pflaster.
Dämmrige Dunkelheit fiel von den hohen Dächern und die Luft schmeckte
nach verbrauchtem Tag, als er endlich den Stadtrand erreichte. Er ging
immer nach Süden, wo er den Simsee wusste. Da gab es alte leerstehende
Bauernhäuser und windschiefe Katen. Das hatten Kumpel erzählt, die aus
dem Süden kamen und sich in der Stadt mehr Geld und Schnaps versprochen
hatten.
„Da auf ’m Land kriegste höchstens ’nen Tritt in den Arsch“, hatten sie
gesagt. Aber auch, dass es da still und ruhig war. Man könne richtig
untertauchen – wenn man das mal müsste.
Mehr war ihm im Moment auch nicht wichtig. Da hinten, irgendwo, wo man
ihn nicht finden konnte, da würde er ein neues Leben anfangen.
„Kannst dat ja ma probieren, alter Junge. Hast ja wohl noch ’n paar
Jährkes. Bloß nich’ die alten Fehler machen; nix mit Weibern, nix mit
Saufen; nix mit komischen Geschäften.“
Die Anstrengung machte ihn durstig. Die aufgerissenen Lippen schmerzten und sein Mund war so trocken wie die Wüste Sahara.
An einem Waldstück blieb er stehen, kramte in seinem Bündel und zog
zwei Weinflaschen heraus. Eine war halbvoll die andere noch nicht
angebrochen. Stirnrunzelnd stierte er die Flaschen an, beschnüffelte
den Korken der geöffneten Flasche, zog ihn mit den Zähnen heraus und
schnupperte lange am Flaschenhals.
„Jetzt ’n kräftiger Schluck – sagen wa ma’, den Rest aus der Pulle –
und du läufst wieder wie ’n junger Hüpfer, Karl“, murmelte er.
Nachdenklich betrachtete er die Flüssigkeit, schüttelte sie schaumig
und roch erneut an der Flasche. „Wär nich’ ganz so schlecht, wat Karl?
Und heut’ Nacht in der frischen Luft, dann so ’n Schlückchen – sagen wa
ma’, die andere Pulle – zum Einschlafen – und zum Abgewöhnen? Na, wat
sachste?“
Er lauschte in sich hinein, erhoffte widerstreitende Stimmen zu hören; alles blieb still und so raffte er sich endlich auf.
„Nee – is’ nich’! Fang nich’ gleich wieder mit so ´nem Scheiß an.
Wirste nie klug, Karl?“, rief er so laut, dass eine Amsel kreischend
davon stob.
Er wusste, dass er da durch musste; irgendwie war ihm alles ganz klar
und im Kopf nahm er bereits Abschied von manchen selbstverständlichen
Dingen.
Hoch warf er die Flasche in die Luft, gab ihr einen Drall mit, der sie
wirbeln ließ. Der Rotwein spritzte heraus, flog in einem Bogen über
seinem Kopf hinweg und klatschte auf den Asphalt; die Flasche segelte
weit ins Gehölz, wurde auf halbem Weg von der Dämmerung verschluckt. Er
blickte ihr unsicher nach, schüttelte den Kopf und stöhnte. „Wie
gewonnen, so zerronnen, wie meine Alte immer sachte. Wat man nich’
allet tut für de Gesundheit. Hätteste gestern noch nich’ geglaubt, wat
Karl?“
Die volle Flasche betrachtete er nicht mehr, holte weit aus und warf
sie der anderen hinterher. Sie flog surrend durch die Abenddämmerung
und verschwand im Gras zwischen den Büschen.
Er lachte rau, heiser und ohne Freude. Der Wagen lief jetzt schneller;
die Beine schmerzten nicht mehr so sehr. Weit voraus flimmerte ein
einzelner Stern am Abendhimmel.
Den Lichtpfützen der Straßenlampen wich er in großem Bogen aus und war
froh, als er die Landstraße erreichte, an der keine Laternenpfähle
standen.
„Denen werden wir’s zeigen“, murmelte er und war sich nicht sicher, wen er damit meinte.
Er blickte sich um und erstarrte. Der Schrei stieg in seinem Hals hoch und erstickte.
München brannte!
In seinem Kopf drehte sich ein Feuerrad, warf rote Blitze und wurde
immer schneller. „Aus! Aus! Weg damit!“, schrie er und wabernd kam das
brennende Rad zur Ruhe, ließ den Blick klarer werden.
