Sie sind ganz plötzlich da, tauchen auf wie Bäume und Häuser aus undurchdringlichem Nebel. Konturen festigen sich, Farben strömen, Geräusche ertönen.Wo waren sie in all den Jahren, bevor ich sie wiederfand? - Als ich sie fand? Als sie mich fanden? Wie tief in den grauen Zellen waren sie vergraben? Hätten sie sich irgendwann von ganze alleine nach oben, in mein Bewusstsein gedrängt? Hätten sie mich jemals an diesen Tag erinnert, wenn es keinen Anstoß gegeben hätte? Wenn dieser kleine Film nicht gewesen wäre? Wenn ich nicht zufällig hingeschaut, hingehört hätte?

Was alles mag da noch verborgen sein, in dem, was die Wissenschaftler Cerebrum, Enzephalon nennen? Dieser Ort, an dem all meine Sinnesempfindungen, meine Willkürhandlungen und mein Gedächtnis liegen; an diesem Ort, an dem ICH bin; meine Bilder, Töne, Gerüche und Gefühle - auch meine Seele?
Ja, es ist alles da, ist mein ICH. Ich bin in mir! Vergessen und für immer verloren? Begraben von anderen, frischeren Sinneseindrücken?
„Ich kann mich nicht erinnern!"
Nein. Nur zugedeckt wie durch eine steinerne Grabplatte, von all den anderen, wichtigeren, bedeutenderen, aktuelleren Bildern und Erlebnissen.

