Es ist nicht sein Gesicht! Nie! So hat er nie ausgesehen. Ist er das überhaupt noch? Er ist so fremd und unnahbar. Ich wippe unruhig auf dem harten Rohrstuhl, der Besucher wohl ständig daran erinnern soll, dass sie nicht zu lange bleiben dürfen.

Zwischen uns hängen Schläuche und Kabel, stehen brummende, zyklisch piepsende Apparate, die sich wichtig tun; sie sind es wohl auch, denn ohne sie kann er ja nicht mehr leben.

Leben? Lebt er? Seine Brust wird durch die eingepresste Luft gehoben und gesenkt. Sonst bewegt sich an diesem mageren Körper, der flach unter der dünnen Decke liegt, nichts – seine Augen sind geschlossen. Der unordentlich gewachsene grau-schwarze Bart, ist gewuchert. Er wächst auch noch bei Toten, hat mir mein Großvater einmal gesagt. Er musste es wissen, er hat die Toten gesehen, die in den Schützengräben vor Frankreich lagen und verwesten.

Er ist nicht tot – noch nicht. Oder muss ich ihn schon als Toten ansehen? Was unterscheidet ihn noch von einem Lebenden? Dass er atmet – mit Hilfe von Apparaten? Ein Mensch ohne funktionierendes Gehirn ist doch tot, oder? Er wird sich nie mehr ändern dieser Zustand, hat der Arzt gesagt, und hat vergessen, dass er sich sehr wohl noch einmal ändern wird.

Mir ist so elend. Mit welchen Gedanken sitze ich hier – stumm – am Bett meines Freundes? Eigentlich wollte ich ihm erzählen, welche neue Geschichte mir eingefallen ist. Ich habe, weil ich weiß, dass er Märchen liebt, die Geschichte vom Mädchen mit den Streichhölzern umgeschrieben. Sie handelt jetzt von einem kleinen Zigeunermädchen, Poki, und endet mit ihrem Tod. Ich erzähl sie ihm einfach aus dem Gedächtnis.

Hör zu. Du kannst ja doch nichts anderes tun. – Also …

Bewegt er sich? Hat er sich nicht gerade ganz sachte gerührt, seine Fingerspitzen angehoben?

Nein. Ich habe mich getäuscht; es war wohl nur mein Wunsch, er möge sich bewegen, der mir das eingegeben hat.

Hat dir die Geschichte gefallen? Du meinst doch auch, dass ich sie sterben lassen musste? Du warst immer für die harten Lösungen; du wolltest nie Kompromisse. Du hast mir immer gesagt, dein Lehrer, Joseph Beuys, hätte dir diese kompromisslose Härte beigebracht, hätte dich so geformt. Ich glaube das nicht, du bist so, wolltest immer die gerade Strecke, ohne Umwege, gegen jeden Widerstand. Das zeigen alle deine Arbeiten, besonders deine zahllosen Bilder, die du den bewegenden Themen unserer Zeit gewidmet hast. Deine Bilder sind so hart, wie du es ihnen abverlangt hast.

Ich stelle mir die Aidsbilder vor, die düsteren Impressionen des Gefängnislebens, die er mit dem Kohlestift auf das Papier gebracht hat. Er hat den „Knackis“ wie er sie liebevoll nannte, Malunterricht gegeben; er wollte ihnen die andere Seite des Lebens zeigen.

„Keine Farbe!“, hast du gesagt. „Es wäre ein Betrug am Betrachter.“

Was bewegt mich jetzt? Ist es Mitleid? Hab ich Mitleid mit dem Mann, der reglos, empfindungslos da vor mir liegt? Nein. Er braucht ein solches Fühlen nicht mehr. Nein! Ich bin wütend auf ihn, auf meinen Freund, der mich verlassen wird. Er ist schuld an dieser Geschichte, er alleine!

Du hättest es verhindern können! Wie oft hab ich dir gesagt, du solltest dich schonen? Du bist über siebzig, hab ich dir gesagt. Warum musstest du diese stressigen Multimedia-Veranstaltungen machen? Sag es mir! Alle haben dich gewarnt – auch ich. Du hast sie trotzdem organisiert, veranstaltet, durchgeboxt, gelitten unter den flach denkenden Zuschauern, den Bürokraten, die dir so viele Hemmnisse in den Weg gelegt haben. Und was hast du nun davon, du Idiot? Du dämlicher Idiot! Wir wollten noch so viele Sachen gemeinsam machen! Meine Kurzgeschichten wolltest du mit Impression, die aus deiner Sicht die Geschichte auf den Kern brachten, ergänzen, verschönern. Du hättest den Entwurf für meine Geschichte „Außer-sich-selbst“ schon fertig, sagtest du mir lächelnd. Im Kopf sei alles schon klar, hast du gesagt. Im Kopf! Und was ist davon jetzt noch übrig, nach deinem Infarkt? Sag´s mir, du Blödmann!

Die Schwester blickt mich streng, fast mahnend, an. Was will sie? Soll ich ihn nicht anfassen? Ich werde ihn nicht berühren! Wir haben uns nie berührt – wirklich nie! Warum nicht? Ich weiß es nicht, es ergab sich so. Nicht einmal den sonst üblichen Handschlag gab es bei uns. Wir brauchten das nicht, wir verstanden uns gut genug. Unser Verständnis von Kunst war uns Berührung genug.

Ich soll gleich gehen, hat die Schwester drängend gesagt. Soll ich wiederkommen? Möchtest du das? Nein, ich werde hier nicht weinen! Das muss ich allein für mich tun, vielleicht heute Abend bei einem Glas Wein, mit dem ich mich trösten will. – Oder nachdem die Flasche leer ist, weil mir das Weinen dann leichter fällt. Bis bald, und mach dich nicht einfach davon, mein lieber, lieber Freund!

Du und ich, wir hassen Abschiede. Es bleibt nichts zurück, wenn sich einer verabschiedet. Er nimmt alles mit – bis auf die Gedanken. Nein, nein! Kein Abschied. Ich will nicht daran denken.