Er schaute fassungslos zurück, vergaß seine Flucht und seine Angst.
Eine Flammenglocke schwebte über dem Horizont, da wo er München wusste.
Der rote Widerschein färbte die Wolken und ließ die Umrisse der Stadt
ahnen.
Noch nie hatte er München in der Nacht aus der Ferne betrachtet; nur
langsam dämmerte es in seinem Kopf und er verstand. „Et is weit
gekommen mit dir. Mann oh Mann! Bis’ richtig bekloppt, Karl, Karl! Wat
hasse ’ne Panik gekriecht. Sind bestimmt die Lampen am Viktualienmarkt
und am Stachus, die da brennen. Bis’ wirklich bekloppt.“
Das Gelände wurde hügeliger. Der Wagen ließ sich nur schwer hoch
schieben, wollte immer seitlich ausbrechen. Er hielt an, grinste und
grabschte in seinen Beutel. Triumphierend hielt er die Flasche in der
Hand, hob sie hoch ließ sie über dem Kopf kreisen.
„Bis’ ganz schön link, Karl. Has’ dir ’nen Notstopfen verwahrt – sagen
wa ma’ für ganz schlimme Zeiten. Und nu erklär’n wir dat hier für ’ne
ganz schlimme Zeit.“
Er roch nicht einmal an der Flasche, bevor er sie an den Mund setzte.
Mit weit zurückgelegtem Kopf ließ er den Wein in sich hinein laufen,
hielt die Augen geschlossen. Weit mehr als die Hälfte des Inhalts war
verschwunden, als er die Flasche absetzte und tief durchatmete.
„Dat musste sein, wa Karl?“, sagte er und versenkte die Flasche im Beutel.
Er hatte kein schlechtes Gewissen, fühlte kein Versagen, nur dumpfes
Einverständnis. Als er die Kuppe endlich hinter sich gelassen hatte,
München und sein Lichtschein nicht mehr zu sehen waren, atmete er tief
durch und fühlte sich unendlich frei.
Zum ersten Mal hörte er es bewusst; das melancholische, unaufhörliche
Läuten, das von den Wiesen im Hintergrund herüber schallte. Die Vögel
der Nacht, die lautlos, nur mit schwerem Flügelschlag, ihre Opfer
suchten. Und ein Gefühl der Einsamkeit und Verlassenheit überkam ihn.
„Hätt’ ich bloß den Hubert mitgenommen. Obwohl … Nee, da käm ich nie
vom Saufen wech. Nich’ mit dem Hubert. So ganz will ich ja auch nich’,
bisschen wird ja wohl erlaubt sein. Trotzdem …“
Und ganz plötzlich hatte er einen Plan; nur ein Gedanke war es, der ein
paar weitere Gedanken wie an Fäden nach sich zog, deren Ende er noch
nicht erkannte.„Ich weiß wat ich will! Ich! – Der Karl, hat einen Plan!
– Bestimmt geht dat …“
Er blieb stehen, dachte nach, nickte und ging mit großen Schritten
weiter. Wären seine Lippen nicht so kaputt gewesen, hätte er sogar
gepfiffen. Er fummelte in der löchrigen Rocktasche, fand die Seife und
hielt sie unter die Nase. Tief sog er den Duft nach Sauberkeit und
Klarheit ein.
„Wenn ich mich erst ma’ zu ’nem richtigen Menschen mach’? Ganz, mein’
ich. Vom Kopf bis anne Füße. Ja? Waschen, allet wegrubbeln, wat von
früher is’. Im Simsee vielleicht. Nackt. Mann, hoffentlich guckt da
keiner. Billige Klamotten muss ich mir betteln – da hinten, bei dem
Bauern? Oder klauen? Klauen is’ besser. Ein Dach überm Kopf. Und dann?
– Langsam, Karl, ganz langsam. – Arbeiten? Aber nur so ’n bissken,
gerade für Futter und Getränke. So könnt’ dat anfangen, dat neue Leben.
Nur so ’n ganz bissken aus der Pulle. – Oder nix mehr? Abwarten. – Ich
hab nen Plan.“
Er hatte einen Plan! Aber er musste noch darüber nachdenken – sehr
lange nachdenken. Erst brauchte er mal ein Dach über dem Kopf. Das war
wichtig. Nur das. Man würde sehen.
„Hast noch ’nen verdammt langen Weg vor dir, Karl“, sagte er ohne Angst.