Für immer verschüttet? Nein. So wenig genügt schon, um es wach werden zu lassen. All das, was ich in meinem Leben bewusst gesehen, gefühlt, empfunden und erlebt habe, liegt in diesen Zellen begraben. Mein Leben, mein ICH.
Was muss geschehen, um es wieder „bewusst" zu machen, es noch einmal erleben zu können - oder zu müssen? Wer oder was führt durch das Labyrinth zu diesen namenlosen Gräbern? Genügt so ein Anstoß, wie gerade eben?
Gefühle, Empfindungen, Sehnsucht. Wehmütige Wünsche - „Noch einmal diesen Augenblick erleben, durchleben können, mit dem Wissen von heute" - tauchen aus dem Nichts auf. Und plötzlich sogar der Wunsch, es noch einmal zu erleben, es diesmal anders zu entscheiden, bewusster fortzuführen.
„Der Kanal", sagt die Reporterstimme.
Ich kann es riechen, das Wasser im Kanal.
„Tote Fahrt", sagt der Sprecher aus dem Off, der die Fahrt des Bootes auf dem Kanal kommentiert. „Keine Schiffe, schon lange nicht mehr."
Ich weiß! Darum „Tote Fahrt". Darum die wunderbare Ruhe.
„Stille", sagt der Mann im Fernseher. „Stille ist hier normal. Hören Sie sie? Nur unterbrochen von den Geräuschen der Wellen, vom raschen Flügelschlag eines fliehenden Vogels. Grüne Ufer ziehen vorbei. Blauweißer Himmel wird von hohem Schilf begrenzt."
Ich erinnere mich.
Ja, genau so war's! Diese Bilder! Ich brauche sie gar nicht. Sie ziehen auf, lebendig, kommen hoch aus dem Gedächtnisgrab. Wie sich die Bilder gleichen!
Das muss da sein, wo ich ... Natürlich! Das ist es. Meine Güte! Man konnte doch von dort ... Ich weiß genau, wie es ... Aber ja! Der Blick rüber zum spitzen Kirchturm, der hinter dem jenseitigen Kanaldamm durchs Schilf sticht. Da ist er! Den Anblick gibt es nur einmal; nur von dieser Stelle.
Ich kann es sehen.
Ich liege an der sanften Böschung, grasbewachsen im oberen Teil, von blauschwarzem Basalt weiter unten begrenzt, der sich im hellgrünen Wasser spiegelt. Kleine Wellen stoßen an die Steine, die, moosig und glitschig, die Böschung halten.
Ich kann es hören.
Ich kann sie hören, die besondere Stille. Ja, still ist es. Nur manchmal ... Im Schilf neben mir raschelt es, bewegt sich etwas, flüchtet und das Geräusch ist weg. Ein kleiner Luftstoß lässt die Schilfblätter erschauern und rascheln.
Ich kann es fühlen.
In meinem Rücken spüre ich die Sonnenwärme, die das Gras abgibt. Hitze, die in Stunden dort gespeichert wurde. In meinem Gesicht brennt die Sonne, lässt alles um mich herum milchig, verschwommen erscheinen.
Vergangenheit oder Gegenwart? Realität oder Fiktion?
Ich kann mich nicht mehr genau ... Doch! Nein, nicht ganz. Was war das noch für ein Tag? Was war ich damals? Wie war ich damals?
Aber ... Ja, doch! Das war doch ... Ich erinnere mich. Ja!
Und nun sind es nicht nur Bilder und Töne. Gefühle! Sie strömen, die Empfindungen; die Eindrücke von damals werden lebendig.
Sie sind da, wichtiger als alle Bilder und Töne. Bedrückender und beglückender als alles andere. Ich erinnere mich, als wäre es gerade erst gewesen, kann alles wieder spüren. Es steigt hoch, schwemmt herein, ohne mein Zutun. Ein unbestimmtes Gefühl, fast schmerzhaft. Ach ja ... Ich erinnere mich. Ach, wie naiv, damals ... Zukunft ahnend, Zukunftsangst fühlend; banges Warten und Erwarten.
Was mag auf mich zukommen? Was erwartet mich auf der Reise zu dem Zeitpunkt, an dem ich mich an diese stille Stunde erinnern werde? Ich erinnere mich. Wie unsicher ich bin. Was alles wird mein Leben füllen und formen? Bittere Süße schwemmt hoch. Jungenhaftes, ungeformtes Denken. Ich erinnere mich. Unklare Gedanken. Hoffnungen. Sehnsüchte. Wonach? Unsicherheiten, anmaßende Ziele?
Ich erinnere mich. Schwerelose Liebe, Verliebtheit, die uferlos und grenzenlos in mir wächst. Gedanken an sie, an sie, für die allein ich leben will - noch. Verpasste Chancen. Trotz. Sturheit.
Was noch? Was war davor, was danach? Warum liege, warum ruhe ich dort an der Kanalböschung? Alleine. Bin ich schon alleine?
Ich erinnere mich nicht.

Ein kleiner Fernsehfilm genügte, um brennende Sehnsucht nach längst verschütteten Erinnerungen zu wecken. Was wär ich ohne Erinnerungen? Ein Mosaikstein nur war das, einer von unzähligen, bunten, grauen und schwarzen Stücken meines Kaleidoskops der Erinnerungen. Und ab hier, kann ich - könnte ich - wie an einem endlosen Faden, Stück für Stück heraus ziehen aus dem Cerebrum, aus den Tiefen, die nichts vergessen, die alles aufbewahren.

Könnte ich! Will ich denn? - Nein, ich möchte es nicht. Zufällig auftauchende Erinnerungen sind genug. Mehr muss nicht sein. Ich lasse sie ruhen, in ihrem Grab, das sich öffnen mag, wenn es an der Zeit ist, wenn der Zufall es will. Ich mag mich nicht ständig erinnern. Ich möchte nicht ständig trauern und bedauern müssen; ständig verpassten Gelegenheiten nachsinnen; ständig falsche Entscheidungen verfluchen.

Erinnerungen sind ein Geschenk. Ich will sorgsam damit umgehen. Sehr sorgsam und sehr sparsam. Das Jetzt ist nicht mit Grabplatten bedeckt, will betrachtet, bewertet und beachtet werden. Das wichtige, das einmalige Jetzt gilt, hat alle Rechte, bevor es zur Erinnerung mutiert.